Zur Frage, was haben die Deutschen gewußt.
Nationalbewußtsein und Erinnerung an Auschwitz

Auschwitz hat für die nächsten Jahrzehnte jedes Nationalgefühl in Deutschland unmöglich gemacht. Das ist nicht zu bedauern, weil Wahnerscheinungen ohnehin keine Legitimität besitzen. Kann man anderswo, wo das Nationalgefühl sich in irgendwelchen Marotten, Splin oder Folklore niederschlägt, über die Spinner milde lächeln, so fällt dies allerdings in Deutschland fort. Die einzige deutsche nationale Identität ist die kollektive Erinnerung an Auschwitz, wie verdrängt, verdrückt oder verzerrt diese Erinnerung auch sein mag. Auschwitz ist gewissermaßen das Gründungsverbrechen der Bundesrepublik gewesen. Diese „Identität“ ist nur modifiziert worden durch die ökonomische Orientierung anläßlich des Nachkriegsaufschwungs, der sich der Expansion ausländischer Absatzmärkte verdankte, aber zu einem „Wirtschaftswunder“ mythologisiert worden ist.

»Wann immer die Führer und Propagandisten rechtsextremer Organisationen sich zum Fang von Mitgliedern und Wählern aufmachen, sehen sie sich sofort in eine mühselige Auseinandersetzung mit dem Gedächtnis der Nation verstrickt. (...) Das Wissen ist keineswegs allein eine Leistung der Zeitgeschichtsforschung und der Verbreitung ihrer Ergebnisse durch Medien, Einrichtungen zur politischen Bildung und Schulen, schon gar nicht eine Folge der alliierten Reeducation in den ersten Nachkriegsjahren. Die Behauptung, das Deutsche Reich führe einen Krieg, der ihm irgendwie aufgezwungen worden sei, hat, anderes als 1914, bereits während des Zweiten Weltkriegs nur wenige Deutsche zu überzeugen vermocht, zumindestens nicht in der Phase militärischer Erfolge, und vor dem 8.Mai 1945 hatten viel mehr Deutsche Kenntnis vom Schicksal der Juden, als die verstörten und beschwerten Gewissen nach Kriegsende einzugestehen bereit waren. Wenn in zeitgenössischen Tagebüchern, so in Ernst Jüngers "Strahlungen", nicht nur ein- oder zweimal, sondern in über einem Dutzend Eintragungen vom Massenmord an den Juden die Rede ist, und zwar sowohl von den Mordaktionen der Einsatzgruppen wie von der fließbandartigen Tötungsmaschinerie in den Vernichtungslagern, wenn der Tagebuchautor einen Bericht über die "ungeheuerlichen Schandtaten des Sicherheitsdienstes nach der Eroberung von Kiew", d.h. einen Bericht über die Erschießung von mehr als 33000 Juden im Laufe dreier Septembertage des Jahres 1941, sogar als Teil eines der "üblichen" Gespräche in den Stäben des deutschen Ostheers bezeichnet und dabei in bewegenden Worten den Ekel schildert, der ihn, der sich im Ersten Weltkrieg als Infanterieleutnant den Por le mérite verdient hatte, jetzt vor den Uniformen, Orden und Waffen ergreife; wenn deutsche Feldmarschälle sich genötigt sehen, in naturgemäß nicht geheimen Befehlen ihre Soldaten zum Verständnis für die "harte Sühne" am "jüdischen Untermenschentum" aufzufordern; wenn ein Bischof, der gegen die drohende Einbeziehung der sog. "privilegierten Nichtarier" in die Deportationen nach Osten protestiert, in einem Brief an Hitler 1943 ungescheut und ohne Tarnbegriffe davon spricht, "die dem deutschen Zugriff unterliegenden Nichtarier" seien "in größtem Umfang beseitigt worden" und diese in Deutschland "vielbesprochenen" Geschehnisse belasteten "das Gewissen und die Kraft unzähliger Männer und Frauen im deutschen Volk auf das schwerste"; wenn der SD in seinen Stimmungsberichten 1943 konstatiert, die Versuche der NS- Propaganda, mit der Entdeckung der Leichen Tausender polnischer Offiziere, die von Stalins NKWD im Wald von Katyn ermordet worden waren, moralische Empörung über die bolschewistischen Untermenschen zu wecken, hätten nicht den gewünschten Erfolg, weil überraschend viele Deutsche die Ansicht äußerten, Katyn sei gar nichts, gegen das, was die Organe des eigenen Regimes mit den Juden anstellten; wenn die Parteikanzlei im Oktober 1942 klagt, in der Bevölkerung komme es immer wieder zu "Erörterungen" über "sehr scharfe Maßnahmen" gegen die Juden, zu Erörterungen, die durch Erzählungen von Urlaubern der deutschen Armee ausgelöst würden, "die selbst Gelegenheit hatten" solche Maßnahmen zu beobachten - so zeigt dies, daß ein so ungeheuerlicher Vorgang wie der Versuch zur Ausrottung der europäischen Juden selbstverständlich nicht geheimgehalten werden konnte. Das Regime, anfänglich durchaus um Sekretierung (Geheimhaltung MB) bemüht, hat bald praktisch darauf verzichten müssen, die "Endlösung der Judenfrage" vor den Deutschen hermetisch abzuschirmen, und 1943/44 gingen die Verantwortlichen sogar dazu über sich ihrer Verbrechen zu rühmen: in relativer Öffentlichkeit Hitler und Himmler, nämlich in einer ganzen Serie von Ansprachen vor SS-Führern, Parteifunktionären, Offizieren und Fahnenjunkern, in aller Öffentlichkeit Goebbels und Ley, der eine am 9.Mai 1943 in einem Leitartikel der Wochenzeitung "Das Reich", der andere in seiner 1944 erschienen Broschüre "Pesthauch der Welt". Mithin hat historische Erfahrung die Kenntnis von den nationalsozialistischen Verbrechen zuerst in das Gedächtnis der Nation eingegraben. Die Resultate der Forschung und ihre publizistische wie pädagogische Umsetzung haben die historische Erfahrung bestätigt, präzisiert und ergänzt, außerdem für die Weitergabe an jene Generationen gesorgt, die erst nach dem Ende des Dritten Reiches geboren wurden. Gewiß lagert die Kenntnis normalerweise in den hintersten Winkeln oder in den untersten Fächern des Bewußtseins, und wenn - wie der Fernsehfilm "Holocaust" - irgendein Ereignis eine unmittelbare Konfrontation mit den wieder anschaulich gemachten Schreckbildern der Vergangenheit erzwingt, dann ist die Nation durchaus imstande, nicht allein mit Entsetzen , sondern mit dem erstaunten Entsetzen der Ahnungslosigkeit zu reagieren. In Wahrheit ist die Kenntnis immer da und bislang auch stark genug gewesen, einen wichtigen Beitrag zur Immunisierung gegen rechtsextreme Propaganda zu leisten. (...) Bei jeder Begegnung mit rechtsextremistischer Agitation signalisiert daher das historische Gedächtnis - jedenfalls gilt das noch für eine große Mehrheit unserer Nation - sogleich eine Warnung, daß da Epigonen jener Leute erneut Gefolgschaft fordern, die den Zweiten Weltkrieg begonnen und Millionen Juden umgebracht haben. Beide Verbrechen fanden und finden nur bei einer kleinen Minderheit der Deutschen, die sie einst freilich passiv hinnahmen, Verständnis oder gar Zustimmung. Auch ist die Einsicht, da die 1945/46 vollendete Katastrophe des Deutschen Reiches und damit verbundene Leid vieler deutscher Familien wesentliche Ursachen in jenen beiden Verbrechen haben, häufiger vorhanden, als ausgesprochen wird und als Pessimisten annehmen wollen. Daher bewirkt die Warnung vor der rechtsextremistischen Werbung, die das historische Gedächtnis signalisiert, in der Tat zumeist Ablehnung. Den Strategen der rechtsextremen Propaganda und ihren Publizisten ist sehr wohl bewußt, daß sie nicht zuletzt von der Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten am Rande der deutschen Nachkriegsgesellschaft gehalten werden. In ihren Zeitungen, Broschüren und Büchern beklagen sie mit allen Gesten der Verzweiflung, daß die Schuldkomplexe der Deutschen einer Wiederkehr deutschen Nationalgefühls und gesunder deutscher Interessenpolitik im Wege stehen.«(Hermann Graml, Alte und neue Apologeten Hitlers, in: Wolfgang Benz, Rechtsextremismus in Deutschland, S. 30ff)

Diejenigen, die meinen, es könne in Deutschland einen harmlosen Nationalstolz geben, sind nicht bloß hoffnungslos naiv, sondern haben einen unbewußten Pakt mit den Kräften geschlossen, die jahrelang ihre eigentlichen Absichten verborgen haben, um zunächst Nationalbewußtsein wieder hoffähig zu machen. Diese Leute wußten, daß jedes Nationalbewußtsein auf der Welt durch Auschwitz diskreditiert ist. Sogar der jüdische Denker Leibowitz bezieht das auf den Nationalismus in Israel und warnt davor. In Deutschland sei das Nationalbewußtsein in seiner Konsequenz vorgeführt worden und man müsse gewarnt sein. In den klassischen Einwanderungstaaten und in weltoffenen oder neutralen Ländern wie Schweden oder die Niederlande, wo entweder der Staatsapparat zu Bündnissen und Kooperation mit einer sehr heterogen Bevölkerung gezwungen ist und wo jede Benachteiligung von Gruppen das Amt kosten kann oder wo die eigene Kultur als nicht so wichtig genommen wird, ist das tötliche Gift des Nationalgefühls durch vielartige Gegengifte neutralisiert und kann sich nur schwer breitmachen. Auch in anderen Ländern herrscht das zivile Recht des jus soli, das die Staatsbürgerschaft unabhängig von der Herkunft definiert. Daher kann der Schein entstehen, hier sei das Ganze harmloser. Aber es ist genauso irrwitzig das zu glauben, wie es für gesund zu halten abwechselt Aufputschtabletten und Beruhigungstabletten zu nehmen, um ein gesundes Mittelmaß zu erreichen. Auch ein durch ein Gegengift neutralisiertes Gift bleibt Gift und es könnte ja mal das Gegengift ausgehen und dann entfaltet sich die tödliche Kraft. Man sollte sich also klar machen, daß die Nation, die außerhalb der Vorstellung und des Gefühls nicht existiert, aus ungleichen Menschen keine wirklich Gleiche macht. Außer der Täuschung, daß man gleich sei, weil man sich gegen die Fremden, Diskriminierten, abgrenzt, hat man von einem Nationalbewußtsein nichts. Die regionalen Unterschiede treten schon genügend hervor, wenn man als weltoffener Mensch vielfältige Kontakte hat, dann und nur dann bemerkt man, daß man getrennt erzogen und aufgewachsen ist, in den Resten einer noch von der Vergangenheit geprägten Welt. Erst indem man im Fremden einen Seinesgleichen vernimmt, im weltoffenen Verkehr vernimmt man überhaupt einen Unterschied und gewinnt Kultur.
"Ich finde, daß jede nationale Mythologie soweit wie möglich eingeschränkt werden muß, zur Not lieber Kaugummi und Hamburger als nationaler Wahn." Leon de Winter Oktober 1973 in der AJW
"Mein ganzes Leben ist es mir aufgestoßen - was wir anstellen mit der Apartheid, ist unnatürlich. Natürlich ist es zusammenzuleben."(Nadine Gordimer, südafrikanische Schriftstellerin *1923)
 
 

[ Top | Zurück ]


Most recent revision: April 07, 1998
 

E-MAIL: Martin Blumentritt