Der Glaube an die Nation ist die ganze Realität der Nation.
(Auszug aus einem Aufsatz von Rudolf Burger (Wien))
"Jede Nation ist die mit selektiv historisierenden Mitteln betriebene, interessierte Pathetisierung und emotive Aufladung einer existierenden oder angestrebten souveränen politischen Großorganisation, ein mythysierende Pathosformel für den Staat selber; und jede empirische Feststellung eines "Nationalbewußtseins" testet nur die Wirkung einer Propaganda: Jede Nation ist Indoktrination - das gilt für die französische wie für die ukrainische, für die österreichische wie für die deutsche, für die italienische wie für die abchasische.
Am schönsten läßt sich das zeigen, wenn man das Problem ein wenig exotisiert und (...)die Frage stellt: Sind die Sahrouis eine Nation? Nun, das kommt darauf an, wer den Krieg gewinnt. Gewinnt ihn Hassan II., so wird es diese Nation niemals geben. Die Marokkaner werden sagen, daß die in der ehemaligen Kolonie Spanisch-Sahara lebenden Menschen immer Teil der marokkanischen Nation gewesen seien. Gewinnt ihn aber Polisario, so wird es nicht nur eine sahrouische Nation geben, sondern es wird seit vielleicht tausend Jarhen eine sahrouische Nation gegeben haben! Auch die kurdische Nation wird es heute schon gegeben haben, wenn es sie in Zukunft einmal gibt, d.h. wenn der PKK die Sezession von Ankara gelingt. Sonst werden die Kurden immer gewesen sein, was sie auch dann noch sein werden: Bergtürken. Die Nation eines werdenden Staates ist keine Substanz, sondern ein politisches futurum exactum - nicht nur hinten in der Türkei: Erst im 19.Jh., nach den antinapoleonischen Befreiungskriegen, verstärkt nach dem Wiener Kongreß aber noch vor Bismark, gab es seit den Ottonen bis 1806 ein Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation; vor 1806 gab es nur bis 1512 ein Heiliges Römisches Reich. Und seit noch nicht einmal fünzig Jahren gibt es ein tausendjähriges Österreich..."(Rudolf Burger, Patriotismus und Nation, in: Leviathan 2/1994 168f)
"Die Staatsnation ist ein hermeneutisches Zirkel. Zugleich ist sie "Ideologie" in des Wortes prägnanter Bedeutung: notwendig falsches Bewußtsein; notwendig, um das formale Gerüst des Staates zu kitten un den Menschen ein präjuristische Zugehörigkeit zu suggerieren - sie müssen schließlich mitspielen; falsch, weil es das nicht gibt, woran es glaubt, im Sinne einer Korrespondenztheorie von Wahrheit - vielmehr ist der Glaube selbst die ganze Realität, freilich oft sehr massive. Die historisch-nationalistische Propaganda (zu der, nota bene, schon die "Staatsbürgerkunde" gehört) ist daher nicht Mitteilung und massenwirksame Verbreitung einer empirischen historischen Erkenntnis, sondern ein persuativer(=überrendend MB) Sprechakt, der zu einem kollektiven performativen(damit ist der Handlungsaspekt der Sprache gemeint, wie z.B. Versprechen, Mitteilen, Warnen, Beleidigen usw.) Sprechakt einlädt, welcher seinerseits eine gemeinsame Geschichte als gegenwärtiges Bewußtseinsphänomen entstehen läßt. Die Propaganda tritt jedoch notwendig in Gestalt historischer Erkenntnis auf, um sich als Propaganda zu verleugnen: Deshalb die Wichtigkeit der Lehrkanzeln für Geschichte im modernen laizistischen (=von der Religion emanzipierter MB) Verwaltungsstaat, denn nur sie sind letzlich legitimiert, den Staat historisierend als Nation zu legitimieren.
(...) Gerade weil die Strukturen und Funktionsmechanismen des Staates in der bürgerlichen Gesellschaft wie diese selbst ahistorisch, nicht an traditionale Sinn- und Autoritätssysteme gebunden sind, sondern den Imperativen einer verallgemeinerten Ökonomie, letzich dem anonymen Äquivalenzprinzip der bürgerlichen Gesellschaft gehorchen, gibt er (über seine ideologischen Apparate und Agenten) eine aparte Geschichte, um sich als "Nation" zu stabilisieren. Mit dem narrativen (von lat. narrare =erzählenen MB) Konstrukt der Nationalgeschichte erreichtet er ein politisches Verpflichtungssystem, das die reine Ökonomie transzendiert und die Gesellschaft moralisch verstaatlicht. Er wirkt damit der Dekomposition und Anomie entgegen, zu denen die bürgerliche Gesellschaft von sich aus tendiert.
Deshalb ist der Historismus ein zutiefst bürgerliches Phänomen, ein Reflexionsphänomen, das traditionale Gesellschaften nicht kannten; und deshalb erwacht der Nationalismus, der immer eine Form des Historismus ist, wo Traditionen zerbrechen und Staaten entstehen; oder zerfallen, bedroht, gedemütigt werden. Er schlummert, wo der Staat eine ruhige Selbstverstädlichkeit ist und von innen und außen fraglos anerkannt wird. Und der Patriot ist der Nationalist in ruhigen Zeiten, der Nationalist der Patriot in bewegten."(a.a.O. 169f)

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Most recent revision: April 07, 1998

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