Clemens Nachtmann - BAHAMAS 22

Adornos Orthodoxie

Das Fortbestehen der Revolutionstheorie

So aufgeklärt, denkt er, war er noch nie. Der aufgeschlossene Citoyen, die Schwundstufe des engagierten Zeitgenossen unseligen Angedenkens, übt sich in demonstrativer Illusionslosigkeit. Die überlegene, bei jeder Gelegenheit prompt einschnappende Gewitztheit, mit der er seine Ernüchterung zur Schau trägt, verdankt sich freilich nicht einer kompromisslos kritischen Durchdringung dessen, was er als überkommenes "Heilsversprechen" bezeichnen würde. Vielmehr ähnelt diese Versiertheit jener aus Schlauheit und Vertrottelung komponierten Charakterstruktur, die sich bei - freilich immer jünger werdenden - alten Leuten einstellt, die vom Leben nichts mehr erwarten und deshalb auf das Vorbringen hochgespannter Erwartungen nur mit einer wegwerfenden Handbewegung und jenen eingängigen Spruchweisheiten reagieren, die einem das Leben hierzulande so verleiden. Der Kommunismus? Na klar, sagt der Citoyen, eine Ausgeburt jenes totalitären Vernunftdiskurses der Moderne, der zum Gulag geführt habe wie auch zu Auschwitz. Das Subjekt? Ach was, ein "essentialistisches" Konstrukt der abendländischen Metaphysik, das man doch schon längst in Grund und Boden dekonstruiert habe. Fortschritt? Nichts weiter als die eurozentristische Anmassung, den okzidentalen Vernunftmaßstab als universell zu setzen und anderen überzustülpen. Gesellschaftstheorie? Ach ja, das sind diese metaphysischen "großen Erzählungen", die alles Besondere, Differente gewaltsam in Begriffen der Totalität vereinheitlichen.
Es verwundert nicht, dass die schon früh geäußerten vernünftigen Kritiken (1) an der sogenannten "Postmoderne" dieser nichts anhaben konnten. Wie nämlich die raunende Existentialontologie Heideggerscher Prägung nach erfolgtem kritischen Handstreich nicht einfach verschwindet, weil sie vom gesellschaftlich produzierten ontologischen Bedürfnis genährt wird, so verdankt auch der postmoderne Dekonstruktivisinus seine Resistenzkraft der Tatsache, daß ihm gesellschaftlich etwas korrespondiert, was man in Anlehnung an Adorno das dekonstruktivistische Bedürfnis nennen könnte. Auf dieses hätte sich eine Kritik zu richten, denn die postmodernen Theorien sind für sich genommen nicht satisfaktionsfähig. Ihr Inhalt ist das monotone "Hüte dich, über das Bestehende auch nur nach ihrem Ende hinauszudenken!", dessen Trivialität leicht übersehen wird angesichts des beeindruckenden Begriffsapparates, der jedoch ebenso aufgeblasen wie ornamental ist und dessen Verhältnis zum ärmlichen Inhalt sich so ausnimmt, als wolle man eine Konservenbüchse mit der MP öffnen. Freilich ist es gerade das Begriffsornament, das nicht nur den obligaten Hauch von französischem hautgout vermittelt, sondern auch für jenen nationalistischen, naiv antimetaphysischen Scheinradikalismus einsteht, den die dekonstruktivistischen Meisterdenker versprühen, der - wie Adorno einmal gleichsam vorausahnend schrieb -"tabula rasa macht, ohne inhaltlich etwas anzugreifen, und der mit jedem inhaltlich radikalen Gedanken fertig wird, indem er ihn als Mythologem, Ideologie, überholt denunziert."(2)
Durch die mit allerlei poststrukturalistischen Partikeln beschlagene Brille betrachtet, wird jedoch selbst Adornos Gesellschaftstheorie dem Zeitgeist kompatibel zu machen versucht. Hatte man Adorno vorher entweder als Vertreter einer düster-spekulativen Geschichtsphilosophie oder als versponnenen, feinsinnigen Ästheten und Kulturkritiker neutralisieren wollen, so möchte man neuerdings die von ihm ausgehende Irritation dadurch bannen, daß man ihn als jemanden reklamiert, der, avant la lettre, dem "totalitären Diskurs", der bürgerliche Aufklärung und Marxismus gleichermaßen auszeichne, abgeschworen habe. Adorno, so heißt es, habe sich stets gegen das repressive Allgemeine gewandt, sein theoretisches Interesse habe stets dem Besonderen, Abweichenden, Differenten, Unerfassten gegolten und deshalb sei er der erste Philosoph der Postmoderne gewesen, auch wenn er davon noch gar nichts wußte. Gegen diese Versuche, die allesamt darin konvergieren, Adornos Gesellschaftstheorie von ihrem Bezug auf die Marxsche abzulösen und sie nun für die poststrukturalistischen Meisterdenkerschulen anschlußfähig zu machen, soll im folgenden herausgestrichen werden, daß Adorno durchaus als ein "orthodoxer Marxist" anzusehen ist. Adornos Orthodoxie zeigt sich nicht nur in einer begrifflichen Strenge seines Denkens, die am direktesten in seinen kunstphilosophischen Arbeiten wirksam wird; in der Hoffnung auf die Realisierung vernünftiger Allgemeinheit, in der die Individuen wie die Dinge zu ihrem Recht kommen, hält Adorno auch an einem geschichtsphilosophischen Begriff von Fortschritt und universeller Emanzipation fest, also am revolutionstheoretisehen Impetus der Marxschen Theorie.
Intendiert ist dabei selbstverständlich nicht, Adornos intransigente Gesellschaftskritik doch noch ins allseits ersehnte "Positive" zu biegen, um sie den sturen Bewegungsklempnern schmackhaft zu machen. Vielmehr soll polemisiert werden gegen die erstaunlicherweise auch in Teilen der radikalen Linken verbreitete Ansicht, wonach "Kritische Theorie" und Dekonstruktivismus nicht nur im Grunde die gleiche Stoßrichtung hätten, sondern daß dieser einem Adorno an Radikalität noch überlegen sei und deshalb ein geeignetes Instrumentarium abgebe, um traditionellen Marxismus und linke Bewegungspolitik wirksam zu kritisieren und antinationale Kritik zu begründen. In Wahrheit verhält es sich aber so, daß die Linke, wäre sie denn eine, zu den dekonstruktivistischen Instant- Philosophien keine andere Beziehung unterhalten kann als die schärfster Kritik, während sie von Adorno lernen kann, daß eine kritische Theorie der Gesellschaft, die sich aus guten Gründen vom Völkerkundemuseums-ML verabschiedet hat, es mit einer sekundären, gewissermaßen reflektierten Orthodoxie zu halten hätte.
Rückblickend läßt sich der sogenannte "westliche Marxismus", was die Mehrzahl seiner Exponenten betrifft, als ein einziges großangelegtes PR-Unternehmen begreifen. Einen attraktiven, "undogmatischen" und "offenen" Marxismus wollte man kreieren, der sich vom als primitiv, vulgär und orthodox geschmähten östlichen ML unterscheiden sollte. Dabei ging man freilich - verstiegener noch als die befehdeten Kontrahenten - von der falschen Voraussetzung aus, die Marxsche Theorie sei der Ansatz zu einer totalen Welterklärung, zu der Marx selbst nur einen ersten Beitrag auf dem "Gebiet" der Ökonomie geliefert habe. Mit der dummstolzen Zuversicht des notorischen Sozialwissenschaftlers, der nicht ruht, ehe er nicht einen "Ansatz" gefunden hat, den er "ausführen" und "mit Leben erfüllen" kann, machte man sich also daran, die Marxsche Theorie um eine marxistische Philosophie, Psychologie, Kulturtheorie etc. zu "ergänzen".
Adorno, der seine kritische Theorie zeit seines Lebens als "Philosophie" charakterisierte, hat jedoch mit solchen Bemühungen um "Vervollständigung" eines theoretischen "Ansatzes" nichts zu schaffen, denn er betrieb nicht Philosophie, sondern Philosophiekritik. Daß er sich zu diesem Zweck die idealistischen Systeme des 18. und 19. Jahrhunderts vorgab, hat einen relativ einfachen Grund. Der Anspruch der bürgerlichen Theorie, das Bestehende in einem kohärenten System gedanklich zu entfalten, ist die Voraussetzung jeder ernsthaften Ideologiekritik, die für Marx noch unproblematisch war, da er diesen Anspruch in Gestalt der idealistischen Philosophie und der politischen Ökonomie vorfand.
Heutzutage jedoch, wo die sinnverlassen-autistischen Modellrechnungen der Ökonomen und die ranzig müffelnden Werte-Debatten der Philosophen nichts anderes mehr darstellen als Profilierungsstrategien im Konkurrenzkampf um die knapper werdenden akademischen Jobs, ist diese Voraussetzung dahin. Wie sich der "Dialektik der Aufklärung" unschwer entnehmen läßt, bedeutet in der Geschichte der aufklärerischen Vernunft die jeweils neuere Theorie in aller Regel nur einen Fortschritt in der Zerstörung ihres selbstreflexiven Potentials. Gemessen am Stand des bürgerlichen Bewußtseins verkörpert die idealistische Philosophie deshalb zweifellos die fortgeschrittenere Position. Die höhnische und anmaßende Frage restlos aufgeklärt sich denkender Zeitgenossen, was einem denn so "alte" Philosophien wie z.B. die Hegelsche heute überhaupt "noch zu sagen" hätten, kontert Adorno folgendermaßen: "Nicht wird die umgekehrte Frage auch nur aufgeworfen, was die Gegenwart vor Hegel bedeutet; ob nicht etwa die Vernunft, zu der man seit seiner absoluten gekommen zu sein sich einbildet, in Wahrheit längst hinter seine zurückfiel und dem bloß Seienden sich anbequemte, dessen Last die Hegelsche Vernunft vermöge der im Seienden selbst wartenden in Bewegung setzen wollte." (3) Die idealistische Philosophie markiert eine Stufe, auf der die Reflexion und die Gesellschaft, die sie ausdrückt, noch nicht ganz vernunftverlassen ist.
Adornos Insistieren auf der Notwendigkeit von Philosophiekritik, sein auf den ersten Blick rührend antiquiert anmutendes Vorhaben, sich mit Kant und Hegel auseinanderzusetzen, hat freilich einen noch handfesteren Grund. Es verdankt sich dem Scheitern der Marxschen Intention, Philosophie in verändernder Praxis aufzuheben. Adorno selbst hat diesen Bezug immer wieder hergestellt, am prägnantesten wohl in der Einleitung zur "Negativen Dialektik": "Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Welt verkrüppelt auch in sich, wird zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang." (4) Aber die Marxsche Intention ist nicht nur real gescheitert, sondern bereits in sich widersprüchlich - und ihre Widersprüchlichkeit kommt in Adornos kritischer Theorie schließlich ungemindert zum Tragen.

Marx: Übergang von Philosophie zu materialistischer Kritik
Marx überfuehrt die Hegelsche Geistphilosophie ihrer Unwahrheit, indem er nachweist, daß die von ihr behauptete Allgemeinheit der Vermittlung zugleich Schein und das Allerrealste ist: Schein, weil sie das Besondere als ihr Anhängsel bloß mitschleppt, anstatt in ihm als Besonderem ihre Substanz zu haben; und das Allerrealste, weil sie das Besondere ohne Rücksicht auf dessen Qualitäten sich gleichgültig subsumiert, ihm eine partikulare Identität aufpreßt und es zur Totalität zusammenzwingt. Entgegen dem Anspruch der Philosophie, ihren Gegenstand als durchgängig vernünftige Objektivität und sich selbst dadurch als objektive Vernunft zu präsentieren, erweist sich zum einen die bürgerliche Gesellschaft und ihre Zusammenfassung in der Form des Staates als Inbegriff subjektlosen Zwangs und eines blinden Verhängnisses, das den Individuen bloß widerfährt. Damit ist zugleich der Totalitätsanspruch der erkennenden Vernunft selbst hinfällig geworden: die angebliche Allmacht der Subjektivität entpuppt sich als gescheiterter Versuch, krampfhaft ihre Ohnmacht dadurch zu überspielen, daß die Versöhnung der Antagonismen in der Sphäre des Geistes angesiedelt wird. Die Versöhntheit von Allgemeinem und Besonderem ist damit objektiv unwahr, die behauptete Identität von Identität und Nichtidentität ist nicht gelungen, weil nichtidentisch in sich selbst. Marx wendet deshalb die Hegelsche Philosophie gegen ihr oberstes Prinzip: die absolute Subjektivität des Geistes, die sich als das konstitutive, vermittelnde Prinzip aufspielt, wird an ihr eigenes Vermitteltsein durch gesellschaftliche Praxis erinnert. (5) Der Geist, die Theorie, maßt sich nun bei Marx nicht länger an, die Totalität des Wirklichen zu umspannen, sondern bekennt umgekehrt seine Verflochtenheit in und Konstituiertheit durch gesellschaftliche Praxis ein. Praxisbezogen und materialistisch ist die Marxsche Theorie zunächst und vor allem in jenem selbstkritischen Sinne, daß sie den materiellen, praktischen Gehalt jener Begriffe dechiffriert, die der Philosophie als apriorische bzw. metaphysische Kategorien galten. Im autonom sich denkenden, absoluten Geist, der das Reale und Besondere rein aus sich heraus zu setzen beansprucht, erkennt Marx die Reflexionsform des Kapitals als jenes Prozesses, der das je Besondere als Mittel und Bedingung seiner einen, maßlosen Verwertung setzt. Die begrifflichen Abstraktionen sind dadurch nicht länger als positive, in sich ruhende, begriffen, sondern als negative, die das herrschende Unwesen benennen. Philosophie geht über in die materialistische Kritik des Bestehenden.

Widerspruch der praktischen Theorie
Marx versucht nun, die materialistische Wendung, die er auf dem Gebiet der Theorie vollzieht, als von praktischer Notwendigkeit ermöglicht zu begründen. Als objektiv ermöglicht begreift sich die Marxsche Gesellschaftskritik durch die zu seiner Zeit stattfindende revoltierende Praxis des Proletariats; diese ist die "zum Gedanken drängende Wirklichkeit", die "praktische Kritik", die die Voraussetzung des kritischen Gedankens darstellt und der dieser sich anzumessen hat, will er sich in äußerster Konsequenz seiner Anstrengungen negieren, d.h. praktisch vollenden. Indem die kritische Theorie von Marx sich bewußt als theoretischer Ausdruck einer bereits bestehenden revoltierenden Praxis begreift (6), degradiert sie sich aber keineswegs zum Instrument für partikulare, ihr äußerliche Zwecke, sondern macht lediglich ihre apriorische Vermitteltheit durch gesellschaftliche Praxis nun auch explizit zur eigenen Sache.
Damit handelt sich die materialistische Kritik aber einen folgenreichen Widerspruch ein. Einerseits muß sie, um den kritischen, negativen Gehalt, den ihre Kategorien transportieren, als objektiv verbindlich auszuweisen, sich als Ausdruck einer ueber das Bestehende hinausschießenden, praktischen revolutionären Dynamik verstehen - andernfalls wäre sie eine zwar in sich materialistisch intendierte, aber zufällig-unverbindliche theoretische Kritik, wie triftig ihre Erkenntnisse auch immer sein mögen. Andererseits kann diese überschießende revolutionäre Praxis, gerade weil sie der theoretischen Setzung entzogen, aus der Theorie nicht ableitbar ist, auch nicht in den stringenten Ableitungszusammenhang eingehen - wenn dies geschähe, würde sich die kritische Theorie selbst als abschlußhafte Totalität aufspielen und damit in die Hegelsche Identitätsthese zurückfallen, von der sie sich soeben getrennt hat. Kritische Theorie erklärt, wie Horkheimer einmal anmerkte, wesentlich den Gang des Verhängnisses. Die Marxsche Theorie will durch die "rücksichtslose Kritik alles Bestehenden" Möglichkeit und Notwendigkeit der revolutionären Umwälzung nachdrücklich zu Bewußtsein bringen, indem sie, von revolutionären Hoffnungen bewußt abstrahierend, das Kapitalverhältnis als objektives Verhängnis beschreibt, das quasi-naturgesetzlich seiner eigenen barbarischen Vollendung entgegentreibt, wenn kein bewußtes Subjekt ihm das gerechte Ende bereitet. Der prekäre Widerspruch besteht darin, daß die materialistische Theorie diese Bedingung, die ihre konstitutive Voraussetzung sein soll, als Theorie nur als ihre arbeitsnotwendige Unterstellung bzw. als Antizipation einführen kann, ohne daß Ausmaß, Verlauf oder auch nur die Tatsache emanzipatorischer Kämpfe verbürgt wären. Daß die Negativität des Ganzen der unmittelbaren Erfahrung der Proletarier sich mitteilt und mit der Auflehnung dagegen zusammenfällt; daß der Widerspruch des Bestehenden also mit dem Widerspruch zu diesem identisch ist; daß die naturwüchsige Nichtidentität der Proletarier - sie produzieren den allgemeinen Reichtum, von dessen virtuell emanzipatorischen Qualitäten sie als "Exterritoriale" (Adorno) ausgeschlossen sind - die Identität des Ganzen sprengt, schien fuer Marx evident zu sein. Das Nichtidentische verstand sich für ihn von selbst und brauchte deshalb nicht extra theoretisch bekräftigt zu werden. An dieser Evidenz des sogenannten "subjektiven Faktors" hängt die von Marx proklamierte Aufhebung der Philosophie in verändernder Praxis auf Gedeih und Verderb.
Wo die revolutionaere Dynamik erlischt, ist die Einheit von Theorie und Praxis dann nur noch um den Preis aufrechtzuerhalten, daß Theorie ihren Anspruch, die "Kritik alles Bestehenden" zu sein, aufgibt und sich stattdessen dazu herabläßt, eine Praxis, die nicht mehr aus der herrschenden hinaus-, sondern immer tiefer in sie hineinführt, durch interessierte wie fadenscheinige Interpretationen schönzureden. Die Reduktion kritischer Theorie auf ein bloßes Legitimationsinstrument praktischpolitischer Vorab-Entscheidungen geht einher mit ihrer angemaßten Erhöhung zum souveränen Subjekt, das die gesellschaftlichen Prozesse kraft ihrer "wissenschaftlichen" Einsicht in deren "objektive Gesetzmäßigkeiten" zu lenken beansprucht. An der materialistischen, kritischen Theorie, der so ihr philosophie- und erkenntniskritisches Selbstbewußtsein ausgebrannt wird, vollzieht sich dadurch dasselbe Umschlagen von Aufklärung in Mythologic wie an ihrem bürgerlichen Pendant. Die stumpfsinnige Liquidation der Philosophie und damit ihres Erfahrungsgehalts ist ein Symptom der schlechten Aufhebung bürgerlicher und proletarischer Subjektivität.
Indem die Einheit von Gesellschaftskritik und Revolutionstheorie zerfällt, noch bevor sie überhaupt so recht zustandegekommen ist, behält der Gesellschaftskritiker Marx schließlich gegen den Revolutionstheoretiker recht. (7) Ein Anlass zur Genugtuung oder gar Freude ist dies freilich nicht, denn die Hoffnung, nicht recht zu behalten, gehört zum innersten Antrieb materialistischer Kritik: "Der Eintritt von Verhältnissen, die aus dem Begriff abzulesen sind, legt dem Idealisten das Gefühl der Befriedigung, dem historischen Materialisten eher das der Empörung nah. Daß die menschliche Gesellschaft wirklich alle Phasen durchläuft, die als Umschlag des freien und gerechten Tauschs in Unfreiheit und Ungerechtigkeit aus seinem eigenen Begriff zu entfalten sind, enttäuscht ihn, wenn es wirklich so kommt ... Die Identität von Ideal und Wirklichkeit ist die universale Ausbeutung." (8) Auch die Konsequenzen sind nicht weniger ungemütlich. Was die schönen Seelen an der Theorie, die es mit recht unschönen Dingen zu tun hat, wahlweise als "Pessimismus" oder "Objektivismus" beargwöhnen, wird nun erst recht aktuell, da die Menschen nicht mehr nur als Anhängsel der Maschinerie, sondern als Anhängsel der Gesellschaft überhaupt bestimmt sind. Daß die Verhärtung der bürgerlichen Verhältnisse für die materialistische Kritik kein Grund fuer Resignation oder theoretische Nachgiebigkeit ist, sondern ein Ansporn, ihre Begriffe nun erst recht zuzuspitzen, zu schärfen und in ihrer Negativität weiterzutreiben, war für Adorno stets ausgemachte Sache.

Adorno: Vorantreiben negativer Kritik
Was an Adorno so beeindruckt: das Unschematische, Geschmeidige, Nichtdoktrinäre seiner Analysen, das deren Lektüre zuweilen so fesselnd macht wie die eines Romans, von dem man nicht mehr loskommt, ist seinerseits bedingt durch eine an Marx geschulte begriffliche Strenge. Bei aller notwendigen, weil vom Gegenstand geforderten Differenzierung, die Adorno der Gesellschaftstheorie zubrachte, hat er es sich doch nie ausreden lassen, den Erscheinungen ihre Konstituiertheit durch die kapitalistische Ökonomie auch dort nachzuweisen, wo das verdinglichte Bewußtsein entweder unverschandelte Natur oder einen wie immer autonomen und mit eigenständigen Methoden zu betrachtenden Gegenstandsbereich wähnt. Die scheinheilige Philantropie der beliebten Forderung, Theorie müsse "differenziert" sein, stets alle möglichen "Aspekte", "Dimensionen" berücksichtigen, auf keinen Fall "reduktionistisch" oder "einseitig" verfahren, hat Adorno stets als Ausflucht betrachtet, um sich unangenehme Einsichten vom Leib zu halten und in dieser Ausflucht den Verrat an der möglichen Emanzipation gewittert. Wenn überhaupt, dann könnte folgende Äußerung Adornos seinen Arbeiten als Motto vorausgehen: "Kein avancierter Künstler oder Denker entgeht (dem) Vorwurf (der Kälte und Distanziertheit). Weil er die Utopie und ihre Verwirklichung bitter ernst nimmt, ist er kein Utopist, sondern faßt die Realität ins Auge, wie sie ist, um sich nicht von ihr verdummen zu lassen. Er will die Elemente des Besseren, die in ihr beschlossen sind, aus ihrer Gefangenschaft befreien. Er macht sich so hart wie die versteinerten Verhältnisse, um sie zu brechen." (9) Adorno, der anhand verschiedenster Phänomene die Marxsche Fetischismuskritik entfaltete, hat diese gegen ihre romantisch-idealistische Vereinnahmung unmissverständlich pointiert. So heißt es in der "Negativen Dialektik": "Leicht bildet Denken tröstlich sich ein, an der Auflösung der Verdinglichung, des Warencharakters, den Stein der Weisen zu besitzen. Aber Verdinglichung ist die Reflexionsform der falschen Objektivität; die Theorie um sie, eine Gestalt des Bewußtseins zu zentrieren, macht dem herrschenden Bewußtsein und dem kollektiven Unbewußten die kritische Theorie idealistisch akzeptabel. Dem verdanken die frühen Schriften von Marx, im Gegensatz zum 'Kapital', ihre gegenwärtige Beliebtheit, zumal unter Theologen. Nicht entbehrt es der Ironie, daß die brutalen und primitiven Funktionäre, die Lukács wegen des Verdinglichungskapitels aus dem bedeutenden Buch 'Geschichte und Klassenbewusstsein' vor mehr als vierzig Jahren verketzerten, das Idealistische seiner Konzeption witterten." (10) Entsprechendes gilt für Adornos Umgang mit der Freudschen Psychoanalyse. Entgegen einem weitverbreiteten Irrtum hat Adorno keineswegs die Psychoanalyse in die Gesellschaftskritik integriert bzw. sie in "Sozialpsychologie" transformiert, die er vielmehr als psychoanalytischen Revisionismus heftig bekämpfte. Die Wahrheit von Freud bestand für ihn darin, daß dieser "eben durch seine psychologische Atomistik einer Realität, in der die Menschen tatsächlich atomisiert und durch eine unüberbrückbare Kluft voneinander getrennt sind, adäquat Ausdruck verliehen" (11) hat. Weil das Auseinanderfallen von Individuum und Gesellschaft gesellschaftlichen Ursprungs ist, kann sie nicht durch die Integration der Wissenschaften - durch "lnterdisziplinarität", wie man heute sagen würde - aus der Welt geschafft werden. Vor allem aber sind Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse keine gleichberechtigten "Ansätze": "Noch der vulgäre Materialismus, der den individuellen Reaktionsformen handfeste Profitinteressen zugrunde legt, hat recht gegen den Psychologen, der wirtschaftliche Verhaltensweisen von Erwachsenen aus ihrer Kindheit ableitet, die objektiven ökonomischen Gesetzen folgen, und in welche die individuelle Beschaffenheit der Kontrahenten überhaupt nicht oder nur als bloßes Anhängsel hineinreicht." (12) Und in den "Reflexionen zur Klassentheorie" heißt es: "Die Gefahr des Psychologismus - der Autor einer 'Psychologie des Sozialismus' ist nicht zufällig am Ende Faschist geworden wie der Soziologe des Parteienwesens - ist im Ursprung abgewandt, längst ehe die bürgerliche Philosophie verbissen sich daran machte, ihre Objektivität in der Erkenntnissphäre zu verteidigen. Marx hat sich auf die Psychologie der Arbeiterklasse nicht eingelassen. Sie setzt Individualität, eine Art Autarkie der Motivationszusammenhänge im einzelnen voraus. Solche Individualität ist selbst ein gesellschaftlich produzierter Begriff, der unter die Kritik der politischen Ökonomie fällt." (13) Auch der durchschnittliche Sozialwissenschaftskalauer von der angeblichen "Komplexität" und "Unübersichtlichkeit" der modernen Gesellschaft findet bei Adorno keinen Anhaltspunkt: "In vieler Hinsicht ist die Gesellschaft, durch den Wegfall ungezaehlter, auf den Markt zurückweisender Mechanismen, durch die Beseitigung des blinden Kräftespiels in breiten Sektoren, durchsichtiger als je zuvor. Hinge Erkenntnis von nichts ab als der funktionellen Beschaffenheit der Gesellschaft, so könnte wahrscheinlich heute die berühmte Putzfrau recht wohl das Getriebe verstehen." (14) Die systematische Verleugnung und Verdrängung dieser Erfahrung ist die Grundlage sämtlicher Spielarten des Positivismus also einschließlich des Poststrukturalismus - die deshalb eine elaborierte Dummheit produzieren, die noch unter der auftrumpfenden Schlauheit von Putzfrauen rangiert; "das Wissen komplizierter Einzelverhältnisse ist", so Adorno, "einer der wichtigsten Tricks, um wirkliche Erkenntnis zu sabotieren. Die Fakten sind heute tendenziell zu Schleiern vor der Realität geworden." (15)

Zentrale Aporie spaetmarxistischer Gesellschaftskritik
Bei aller Identität der Begriffszusammenhänge kann Adorno seiner kritischen Theorie, im Gegensatz zu Marx, ein praktisch wirksames Nichtidentisches nicht mehr zugrundelegen. Für die Theorie liegt darin zweifellos eine Chance, denn spätestens jetzt muß sie sich ihres fatalen Hangs, von sich aus "positiv" zu werden, entledigen und das Aufspüren irgendwelchen "Subjekte" der Revolution als haltlose Projektion des eigenen Willens in die Außenwelt erkennen. Da ihm die zum Gedanken drängende Wirklichkeit abhanden gekommen ist, muß der zur praktischen Vollendung, d.h. Negation seiner selbst drängende Gedanke deshalb noch konsequenter als bei Marx sich aller revolutionären Hoffnungen entschlagen und das gesellschaftliche Verhängnis zum Zwecke der Kritik noch weit schonungsloser darstellen als zuvor - andernfalls wäre er nichts als Affirmation und ausgebuffter Seelentrost. Andererseits muß sich die kritische Theorie, und zwar in Form einer hypothetisch- kontrafaktischen Unterstellung, ein Nichtidentisches doch zugrundelegen - verzichtet sie nämlich auf jeglichen revolutionstheoretischen Impetus, dann würden all ihre Aussagen in ihr Gegenteil verkehrt: sie wären dann eine zutreffende Deskription des unheilvollen Weltlaufs, deren kritischer oder materialistischer Charakter vielleicht noch vom Theoretiker als Gestus beteuert werden könnte - für die Theorie selbst wäre er von keinem konstitutiven Belang mehr und darüber würde diese erst recht affirmativ. An diesem aporetischen Widerspruch laboriert heutzutage eine jede ernstzunehmende Gesellschaftstheorie, die es noch mit der Marxschen hält und notwendig zum Scheitern verurteilt ist ein jeder Versuch, ihn zu schlichten oder nach welcher Seite auch immer aufzulösen. Adorno jedenfalls hat dies stets vermieden, weil er wußte, daß jene Aporie einen Widerspruch in der Sache ausdrückt: daß die Verhältnisse überreif zur Umwälzung sind und gleichzeitig immun dagegen. Der von Adorno häufiger variierte Gedanke, daß man, wo die Sache selbst uneindeutig sei, nicht auf die Klarheit von Begriffen drängen könne, sondern um der Wahrheit willen lieber methodische Ungereimtheiten in Kauf nehmen müsse, erweist sich nirgendwo so relevant wie an dieser für seine Theorie konstitutiven Stelle. (16) Adornos erkenntniskritische Reflexionen sind alles andere als genügsame, selbstverliebte akademische Trockenübungen vielmehr wird in ihnen jener notwendige Widerspruch einer spätmarxistischen GeseIlschaftstheorie thematisch. Seine Erkenntniskritik hat Adorno an verschiedenen Stellen explizit als Wiederaufnahme und Radikalisierung der Marxschen Philosophiekritik begriffen. Dabei fällt eine Unentschiedenheit in der Argumentation Adornos auf: die Marxsche Intention, Gesellschaftstheorie als Ausdruck verändernder Praxis zu konzipieren, wird von ihm teils anerkannt - indem gesagt wird, sie sei "nicht mehr" aufrechtzuerhalten - teils in der Retrospektive revidiert - indem bezweifelt wird, ob die Möglichkeit dazu jemals bestanden habe. Auch diese Unentschiedenheit hat freilich einen sachlichen Grund. Zum einen wirft das Scheitern der Marxschen Intention, Philosophie in verändernder Praxis aufzuheben, in der Tat ein Licht auf ihre Unzulänglichkeiten und Widersprüche: so bruchlos war das Kontinuum zwischen der materialistischen Kritik und der verändernden Praxis nie, wie es bei Marx bisweilen den Anschein hat. (17) Adorno bezweifelt daher nicht nur, daß die proletarische Subjektivität jemals der evidente Faktor war, als den Marx ihn zugrundelegte, sondern kritisiert auch dessen Forderung nach Aufhebung von Philosophie als allzu naßforsche These, die das Prekäre der Konstruktion schon damals verdeckt und an die sich Marx auch nicht gehalten habe. (18) Andererseits wußte auch Adorno, daß das Marxsche Konzept mitnichten das Produkt eines an sich irre gewordenen Theoretikers war, sondern sein Realfundament hatte. In ihm ist eine Spur historischer Vernunft gebannt, das Aufblitzen einer dann verpaßten revolutionären Chance, die Antizipation einer befreiten Menschheit. (19) Und aus diesem Grund hält Adorno die von Marx anvisierte Selbstaufhebung der Philosophie für ein Programm, das sich keineswegs erledigt hat, sondern unter veränderten Voraussetzungen weitergeführt werden muß.

Adornos Fortschreibung der Marxschen Philosophiekritik
Adornos Reprise der Marxschen Philosophiekritik setzt an der zentralen Kategorie des Idealismus an, dem autonom sich wähnenden Ich, der transzendentalen Subjektivität. In ihr erkennt er die Reflexionsform naturbeherrschender Arbeit, die ihre eigene Bedingtheit nicht wahrhaben will. Die selbstherrliche Subjektivität wird deshalb mit ihrer eigenen Vermitteltheit konfrontiert: sie fällt von vornherein in das, was sie nach eigener Angabe erst schafft und konstituiert, in das Objekt. Naturbeherrschende Subjektivität setzt ihr Objekt, Natur, als bloßes Substrat, qualitätsloses Material, das sie vermöge der klassifikatorischen, formalisierenden Begriffe zurichtet. In der daraus resultierenden repressiven Vermittlung von Subjekt und Objekt werden beide Seiten um ihr Recht gebracht: Natur wird verstümmelt und negiert, die souveräne Subjektivität schrumpft zur Charaktermaske der abstrakten Identität, hinter der sich die Unterdrückung der empirischen Individuen verbirgt. Die aufgeklärte Naturbeherrschung institutionalisiert die Gesellschaft als blinde zweite Natur. Gegen die romantisch-reaktionäre Naturwissenschafts- oder Technikkritik, die sich auf Adorno berufen zu können glaubt, wenn sie ihr Lamento über die Kälte der technisierten Welt anstimmt, hat dieser jedoch unmißverständlich klargestellt: "Das Feste dem Chaotischen entgegenzusetzen und Natur zu beherrschen, wäre nie gelungen ohne ein Moment des Festen an dem Beherrschten, das sonst ohne Unterlaß das Subjekt Lügen strafte. Jenes Moment skeptisch ganz abzustreiten und es einzig im Subjekt zu lokalisieren ist nicht minder dessen Hybris, als wenn es die Schemata begrifflicher Ordnung verabsolutiert." (20) Noch prägnanter heisst es in der "Ästhetischen Theorie": "Wie sehr die Vulgärantithese von Technik und Natur irrt, liegt darin zutage, daß gerade die von menschlicher Pflege ungesänftigte Natur, über die keine Hand fuhr, alpine Moränen und Geröllhalden, den industriellen Abfallhaufen gleichen, vor denen das gesellschaftlich approbierte ästhetische Naturbedürfnis flieht." (21) Weder Naturbeherrschung noch Aufklärung noch der Anspruch der Menschen, ihr Geschick als freie Individuen selbst zu bestimmen, stehen zur Kritik. Zur Kritik steht der "Zwangscharakter der Selbsterhaltung", die Naturwüchsigkeit menschlicher Selbstbehauptung, die als zwanghaft naturwüchsige permanent das reproduziert, wogegen sie sich ursprünglich auflehnte: die fetischistische Unentrinnbarkeit des Naturzwangs. Kein Zurück zu einer fiktiven "Einheit von Mensch und Natur", sondern die Befreiung vom Naturzwang steht auf der Tagesordnung. Die bisherige Geschichte war in ihrer Naturverfallenheit bloß Vorgeschichte, der Eintritt der Menschen in die Geschichte steht noch aus, auch darin bleibt Adorno "orthodoxer Marxist".
Entsprechend hat Adorno keineswegs, wie es das populäre Mißverständnis glauben machen will, den Begriff des Fortschritts einfach fallengelassen. Die Stellung seiner kritischen Theorie zum Begriff des Fortschritts hat er in aller Unmißverständlichkeit einmal folgendermaßen charakterisiert: "Keine Kritik am Fortschritt ist legitim, es wäre denn die, welche sein reaktionäres Moment unter der herrschenden Unfreiheit benennt und damit jeden Mißbrauch im Dienst des Bestehenden unerbittlich ausschließt." (22) Was hier programmatisch umrissen und in verschiedenen Arbeiten am Gegenstand entfaltet wird, hat Adorno in einem Aufsatz mit dem Titel "Fortschritt" noch einmal explizit dargelegt. Der 1962 verfaßte Text, dem er selbst einige Bedeutung dadurch zumaß, daß er ihn als "in den Komplex der 'Negativen Dialektik' gehörig" bezeichnete, liest sich streckenweise, als wäre er auf den heutigen Zeitgeist gemünzt, der sich in einer degoutanten Mischung aus raunender Apokalyptik, Larmoyanz und Abgeklärtheit ergeht. Als Ausdruck "obskurantistischer" Gesinnung gilt Adorno die Rede vom "Fortschrittsglauben", die selbst durchgeweichte Marxisten gern im Munde führen, wenn sie mal wieder selbstkritisch aufgelegt sind. Sie ist so "platt und positivistisch", wie sie es dem ideologisierten Fortschrittsbegriff der bürgerlichen Gesellschaft vorzuwerfen beliebt und deswegen in Wahrheit nicht dessen Kritik, sondern dessen ebenfalls ideologisches Pendant. (23) Adornos Rettung des Fortschrittsbegriffs meint selbstverständlich nicht die treuherzige Versicherung, der Fortschritt sei "sowohl als auch", sondern: "Dialektisch, im strengen unmetaphorisehen Sinn, ist der Begriff des Fortschritts darin, daß sein Organon, die Vernunft, Eine ist; daß nicht in ihr eine naturbeherrschende und eine versöhnende Schicht nebeneinander sind, sondern beide all ihre Bestimmungen teilen. Das eine Moment schlägt nur dadurch in sein anderes um, daß es buchstäblich sich reflektiert, daß Vernunft auf sich Vernunft anwendet und in ihrer Selbsteinschränkung vom Dämon der Identität sich emanzipiert." (24) Fortschritt sei deshalb "nicht das Andere der Bewegung fortschreitender Naturbeherrschung, ihre abstrakte Negation, sondern erheischt die Entfaltung der Vernunft durch Naturbeherrschung selbst." (25) Gleich den anderen philosophischen Begriffen sucht Adorno die des Fortschritts als negative, als Kategorie des Einspruchs zu bewahren: "Würde wahrhaft der Fortschritt des Ganzen mächtig, dessen Begriff die Male seiner Gewalttätigkeit trägt, so wäre er nicht länger totalitär. Er ist keine abschlußhafte Kategorie. Er will dem Triumph des radikal Bösen in die Parade fahren, nicht an sich selbst triumphieren." (26)

Das Nichtidentische als "revolutionstheoretische" Kategorie
Durch die Wendung zum Vorrang des Objekts, zum Nichtidentischen, will Adornos Selbstkritik der Philosophie einer verändernden, revolutionären Praxis die Tür offenhalten. Adorno weiß, dass man aus dem philosophischen Immanenzzusammenhang - dem geistigen Ausdruck des Funktionszusammenhangs totaler Vergesellschaftung - nicht einfach "hinausspringen", d.h. ihn abstrakt negieren und sich in ein ohnehin illusionäres Refugium zurückziehen kann. Vielmehr sind, an Marx anknüpfend, die philosophischen Kategorien gegen sich selbst und ihr oberstes Prinzip, die Identität als die Vergeistigung repressiver Vergleichung, zu wenden. Die "Demarkationslinie" zum Idealismus ist dabei, "ob Bewußtsein, theoretisch und in praktischer Konsequenz, Identität als Letztes, Absolutes behauptet und verstärken möchte, oder als den universalen Zwangsapparat erfährt, dessen es schließlich auch bedarf, um dem universalen Zwang sich zu entwinden, so wie Freiheit nur durch den zivilisatorischen Zwang hindurch, nicht als retour à la nature real werden kann." (27) Anstatt sich zum allumfassenden Ganzen aufzuspielen, soll das erkennende Subjekt seine Subsumierungsfunktion umlenken in Richtung auf das, woran es seine - verleugnete - Substanz hat: auf das Objekt, auf das nach dem Maßstab von repressiver Identität Nichtidentische. Der Begriff des "Nichtidentischen" ist der Platzhalter für das, was inmitten des Bestehenden und als von ihm wie immer Konstituiertes Potential der Befreiung sein könnte, was die Verhältnisse von innen her sprengen könnte also der revolutionstheoretische Begriff von Adornos kritischer Theorie. Dafür, daß Adorno mit dem Insistieren auf dem Nichtidentischen am revolutionstheoretischen Gehalt von Gesellschaftstheorie festhält, andererseits jedoch wohlweislich darauf verzichtet, das unterstellte Nichtidentische sogleich wieder zu verdinglichen - als irgendein famoses "Subjekt" o.ae. - hat auch er - wie ein jeder marxistischer Gesellschaftskritiker - seinen Preis zu zahlen. Das "Nichtidentische" ist eine abstrakte, schemenhafte Kategorie und sie bleibt dies notwendig, solange jenes sich nicht als ein praktisch wirksames, benennbares, die falsche Vermittlung tatsächlich unterminierendes Moment in der gesellschaftlichen Realität zeigt. Der "Vorrang des Objekts" bleibt einstweilen eine nichtidentitätsphilosophische Kategorie, und der Materialismus, den sie verbürgt, deshalb nach dem Maß ihrer Intention immer auch unwahr. Einen Vorwurf gegen Adorno kann dieser Umstand allerdings nicht begründen, denn zu seinem Verfahren gibt es keine Alternative - wie sämtliche Versuche bezeugen, die vorgeben, über es hinauszugehen und dabei immer dahinter zurückfallen.
Was die wahre Vorrangigkeit des Objektiven begründen könnte, ist hier und heute nicht positiv bestimmbar, sondern nur durch die Kritik der falschen Vermittlung als ein Schattenbild zu modellieren: "Was Sache selbst heißen mag, ist nicht positiv, unmittelbar vorhanden; wer es erkennen will, muß mehr, nicht weniger denken als der Bezugspunkt der Synthese des Mannigfaltigen, der im Tiefsten überhaupt kein Denken ist. Dabei ist die Sache selbst keineswegs Denkprodukt; vielmehr das Nichtidentische durch die Identität hindurch. Solche Nichtidentität ist keine 'Idee'; aber ein Zugehängtes." (28) Daß das Nichtidentische nur durch Vermittlung bestimm- und erkennbar ist, heißt aber zugleich, dessen eigener Vermitteltheit gewahr zu werden. Das Nichtidentische ist kein absolut Individuelles bzw. Einzelnes, kein absolut Differentes, keine reine Unmittelbarkeit: "Was ist, ist mehr als es ist. Dies Mehr wird ihm nicht oktroyiert, sondern bleibt, als das aus ihm Verdrängte, ihm immanent. Insofern wäre das Nichtidentische die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikationen." (29) Das Insistieren auf der eigenen Bestimmtheit des Objekts, jenseits seiner falschen Vermittlung, aber nur durch sie erkennbar, unterscheidet Adorno grundsätzlich von allen postmodernen Differenzphilosophen. Deren Glaube, man könne mit den metaphysischen Allgemeinbegriffen durch Akte der "Dekonstruktion" tabula rasa machen und die Differenz unmittelbar dagegen setzen, verkennt nicht nur die Realmetaphysik des Kapitals, die von den allgemeinen Begriffen ausgedruckt wird. Sie will auch nicht wahrhaben, daß das Differente und Besondere in sich durch gesellschaftliche Objektivität vermittelt ist, die es gerade durch das Insistieren auf seiner monadologischen Vereinzelung befestigt. Als absolut Unterschiedenes eingeführt, gerät ihnen die Differenz freilich unversehens zu einem "Sein" eigener Dignität: die Heidegger-Verehrung eines Lyotard oder Derrida ist deshalb nur konsequent. In jeder Hinsicht ist das poststrukturalistische Philosophieren das Gegenteil kritischer Theorie: nicht nur verfehlt es die Erkenntnis des repressiven Ganzen, sondern es sabotiert darüber hinaus einen jeden Versuch, eine Emanzipation zu antizipieren, deren Universalität in der Einheit des Vielen ohne Zwang bestünde.
Adornos Kritik an der falschen Objektivität, am repressiven Allgemeinen und sein Eintreten fürs Nichtidentische zielt hingegen letzten Endes wiederum auf eine gesellschaftliche Allgemeinheit, die vom Besonderen ausgeht, also auf den Verein freier Menschen, die Einheit des Vielen ohne Zwang. Wiederum ein "orthodox" Marxscher Gedanke und Adorno stellt den Bezug auch explizit her: "In Marx bereits spricht die Differenz zwischen dem Vorrang des Objekts als einem kritisch Herzustellenden und seiner Fratze im Bestehenden, seiner Verzerrung durch den Warencharakter sich aus." (30) "Vorrang des Objekts" ist also doppeldeutig zu begreifen: Denunziation des Bestehenden und Antizipation des Neuen in einem. Vorrangig ist die Analyse des Objekts, weil eine kritische Theorie die Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegen die Individuen beim Namen zu nennen hat. Die kompakte, zeitlos erscheinende, Übermacht der Verhältnisse in den und gegen die vergesellschafteten Individuen verwehrt diesen zugleich die ungeschmälerte Erfahrung dessen, was in den Verhältnissen sich, als Resultat ihrer Arbeit, als eine Spur von Fortschritt, Erkenntnis und Befreiung niedergeschlagen hat, aber vergessen wurde und versteinerte, weil es dem Bestehenden als Moment seiner Selbsterhaltung einverleibt wurde. Angesichts des Absterbens unreglementierter Erfahrung kommt dem Objekt mit all seinen Implikationen ungleich größere Bedeutung zu als den Anschauungen der Subjekte: deshalb ist es Aufgabe der kritischen Theorie, die in den sozialen Objektivationen sedimentierte Geschichte, die vergessenen, verstreuten, disparaten Momente des Nichtidentischen, Überschiessenden, die in ihnen festgebannt sind, freizulegen. Die Analyse von Kunstwerken kann dabei besondere Relevanz beanspruchen, weil sie "zur Reflexion nötigen, woher sie, Figuren des Seienden und unfähig, Nichtseiendes ins Dasein zu zitieren, dessen überwältigendes Bild werden könnten, wäre nicht doch das Nichtseiende an sich selber." (31)
Die Theorie will dem Nichtidentischcn, der ihrer Realisierung harrenden immanenten Allgemeinheit des Objekts zur Sprache verhelfen. Die Verfahrensweise der Theorie, ihre Begriffe in Konstellationen um den Gegenstand zu versammeln, soll die zufällige, monadologische Existenz der Sache lösen und die Konstellation, in der sie selbst steht, erkennen. Intention solcher Erkenntnis ist nicht das festgezurrte theoretische System, sondern die "Dichte der Erfahrung", in der die Spuren des Nichtidentischen mit der Theorie und der vorangegangenen Erfahrung des Subjekts jaeh und unvermittelt zum Ganzen der Erkenntnis zusammenschieben. (32) Das Denken in begrifflichen Konstellationen ist dabei nicht nur eine Erkenntnisform, die dem Stand totaler Vergeselischaftung angemessen ist (33); indem das Ganze der Erkenntnis nicht dadurch zustandekommt, daß das Nichtidentische wieder blank identifiziert, den allgemeinen Begriffen subsumiert wird, sondern indem es zum Ganzen zusammentritt, ist Erkenntnis durch Konstellation zugleich Antizipation des Neuen, einer versöhnten Allgemeinheit. Freilich nicht schon diese selbst. Die objektive Wahrheit solcher Erkenntnis ist ein ungedeckter Wechsel, den erst eine revolutionäre Praxis einlösen kann. Anders, als die Positivisten von Popper bis Althusser meinen, ist Wahrheit deshalb kein Denkbegriff, kein auf das Verhältnis der theoretischen Sätze zueinander und zu ihren Voraussetzungen zu beziehendes Kriterium: "Das erfahrende Subjekt arbeitet darauf hin, in (der Nichtidentität) zu verschwinden. Wahrheit wäre sein Untergang." (34) Wie die Tatsache, daß die theoretische Gesellschaftskritik der praktischen Kritik entbehrt, auch dem Begriff der Wahrheit ihren Stempel aufdrückt, hat Adorno in den Diskussionsprotokollen zur "Dialektik der Aufklärung" ganz lapidar so charakterisiert: "Wir können ja nicht sagen, das Ganze ist das Wahre, wir können nur sagen, das Ganze, das es nicht gibt, ist das Wahre, Münchhausensituation."(35)
Clemens Nachtmann
Anmerkungen:

1) Richard Saage, Abschied vom Mythos - ein Plädoyer für die Aufklärung, in: Frankfurter Rundschau, 13.9.1988; Eckhard Henscheid, Postmoderne - was ist das? (1986), in: ders., Was ist eigentlich der Herr Engholm für einer?, Zuerich 1989
2) T.W. Adorno, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Einleitung, Darmstadt/ Neuwied 1969, S.70
3) TW. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt a.M. 1974, S. 9
4) Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1966, S.15
5) Marx setzt also nicht statt "Geist" einfach "Materie", wie die althergebrachte Metapher von der"Umstülpung" der Hegelschen Philosophie suggeriert: dies wäre die bloße Ersetzung eines ersten und erzeugenden Prinzips durch ein anderes und damit ldentitätsphilosophie. Daß die Begriffe der Materie, des Materialistischen etc. kein in sich ruhendes Prinzip bezeichnen, daß Marx also mit der Dialektik als der allseitigen Vermittlung aller gesellschaftlichen Momente Ernst macht, ändert freilich nichts an der Differenz von gesellschaftlicher Basis und ihrem Überbau: auch diese Kategorien sind polemischen Charakters. Sie sind gerichtet gegen alle Versuche, aus der Erkenntnis, daß auch der Unterbau durch menschliche Arbeit und Denken, also Geist, vermittelt ist, idealistische Folgerungen zu ziehen und nach der Devise, daß eh alles mit allem zusammenhängt, Marxens Materialismus zur Geistphilosophie umzufälsehen. So hat es auch Adorno stets gehalten (vgl dazu: Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a.M. 1964, S. 83f.).
6) vgl. Marx/ Engels Werke Band 4, Berlin/DDR 1983, S. 475
7) Es ist die Massenvernichtung der europäischen Juden als "das kollektive und klassenübergreifende Geschichtsverbrechen, das den 'Grundwiderspruch von Kapital und Arbeit' definitiv zum systemimmanenten Motor der Akkumulation transformiert" (Joachim Bruhn, Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation, Freiburg 1994, S.153). Jeglicher Rekurs auf die politisch erledigte Marxsche Theorie, der sich darum herumstiehlt, ist deshalb nicht nur naiv, sondern vorab Müll.
8) Max Horkheimer, Autoritärer Staat, in: Helmut Dubiel, Alfons Soellner (Hrsg.), Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1981, S. 68
9) Adorno, Die revidierte Psychoanalyse, in: ders., Soziologische Schriften 1, Frankfurt a.M. 1972, S. 37
10) Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S.191
11) Adorno, Die revidierte Psychoanalyse, in: ders., Soziologische Schriften 1, a.a.O., S. 35
12) Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in: ders: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt a.M. 1975, S.102
13) Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie, in: ders., Gesellschaftstheorie .... a.a.O., S. 22f.
14) Adorno, Theorie der Halbbildung, in: ders., Gesellschaftstheorie .... a.a.O., S. 89f
15) Max Horkheimer, T.W. Adorno, Diskussionen über Sprache und Erkenntnis, Naturbeherrschung am Menschen, politische Aspekte des Marxismus, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 12, Frankfurt a.M. 1985, S. 512
16) Der Unwille, als Gesellschaftskritiker dem ungemütlichen Widerspruch, dem man ausgesetzt ist, standzuhalten, artikuliert sich regelmäßig im Vorwurf mangelnder Konsequenz. So meinen z.B. sowohl der an Adorno geschulte Stefan Breuer als auch die fundamentalenwertkritiker der Zeitschrift "Krisis", daß Marx seine revolutionstheoretischen Annahmen auf eine "Ontologie der Arbeit" gründe und damit zurückgefallen sei hinter seine radikale Kritik von Wert, Ware und Kapital, die auch die Arbeit als kapitalkonstituierten Faktor begreift. Und an die Adresse von Adorno gerichtet lautet der von Breuer und der "Krisis" gleichermassen erhobene Vorwurf entsprechend, er habe in seinen Überlegungen zur Kategorie des "Nichtidentischen" eine mit seiner Subjektkritik unvereinbare Ontologie des Subjekts behauptet. Von der ontologischen Argumentation müsse man sich verabschieden, die Gesellschaftskritik jedoch sei aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln. Dass Ontologie und materialistische Kritik sich ausschließen, ist geschenkt - mit Ontologie aber haben die Marxsche Revolutionstheorie nur am Rande, Adornos Begriff des Nichtidentischen gar nichts zu schaffen. Der Glaube freilich, in den Theorien von Marx und Adorno existierten gleichsam nebeneinander zwei "Schichten" oder "Argumentationsstränge", die man fein säuberlich voneinander trennen könne, um dann die gute ins Töpfchen und die schlechte ins Kröpfchen zu stecken - dieser Glaube ist von bestürzender Naivität und gemahnt eher ans soziologische Proseminar als an materialistische Dialektik. Wer vom Marxschen oder vom Adornoschen Werk den jeweils darin einbegriffenen revolutionstheoretischen Impetus subtrahiert, behält eben nicht die reine, unverfälschte Kapitalkritik zurück, sondern eine Gesellschaftslehre unter vielen anderen, die nicht einmal mehr begründen kann, warum sie nun "kritisch" sein soll und warum sie andauernd von Wert und Kapital und nicht von System und Interaktion spricht. Stefan Breuer hat diese Konsequenz denn auch ehrlicherweise gezogen: wenn man, wie er es tut, bei Adorno jeglichen revolutionstheoretischen Gehalt durchstreicht, dann ist der Rest Systemtheorie und folglich kann Breuer in seinem Buch "Die Gesellschaft des Verschwindens" "im Horizont einer sich anbahnenden Konvergenz von Kritik und Affirmation" (S. 65) Kritische Theorie und Luhmanns Systemtheorie als einander gleichwertige, nur noch in der Terminologie unterschiedene "Ansätze" diskutieren, ohne daß erstere noch fähig wäre, die andere als Ideologie zu kritisieren. Die "Krisis" wiederum läßt unter dem Vorzeichen "fundamentaler Wertkritik" die eben erledigte Revolutionstheorie mit allen metaphysischen Schikanen, nur abzüglich des Subjekts "Arbeiterklasse", wiederauferstehen und biegt damit die "Wertkritik" in falsche Positivität hinein. Zwei klassische Fälle der "Dialektik der Aufklärung": radikale Entmythologisierung schlägt, in die Form blinder Konsequenzlogik gebannt, in abgeklärte Affirmation oder Revolutionsmythologie aus zweiter Hand um, die beide, auf je eigene Art, der Theorie ihre Negativität austreiben. Adorno hingegen hat lieber einige theoretische Unentschiedenheiten in Kauf genommen war, weil ihm dieser Preis zu hoch war.
17) Das übersieht Frank Böckelmann, der die "praktische Theorie" von Marx bisweilen allzu verständnisvoll rekonstruiert und dafür recht hart mit Adorno ins Gericht geht, wo dies unangebracht ist. Nichtsdestotrotz ist Böckelmanns 1972 im Makol-Verlag Frankfurt erschienenes und mittlerweile laengst vergriffenes Buch "Über Marx und Adorno. Schwierigkeiten der spätmarxistischen Theorie", neben Pohrts "Theorie des Gebrauchswerts", eine der wichtigsten Schriften, die im Gefolge der Protestbewegung entstanden ist, weil sie versucht, Adornos kritische Theorie als Fortführung der Marxschen zu begreifen und die Konsequenzen, die sich aus dem Auseinanderfallen von Gesellschaftskritik und Revolutionstheorie ergeben, mit kompromissloser Schärfe zu pointieren. Auch der vorliegende Artikel orientiert sich an diesem ganz großartigen Buch.
18) Adorno, Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute, in: ders., Soziologische Schriften 1, a.a.O., S.183f. sowie: Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis, in: ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a.M. 1963, S. 1 90f.
19) Adorno, Wozu noch Philosophie?, in: ders., Eingriffe, a.a.O., S. 23f.
20)20) Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 27 Der partikulare Ursprung naturwissenschaftlicher Kategorienbildung in der Tauschabstraktion besagt also noch lange nichts gegen deren objektive Geltung - gerade von der Verwischung dieser Differenz aber lebt die Naturwissenschaftskritik, die in Teilen des "westlichen Marxismus" formuliert wurde. Daß die modernen Naturwissenschaften keine a priori objektive, i.S.v. "neutrale" Erkenntnisform darstellen, sondern bis in ihre Grundbegriffe hinein kapitalistisch formbestimmt sind, ist eine recht triviale Einsicht - wahr und bedeutsam nur als Einspruch sowohl gegen die fetischistische Projektion der selbstgemachten begrifflichen Schemata aufs Naturobjekt als dessen "ablesbare" oder auf den Betrachter "überspringende" "Eigenschaft" als auch gegen den daran anschließenden, unter MLern weit verbreiteten, naiv instrumentellen Bezug auf die Naturwissenschaft, der sich, wie auch bei anderen Phänomenen, um ihre kapitalistische Konstituiertheit gar nicht erst kümmert. Wird jedoch geleugnet, was Alfred Sohn-Rethel noch zugab, daß die naturwissenschaftlichen Schemata "als Mindestbegriff dessen, was überhaupt noch einen Naturvorgang darstellt", taugen, daß den starren Kategorien, in Adornos Worten, ein "Moment des Festen" am Naturobjekt entspricht; wird Naturwissenschaft also als rein usurpatorischer, der Natur a priori inkommensurabler Willkürakt verstanden, schlägt die Kritik der Naturwissenschaft in Gegenaufklärung um. Ist das "An sich" der Natur vermittels der "für uns" gebildeten Begriffe unerkennbar; fallen Begriff und Naturobjekt unmittelbar auseinander, so fallen sie auch unmittelbar zusammen: "Natur" ist dann nur noch Inbegriff des gesellschaftlich auf sie Projizierten, ein rein gesellschaftliches Produkt, keine von Gesellschaft distinkte und von ihr verfehlte oder erkannte Qualität. Anstatt den idealistischen "Trug konstitutiver Subjektivität" (Adorno), dem das Subjekt als das absolute und erzeugende Prinzip und die Natur als unqualifiziertes Material gilt, zu durchbrechen, wird diese Hybris bloß negativ gewendet, in ihren Grundzügen aber bekräftigt: an die Stelle des subjektiven tritt ein "soziologischer Idealismus" (Sohn- Rethel). Unter dieser Voraussetzung läßt sich zwar eine historische Abfolge verschiedener Arten von Naturaneignung beschreiben begründen, warum z.B. die moderne Physik von den Riten der Schamanen nicht nur verschieden ist, sondern ihnen gegenüber auch einen unbezweifelbaren Fortschritt an Erkenntnis darstellt, kann man dann nicht mehr.
Daß solche Pseudokritik dem postmodernen Dekonstruktivismus kräftig vorgearbeitet hat, liegt auf der Hand. Hätten die Linken die erkenntniskritische Banalität, daß ein jeder Begriff sich notwendig auf ein Objekt als auf sein Substrat bezieht, das in seiner "Konstruiertheit" nicht aufgeht, nicht schon längst verleugnet und verdrängt, dann stünde dessen leeres und tautologisches, weil dem Objekt jegliche Eigenexistenz absprechendes Gerede, von der "diskursiven" oder "sozialen Konstruiertheit" von allem und jedem bei ihnen nicht so hoch im Kurs. In der Hoffnung, daß die dekonstruktivistischen Aktien bald wieder fallen, sei also nochmals angemerkt: wird Natur restlos in "Diskurs" und "Gesellschaft" aufgelöst, gerinnt die Gesellschaft ihrerseits zur - wie die Poststrukturalisten selbst einräumen: absolut determinierenden, unüberwindbaren - Natur. Daß der derart fetischisierte Zwangscharakter kapitalistischer Reproduktion auch noch zu einer positiven Bedingung für Selbstverwirklichung umgelogen wird, müßte zureichen, um den Dekonstruktivismus als das kenntlich zu machen, was er ist: bürgerliche Lifestyle-Philosophie für den gehobenen schlechten Geschmack.
21) Adorno, Äesthetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, S.107
22) Adorno, Philosophie der Neuen Musik, Vorrede, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1978, S. 6
23) vgl. Adorno, Fortschritt, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt a.M. 1969, S.40f.
24) Adorno, Fortschritt, in: ders., Stichworte, a.a.O., S. 39
25) ebenda
26) Adorno, Fortschritt, in: ders., Stichworte, a.a.O., S. 49f.
27) Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S.150
28) Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S.189
29) Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S.164
30) Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S.190
31) Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 129
32) M. Horkheimer, T.W. Adorno, Diskussionen über Sprache und Erkenntnis .... in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 12, a.a.O., S. 508f.
33) "Gerade die zunehmende Integrationstendenz des kapitalistischen Systems jedoch, dessen Momente zu einem stets vollständigeren Funktionszusammenhang sich verschlingen, macht die alte Frage nach der Ursache gegenüber den Konstellationen immer prekärer; nicht erst Erkenntniskritik, der reale Gang der Geschichte nötigt zum Aufsuchen von Konstellationen" (Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 1 68).
34) Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S.189f.
35) Max Horkheimer, T.W. Adorno, Diskussionen über die Differenz von Positivismus und materialistischer Dialektik, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 12, a.a.O., S. 478