Zur begrifflichen Differenzierung von völkischem und konstitutionellen
Nationalismus
Ingeborg Maus arbeitet heraus, daß der konstitutionelle Nationalismus des
18.Jahrhunderts von dem späteren "völkischen Nationalismus"
sich unterschied und die völkischen Nationalisten sich zu Unrecht auf Begriffe
berief, die eine andere Bedeutung hatten. Da sie gewissen Sympathien mit dem aufklärerischen
Begriffen hat, ist der Aufsatz gut geeignet die Unterschiede herauszuarbeiten. Der
Umschlag des konstitutionellen in den völkischen Nationalismus wäre von
der Gegenposition eher zu beleuchten, die die Unterschiede verwischt.
Der konstitutionelle Nationalismus hat die revolutionäre gegen das absolutistische
Regime gerichte Stoßrichtung zur Voraussetzung. Sobald diese historische Voraussetzung
verschwindet, bekommt der Nationalismus eine andere, destruktivere Bedeutung, die
er nicht von Anfang an hatte. Ein Zurück zu den alten Kategorien erscheint
allerdings als naiv und ist zurückzuweisen. Nur die vollständige Überwindung
jeglichen Nationalismus hat Zukunft. Der konstitutionelle Nationalismus beruht auf
Realabstraktion, an dessen Leiden, genau der aggressive Nationalismus seine Motivation
bekommt, auch Rassismus und Antisemitismus speisen sich aus dieser Motivation. Daher
ist der Aufsatz unter diesem Vorbehalt zum Erkenntnisgewinn zu nutzen.Vgl. die Kritik von I.Fetscher
"VOLK" UND "NATION" IM DENKEN DER AUFKLÄRUNG
Von Ingeborg Maus
Die Begriffe "Volk" und "Nation", die im 18. Jahrhundert fast
durchgängig synonym verwendet wurden und in ihrer Bedeutung auf das grundlegende
Legitimationsmodell der Volkssouveränität festgelegt waren, unterlagen
bis zum 20. Jahrhundert einem Bedeutungswandel, der sie bis zur Unkenntlichkeit
entstellt. Das Thema ist deshalb nur dann angemessen zu behandeln, wenn gleichzeitig
die kollektive Verdrängung des Volkssouveränitätsprinzips in der
Gegenwart erörtert wird, die den Begriffen Volk und Nation ihre ursprüngliche
Intention entzog und sie dadurch erst freisetzte für neue - höchst prekäre
- Besetzungen.
Um die Besonderheit des Begriffs der Nation im 18. Jahrhundert gegenüber aggressiven
Nationalismen späterer Entwicklungen her auszuarbeiten, lohnt es sich, auf
eine Unterscheidung Jean-Francois Lyotards einzugehen, die diese Besonderheit zugleich
hervorhebt und nivelliert. Dem letzteren Aspekt liegt ein Verfahren zugrunde, das
ganz einer heute modischen Betrachtungsweise entspricht, der Aufklärung selbst
schon anzulasten, was das 20. Jahrhundert an Ungeheuerlichkeit hervorbrachte. Nicht
eine "Dialektik der Aufklärung" ist hier vorausgesetzt, sondern eine
Verfallslogik der Aufklärung. Lyotard unterscheidet in dem "Memorandum
über die Legitimität" (1) zwei
Formen nationaler Identitätsbildung, die mit der klassischen Entgegensetzung
von substantieller "Kulturnation" und voluntaristischer "Staatsnation"
nur sehr ungenau übersetzt wären. Während traditionale Gemeinschaften
ihre Identität in mythologischen Ursprungserzählungen manifestieren, die
rückwärtsgewandt die konkrete Besonderheit einer Gruppe als immer schon
vorhandene und zu bewahrende bestätigen, suchen republikanische Gemeinschaften
in Emanzipations- oder Zukunftserzählungen die Identität einer Nation
oder eines Volkes erst aus dem zu gewinnen, was das Volk normativ sein soll. Nach
dieser Unterscheidung ist also im ersteren Fall nationale Identität schon vor
aller politischen und rechtlichen Willensbildung vorhanden, während sie im
zweiten Fall durch demokratische Prozesse der Rechtsetzung und politischen Entscheidungsfindung
erst hergestellt wird.
Diese im wesentlichen anschlußfähige Unterscheidung wird von Lyotard
jedoch sogleich wieder dadurch nivelliert, daß er der republikanischen Identitätsbildung
des 18. Jahrhunderts überhaupt ein narratives Konzept zuordnet, aus dem die
Mythologisierung von Gründung und Ursprung tatsächlich folgt. Gegen Lyotard
ist einzuwenden, daß die Zukunft gar nicht erzählt werden kann, sondern
in der freien Willensbildung des Volkes erst hergestellt werden muß: Argumentation
ist darum die neue Diskursform, die die löst. Es liegt in der Konsequenz von
Lyotards Nivellierung, wenn er schließlich auch dem Republikanismus unterstellt,
daß er die Gemeinschaft immer schon als real vorgegebene vorausetzen müsse
oder eine Identitätskrise notwendig impliziere, die im 20. Jahrhundert der
arischen Ursprungserzählung des Nationalsozialismus oder anderen Mythen Vorschub
leiste (2).
Verfassungsmythologie
Lyotards postmoderne Umdeutung republikanischer Identitätsbildung findet in
aktuellen Interpretationen und gesamtgesellschaftlichen Selbstbeschreibungen zahlreiche
Entsprechungen, wobei die Remythologisierungen und Resubstantialisierungen harmloserer
Natur sind. So wird etwa die 200jährige amerikanische Unionsverfassung, die
am Beginn - ihrer basisdemokratischen Abneigungen unerachtet - nicht selber Inhalte
"erzählte" oder substantielle Identitäten entwarf, sondern ein
nüchternes Spielregelsystem für Entscheidungsprozesse bereitstellte, die
erst in Zukunft zu treffen waren, im 20. Jahrhundert zunehmend zu einem mythologischen
Gründungsakt umstilisiert (3). Hatte
noch der trockene Konservatismus Alexander Hamiltons die zur Ratifizierung anstehende
Unionsverfassung von allen Wertbesetzungen auf radikale Weise freizuhalten versucht,
indem er den geplanten Verzicht auf einen Grundrechtskatalog mit einem Verzicht
auf politische Lyrik gleichsetzte (4), so
wird in neuerer Zeit die nationale Identitätsbildung in den Vereinigten Staaten
in dem Maße von Zukunftsorientierung auf Vergangenheitsorientierung umgepolt,
in dem die Verfassung zum Angelpunkt einer Ursprungserzählung und Kern einer
religion civile wird, die alle Werte einer Gemeinschaft schon enthält. Der
Angriff der communitarians auf die liberals unterstreicht diesen Prozeß Auch
das sehr viel jüngere Grundgesetz wird längst nicht mehr als prozedurale
Prämisse für spätere inhaltliche Rechtsentscheidungen, sondern selbst
schon als der Inhalt betrachtet, der die Wertgemeinschaft dieser Gesellschaft konstituiert.
Bei den Entwicklungen ist gemeinsam, daß sie das zukunftsoffene demokratische
Prozedere, in dem Hamilton noch die einzige Garantie staatsbürgerlicher Freiheit
gesehen hatte (5), zusammen mit ebenfalls
prozedural verstandenen Grundrechtsgarantien (6) zugunsten eines substantialisierten Verfassungspatriotismus einschränken:
Nicht mehr die Freiheit staatsbürgerlicher Partizipationsmöglichkeiten
in demokratischen Willensbildungsprozessen begründet nationale Identität,
sondern die Unterstellung inhaltlicher Vorentscheidungen durch den Gründungsakt
der Verfassung, die nur den Zugang beschwörender Interpretation zulassen. Dieser
Übergang zur Verfassungstheologie begründet zugleich die Wertexpertokratie
frei judizierender Verfassungsgerichte, die nicht so sehr als "Hüter"
geschriebener Verfassungen denn als Sachwalter politischer Einheit auftreten.
Der radikale Republikanismus des 18. Jahrhunderts
Ein Blick auf den radikalen Republikanismus des 18. Jahrhunderts, der sich in einer
spezifischen Konnotation von Volkssouveränität und Nation manifestiert,
scheint geeignet, den Nationbegriff der Aufklärung gegen spätere Überlagerungen
zu rekonstruieren. Ich gehe im folgenden auf die einschlägigen Konstruktionen
Rousseaus und Kants ein, die zugleich mit den Verfassungsprinzipien der Französischen
Revolution genau übereinstimmen (7).
Angesichts der aktuellen Bewußtseinsverschiebungen verwundert es nicht, daß
die genannten Autoren und Prinzipien in vielfacher Hinsicht unter Verdächtigungen
stehen, die sich nicht nur aus der geläufigen Verwechslung von Revolutionsprinzipien
und Revolutionspraxis herleiten (8). Allein
das Prinzip der Volkssouveränität steht in sich selbst so sehr unter Verdacht,
daß dessen konsequenteste Vertreter, Rousseau und Kant, heute entweder als
totalitär oder als obrigkeitsstaatlich eingeschätzt werden.
Es kann gezeigt werden, daß dieses Mißverständnis darauf beruht,
daß (nach unserem Sprachgebrauch) demokratische Theorien an vordemokratischen
Maßstäben gemessen werden: nämlich an dem Ausmaß von Freiheitssicherung
und demokratischer Kontrolle, das heute noch möglich erscheint. Heute haben
sich längst systemisch vernetzte Entscheidungsprozesse gegen die gesellschaftliche
Basis verselbständigt, welcher nur noch die Möglichkeit nachträglicher
punktueller Reaktionen verbleibt. Lassen sich letztere unter dem Titel "Widerstandsrecht"
adäquat beschreiben, so intendierte dagegen das aufklärerische Prinzip
der Volkssouveränität die demokratische Steuerung des gesamten Entscheidungsprozesses.
Daß darum die Abwesenheit eines Widerstandsrechts bei beiden Autoren gegenwärtig
als Defizit erscheint, besagt wenig über die Demokratietheorie des 18. Jahrhunderts,
aber alles über die Regressionen des gegenwärtigen Demokratieverständnisses.
Entscheidend für das vorliegende Thema ist, daß das vormoderne Widerstandsrecht
von den Aufklärern deswegen als eine zu beschränkte Kompetenz des Volkes
abgelehnt wird, weil es sich auf die Verteidigung von partikularen Freiheitsverbriefungen
und materialen Rechten bezog, auf die sich die Gesellschaft nicht erst zu verständigen
hatte, sondern die in der mittelalterlichen Wertegemeinschaft als objektiv vorgegeben
galten. Das Widerstandsrecht verteidigt also noch Inhalte, die man "erzählen"
kann.
Das "Volk" der Volkssouveränität
Das Prinzip der Volkssouveränität etabliert sich dagegen gerade in der
Umstellung von materialem Naturrecht auf prozedurales Naturrecht: Positives Recht
ist nicht deshalb legitim, weil es inhaltlichen Gerechtigkeitsprinzipien entspricht,
sondern weil es in Verfahren gesetzt wurde, die ihrer Struktur nach gerecht, d.h.
demokratisch sind. Daß im Gesetzgebungsprozeß alle über alle das
gleiche beschließen, ist eine normativ anspruchsvolle Voraussetzung, die nicht
mehr inhaltlich definiert ist, sondern durch Selbstgesetzgebung der Rechtsadressaten,
gleiche Verfahrenspositionen und Allgemeinheit der Rechtsregelung Willkür verhindern
und eine Minimierung von Herrschaft bewirken sollte. Dem entsprach die Umstellung
von konventioneller auf postkonventionelle Moral, die die inhaltlichen Tugendkataloge
des Mittelalters entkräftete und die moralisch handelnden Subjekte gegen traditionelle
Gerechtigkeitsexpertokratien insofern autonom setzte, als jedem einzelnen ein formales
Prüfverfahren der Generalisierungsfähigkeit seiner Maximen ("Kategorischer
Imperativ") anheimgestellt wurde. Alle diese Umpolungen von materialen Vorverständiungen
zu Verfahren der je neuen Verständigung entsprechen dem aufgeklärten Begriff
nationaler Identität, der sich nicht auf die Inhalte einer Vergangenheit, sondern
auf die in Zukunft stets neu herzustellenden Inhalte möglicher Identifikationen
bezieht. Die ständige demokratische Beteiligung aller an diesen Entscheidungsfindungsprozessen
enthält so die Kompensation für die Unberechenbarkeiten zukunftsorientierter,
sich rasch verändernder Gesellschaften. Volkssouveränität meint in
diesem Kontext die voluntaristische Freisetzung der demokratischen Gesetzgebung
aus jedem gemeinschaftlichen Ethos, aber deren Bindung an ein Verfahren, das auch
bei Abwesenheit tugendhafter Motivationen der Bürger strukturell garantiert,
daß der inhaltlich unbeschränkte Wille vernünftig sein kann. Das
"Volk" der Volkssouveränität kann angesichts dieser Abstraktion
von allen substantiellen Inhalten nicht positiv, sondern nur noch negativ definiert
werden: zum "Volk" gehören alle, die nicht in den Staatsapparaten
sitzen. Gerade dieser negative Volksbegriff kennt keinerlei ethnische, kulturelle
oder soziologische Kriterien, die Zugehörigkeiten oder Ausschlüsse begründen
könnten. In der Konnotation der "Volkssouveränität" besagt
er nichts anderes, als daß nur den Nicht-Funktionären, keinesfalls aber
den Amtswaltern die Souveränität der Gesetzgebung zukomme.
Rousseau
Ein erster Blick auf die Begriffe Volk oder Nation bei Rousseau und Kant läßt
es allerdings fraglich erscheinen, ob sie sich auf der Höhe dieser Prinzipien
befinden, oder nicht doch - insbesondere bei Rousseau - mit kommunitaristischen
oder sogar aggressiv-chauvinistischen Intentionen sich verbinden. Auf letzteres
könnte eine Stelle (neben vielen anderen) aus Rousseaus erstem Discours verweisen:
"Während die Annehmlichkeiten des Lebens zunehmen... wird die echte Tapferkeit
entnervt, die militärischen Tugenden verschwinden. Das ist auch das Werk der
Wissenschaften und all jener Künste, die man in der Stube hockend ausübt.
Als die Goten Griechenland verwüsteten, wurden alle Bibliotheken nur deshalb
vom Feuer verschont, weil einer die Meinung ausstreute, man müsse den Feinden
die Möbel lassen, die so gut geeignet waren, sie vom Militärdienst abzuwenden
und sich mit einer sitzenden und müßigen Beschäftigung zu vergnügen."
(9) In solchen Möbeln sitzend ist zu
fragen, ob Rousseaus Beschwörung "des süßen Namens Vaterland"
(10) eher eine Verbindung von Volkssouveränität
und Nation unter militaristischen Vorzeichen enthält. Ließe sich vielleicht
die umlaufende Behauptung halten, daß schon die radikale Demokratietheorie
des 18. Jahrhunderts mit einem Politikbegriff operierte, der die Identität
eines demokratischen Gemeinwesens aus der existentiellen Freund-Feind-Unterscheidung
gewann (womit man von Rousseau sehr schnell zu Carl Schmitt käme)?
Gegen diese finstere Interpretation des Zusammenhangs von Volkssouveränität
und Nation sind mehr Argumente möglich als der Verweis auf die bekannte Tatsache,
daß im 18. Jahrhundert die Forderung militärischer Ertüchtigung
aller Bürger im Sinne eines Milizprinzips erhoben wurde, das gegen die stehenden
Heere des Absolutismus gerichtet war. Die militärische Tugend Rousseaus war
unter diesem Aspekt gegen ein Instrument gerichtet, das auch zur innerstaatlichen
Repression eingesetzt werden konnte, und stand deshalb auch unter immanent-demokratischen
Vorzeichen. An der zitierten Stelle geht es Rousseau jedoch um die Verteidigung
eines politischen Gemeinwesens nach außen - wie überhaupt Rousseau stets
betont, daß alle militärischen Anstrengungen nur zu Verteidigungszwecken
eingesetzt werden dürfen. Der Zusammenhang zwischen interner Volkssouveränität
und nationaler Souveränität nach außen besteht hier darin, daß
demokratische Willensbildung eines Volkes in aller Regel von Okkupationsmächten
nicht anerkannt wird. Dieser Zusammenhang ist gleichermaßen in Kants Argumentationen
präsent, die die Reihenfolge der Demokratisierung monarchischer Systeme nach
den jeweiligen Verteidigungsbedürfnissen bestimmen (11)). Diese Sicht der Dinge bestimmt ebenso Rousseaus und Kants Votum
für eine weltweite Konföderation souveräner Einzelstaaten, das der
globalen Universalisierung des Volkssouveränitätsprinzips entspricht.
Da aber Volkssouveränität nie gegen den Willen eines Volkes eingeführt
werden kann, muß sie trotz ihrer universellen Intention in jedem einzelnen
Volk errungen, eingeführt und eingeübt werden. Das führt aber noch
einmal auf die Frage nach dem Volk der Volkssouveränität.
Der erste Blick auf Rousseau ist auch hier besonders verwirrend. Der Entwurf
einer Verfassung für Korsika und der Contrat Social scheinen in
dieser Frage diametral entgegengesetzt. Die Korsika-Schrift unterstellt eine so
große Homogenität der Gesellschaft, einen so zentralen Stellenwert von
stabilen Sitten und Gebräuchen als sozialer Kitt der Gesellschaft, daß
in das Volk Korsikas nur alle 50 Jahre ein Fremder feierlich integriert werden kann(12). Es ist allerdings zu beachten, daß
Rousseau für Korsika den Sonderfall einer demokratischen Regierungsform formuliert,
die er im Contrat Social wegen der hohen Tugendanforderungen an die Bürger
und wegen des Fehlens einer Gewaltenteilung ausdrücklich als unrealisierbar
und nicht wünschenswert verwirft(13)
. "Demokratie" meint im Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts die antike
Demokratie im Gegensatz zur favorisierten "Republik". In der Korsika-Schrift
handelt Rousseau tatsächlich von der oft kolportierten Identität der Regierten
und der Regierenden(14), während die
Republik nur die Identität von Gesetzgebern und Rechtsadressaten verlangt und
erlaubt. Volkssouveränität ist im letzteren Fall identisch mit der Gesetzgebungskompetenz
des Volkes. Diese ist als Souveränität ungeteilt, sie findet aber ihre
Grenze an der Kompetenz der Exekutive, die allgemeine Gesetze auf den Einzelfall
anzuwenden hat (15).
Die spezifischen Homogenitätsbedingungen des Volkes in der Korsika-Schrift
gelten also nur für den auf die kontingente historische Entwicklungsphase dieser
Inselgesellschaft berechneten Sonderfall, woraus Rousseau ausdrücklich die
"Notwendigkeit" (16) einer späteren
Änderung der demokratischen Regierungsform zu einer "glanzvolleren"
ableitet. - Im Contrat Social dagegen ist Rousseau zufolge das Volk entweder "durch
einen gemeinsamen Ursprung, durch Interesse oder Übereinkunft" verbunden
(17) und am besten zur Gesetzgebung geeignet,
wenn es "weder tiefeingewurzelte Gebräuche noch Aberglauben kennt"
(18). Die auch im Contrat Social behandelten
"moeurs" bezeichnen also nicht eine unmittelbar substantielle Sittlichkeit,
sondern sind abhängige Variable der öffentlichen Meinung (19). Auch Rousseaus berühmtes Kapitel über die religion civile
ist nicht im Sinne einer Wertgemeinschaft zu lesen, sondern - angesichts der historischen
Problemlage - als Option für die Trennung von Staat und Kirche (20) und die Minimierung religiöser Anforderungen auf die den großen
Weltreligionen gemeinsamen Inhalte. Was Rousseau unter dem Stichwort religion civile
ausbuchstabiert, sind also gerade die ersten Bedingungen für Toleranz als Basis
einer religiös-multikulturellen Gesellschaft. Das "Volk" der Volkssouveränität
ist nach alldem gerade in den normativen Bestandteilen von Rousseaus Werk ein ausschließlich
verfassungsrechtlicher Begriff, der von allen ethnischen, kulturellen oder soziologischen
Momenten, sogar von der Notwendigkeit eines Staatsgebiets abstrahiert: die Konstitution
eines Volkes nur durch das konsentierte Gesetz ist der eigentliche Inhalt des Kapitels
über den "legislateur".
Kant
Auch bei Kant scheint es auf den ersten Blick fraglich, ob er in seinen Begriffen
von Volk und Nation die alten Substantialitäten wirklich verabschiedet. In
der "Anthropologie" findet sich folgende Stelle: "Unter dem Wort
Volk (populus) versteht man die in einem Landstrich vereinigte Menge, in so fern
sie ein Ganzes ausmacht. Diejenige Menge oder auch der Teil derselben, welcher sich
durch gemeinschaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen
Ganzen erkennt, heißt Nation (gens)..." (21) Fast scheint es, als sei hier von Blut und Boden die Rede, wenngleich
in der harmloseren Fassung von ethnischer Identität und Staatsgebiet. Nun ist
nicht ohne Belang, daß sich diese Ausführung in der "Anthropologie"
findet, die normative und deskriptive Aussagen verbindet oder - in Kants Formulierung
- erforscht, was der Mensch als frei handelndes Wesen "aus sich selber macht,
oder machen kann und soll" (22). Wenn
Kant den obigen Passus seiner Betrachtung verschiedener Nationalcharaktere voranschickt,
wobei letztere ohnehin nach seiner Aussage eher Stoff für die empirische Klassifikation
des Geographen als diejenige des Philosophen abgeben (23), so ist damit auch die besondere Empirienähe der Bestimmung
dessen, was "man" unter Volk und Nation versteht, bezeichnet. Dennoch
kündigt sich eine normative, Staatsgebiet und Abstammung überlagernde
Perspektive auch in diesem Zusammenhang schon an. Was das Volk zu einem "Ganzen"
und die Nation zu einem "bürgerlichen Ganzen" macht, kann sich in
Naturwüchsigkeit nicht erschöpfen, weil auch die auf gemeinschaftlicher
Abstammung beruhende Vereinigung zu einem bürgerlichen Ganzen davon abhängig
ist, daß die vereinigte Menge selbst sich als solche "erkennt".
Daß dieser bewußte Erkenntnisakt und nicht die zugrunde liegenden Substantialitäten
entscheidend sind, geht erst aus den unmittelbar folgenden Formulierungen hervor.
In ihnen wird näher ausgeführt, was überhaupt die Vereinigung der
trotz gemeinsamer Abstammung isolierten Individuen (die zusammen eine bloße
"Menge" sind) zu einer Nation ausmacht. Unabhängig von der Abstammung,
gehört nur der Teil der ursprünglichen Menge zur Nation, der bereit ist,
die gemeinsamen "Gesetze" anzuerkennen und damit die Qualität von
Staatsbürgern anzunehmen. An dieser entscheidenden Stelle werden bei Kant die
Begriffe "Nation" und gemeinsame "Gesetze" geradezu identifiziert
(24). Trotz Boden und Abstammung, die -
in empirischer Sicht! - eine vorpolitische, quasi natürliche Voraussetzung
der politischen Vereinigung abgeben, bildet deren einheitsstiftendes Moment doch
der normative Aspekt des gesetzgebenden Erkenntnis- und Willensaktes.
Kants Begriff der Nation korrespondiert darum auf das genaueste mit dem grundsätzlichen
Kontraktualismus seiner Theorie, der das konstitutive Moment des Staates ausschließlich
im Rechtsakt des ursprünglichen Vertrags sieht. Kants Bestimmungen in ihrem
Zusammenhang stellen unmißverständlich klar, daß Volk und Nation
nicht Natur sind, sondern nur als Kunstprodukt des Gesellschaftsvertrags exisieren.
So kennzeichnet Kant die Entstehung eines Volkes als einen "actus, da eine
Menge durch ihre Vereinigung ein Volkmacht" (25) - der produktive Voluntarismus dieser Bestimmung ist bemerkenswert.
Umgekehrt hatte Kant die Gefährdung jeder Gesellschaft darin gesehen, daß
"zwischeninne der Status naturalis eintritt, denn in diesem hören sie
auf, ein Volk zu seyn." (26) Wenn also
die Rückkehr in den Naturzustand durch den Bruch des einheitsstiftenden Gesetzes
nichts mehr übrigläßt, das aufgrund substantieller Qualifikationen
noch als Volk bezeichnet werden könnte, so ist "Volk" nach alldem
auch hier weder ein ethnischer noch ein soziologischer Begriff, sondern ein staatsrechtlicher.
Die ausschließlich rechtliche Bedeutung dieses Begriffs - entsprechend Kants
Diktum "Der souveräne Grund des Rechts macht eine Gesellschaft" (27) - enthält aber gerade die Abstraktion
von allen empirischen Voraussetzungen, die in der "Anthropologie" noch
angegeben waren. Deshalb konnte Kant betonen, daß unabhängig von gemeinsamer
Abstammung und Ansässigkeit auf dem gleichen Boden nur zur Nation gehört,
wer dem Fundamentalgesetz des ursprünglichen Vertrags zustimmt. Damit ist auch
umgekehrt die empirische Abstammungsgemeinschaft für weitere Beitrittserklärungen
geöffnet. Indem so für die klassische Theorie der Volkssouveränität
(erste) Verfassunggebung und Konstituierung der Nation zusammenfallen, etabliert
sich der demokratisch konzipierte Nationalstaat nicht gegen das allgemeine Gesetz,
wie Hannah Arendt befürchtete (28),
sondern durch das allgemeine Gesetz. Auch der kontinentale demokratische Nationalstaat
des 18. Jahrhunderts beruht auf Verfassungspatriotismus. Aber selbst diesem geht
bei Kant noch die verfassunggebende Gewalt des Volkes voraus. Sogar der Gesellschaftsvertrag
beansprucht bei Kant keine Priorität gegenüber dem allgemeinen Volkswillen,
weil dieser selbst der "Urgrund aller öffentlichen Verträge"
ist (29). Gerade dieses Apriori der rechtsetzenden
Volkssouveränität vor der rechtlichen Institutionalisierung selbst verdeutlicht
noch einmal, daß die Identität einer Nation bei Kant nur als Prozeß
freier Willensbildung und nicht auf der Basis kommunitaristischer Begründung
durch den Wertekanon einer fertigen mystifizierten Verfassung gedacht werden kann.
Das Abstrakt-Allgemeine als Gewährleistung des Konkret-Besonderen
Gegen die Konzeption der "Unteilbarkeit der Volkssouveränität"
erhebt sich allerdings noch immer der Verdacht, hier sei ein einheitliches kollektives
Entscheidungssubjekt unterstellt, das mit einer modernen pluralistischen und multikulturellen
Gesellschaft inkompatibel sei. Dieser Vorwurf verwechselt jedoch eine normative
Aussage über die Allokation politischer Macht - alle Souveränität
soll an der Basis der Gesellschaft verbleiben - mit einer Deskription gesellschaftlicher
Verhältnisse. Allerdings ist bei Kant die Allgemeinheit des vereinigten Volkswillens
ein Produkt der Abstraktion, wie überhaupt die Begriffe "Volk" und
"Nation" wesentlich auf der Abstraktion von allen realgesellschaftlichen
Verhältnissen beruhen. Hier stellt sich das Problem der Bedeutung dieser Abstraktion.
Der von Hegel bis Lyotard formulierte Vorwurf gegen Kant lautet, diese Abstraktion
verflüchtige jede konkrete Wirklichkeit. Nicht nur alle tradierten gesellschaftlichen
Institutionen und substantiellen Ordnungen, sondern auch jedes einzelne Individuum
seien im Hinblick auf das Ideal kontingent und verdächtig. Jede besondere Wirklichkeit
verschwinde vor der totalen Unbestimmtheit des reinen vernünftigen Willens
(30).
Es ist jedoch zu zeigen, daß Kants Theorie keineswegs durch Verallgemeinerung
alle Heterogenität entrechtet oder Heterogenes ausgrenzt, sondern daß
umgekehrt die Abstraktion der allgemeinen Begriffe die Voraussetzung ist für
die Autonomie des Besonderen - und zwar gerade deshalb, weil bei Kant nicht der
Anspruch besteht, daß das Allgemeine das Besondere ohne organisatorisch-institutionelle
Vermittlung in sich enthalte. Indem Kant den Begriff des Volkes wesentlich als einen
staatsrechtlichen bestimmt, beruht dieser in der Tat auf der Abstraktion von allen
konkreten gesellschaftlichen Inhalten. Er impliziert für die zugehörigen
Individuen eine Binnendifferenzierung nach Citoyens und Bourgeois. Die Abstraktheit
des nichts als vernünftigen Citoyen entspricht der des homo noumenon der Ethik,
der von allen subjektiven empirischen Zwecken als Beweggrund und Kriterium seines
Handelns absieht, weil diese nicht unmittelbar für alle vernünftigen Wesen
verallgemeinerungsfähig sind (31).
Richtet sich die ethische Anforderung an die bewußte Motivation jedes einzelnen,
so ist das staatsrechtliche Pendant in die Struktur der Entscheidungsverfahren selber
eingebaut. Vergleichbar bleibt in beiden Fällen der Grad der Abstraktion. Das
herrschende Mißverständnis betrifft aber Funktion und Stellenwert dieser
Abstraktion.
Was das ethische Prinzip betrifft, so hatte Kant sogar schon gegen zeitgenössische
Unterstellungen, seine Theorie fordere den Verzicht auf alles konkrete Glück,
geduldig erklärt, daß dem Menschen gerade "nicht angesonnen werde,
er solle wenn es auf Pflichtbefolgung ankommt, seinem natürlichen Zwecke, der
Glückseligkeit, entsagen; denn das kann er nicht, so wie kein endliches vernünftiges
Wesen überhaupt; sondern er müsse, wenn das Gebot der Pflicht eintritt,
gänzlich von dieser Rücksicht abstrahieren" (32). Es scheint diese Differenz zwischen Entsagung und Abstraktion zu
sein, die bis zur Gegenwart in der Diskussion des anstehenden Problems keine Beachtung
fand. Was das ethische Prüfungsverfahren der Universalisierbarkeit individueller
Maximen (kategorischer Imperativ) fordert, ist nicht die Eliminierung konkreter
Zwecke als solcher, sondern deren Disqualifizierung als Kriterien der Maximenprüfung.
Da konkrete Glücksbestrebungen wegen ihrer Konkretheit nicht unmittelbar generalisierungsfähig
sind, können sie nicht selber das Kriterium der Generalisierbarkeit abgeben,
oder: das zu Prüfende kann nicht in den Maßstab der Prüfung eingehen.
Alle Argumentationslinien in Kants Ethik laufen darauf hinaus, daß das Generalisierungsprinzip
des kategorischen Imperativs nicht an die Stelle der ursprünglichen sinnlichen
Motivationen der Individuen treten und diese verdrängen soll, sondern sich
zu diesen lediglich als ein Selektionsprinzip verhält. Es läßt diejenigen
konkreten Bestrebungen als vernünftig passieren, die die ebenso konkreten und
besonderen Bestrebungen anderer nicht verletzen oder diese sogar mitbefördern
(33).
Kants Prinzip der Abstraktion erweist sich bereits in der Ethik als eines nicht
der grundsätzlichen Negation, sondern der Kompatibilisierung höchst konkreter
sinnlicher Neigungen und Zwecke der verschiedenen, in gesellschaftlichen Beziehungen
stehenden Individuen. Die Notwendigkeit ethischer Abstraktion besteht nicht, weil
das konkrete individuelle Glück unter Verdacht stünde, wie Lyotard vermutet,
sondern weil über dieses Glück die einzelnen konkreten Individuen "gar
verschieden denken" (34). Die abstrakte
Allgemeinheit des Kriteriums, das sich von jeder inhaltlichen Spezifizierung des
Glücks freihält, ist so die Voraussetzung für die Autonomie des konkreten
besonderen Glücks.
Ebenso etabliert sich die abstrakte Allgemeinheit des politischen Willens nicht
jenseits des konkreten Einzelnen, sondern besteht nur in dessen Kompatibilisierung.
Auch der abstrakte Citoyen ist nicht der asketische Gegenpol zum partikular interessierten
Bourgeois. Die Sphäre des Politischen als Ort des Citoyen unterscheidet sich
von der Gesellschaft des Bourgeois nicht durch ein eigenes "Sachgebiet",
weil Kants Theorie keinen eigenen Rechtszweck des Staates jenseits der Harmonisierung
der Rechtszwecke der Individuen zuläßt. Das Politische kennt keine eigenen,
sondern nur gesellschaftliche Themen. Auch über deren Auswahl wird nicht aus
der Perspektive des Politischen, sondern aus der der Gesellschaft entschieden. Was
sich nämlich im Verlauf demokratischer Verfahren als Allgemeinheit des Politischen
herausstellt, bildet kein Jenseits der Gesellschaft, sondern nur das aus ihrer Disparität
ermittelte Gemeinsame. So formuliert übrigens sogar Rousseau: "Wenn der
Widerstreit der Einzelinteressen die Gründung von Gesellschaften nötig
gemacht hat, so hat der Einklang derselben Interessen sie möglich gemacht.
Das Gemeinsame nämlich in diesen unterschiedlichen Interessen bildet das gesellschaftliche
Band, und wenn es nicht irgendeinen Punkt gäbe, in dem alle Interessen übereinstimmen,
könnte es keine Gesellschaft geben. Nun darf aber die Gesellschaft nur gemäß
diesem Gemeininteresse regiert werden." (35)
Diese Ausfilterung des Allgemeinen aus dem Besonderen hat zur Konsequenz, daß
das gesellschaftliche Besondere von regelnden Eingriffen weitgehend verschont bleibt.
Der schmalen Basis des resultierenden Gemeininteresses entspricht Rousseaus Votum
für "sehr wenig Gesetze" (36). Weit davon entfernt, alle konkrete Wirklichkeit der Gesellschaft in flächendeckender
Einzelregelung totalisierend zu erfassen, läßt die Abstraktion des Gemeinwillens
- entgegen Lyotards Vermutungen die Autonomie des Besonderen unangetastet. Insofern
besteht das Spezifische des Politischen für die Demokratietheorie der Aufklärung
nur in der Institutionalisierung von Verfahren, in denen die gesellschaftlichen
Themen aus der Perspektive der Gesellschaft generalisierend erörtert und entschieden
werden können. Dieser Durchgängigkeit entspricht die Personalunion von
Bourgeois und Citoyen in jedem Teilnehmer dieser Verfahren. Letzterer hat nicht
etwa in einem mystischen Akt, der seine "Tugend" überfordern würde,
selbst eine Zäsur durch seine Doppelnatur zu legen, sondern gewinnt als Bourgeois,
soweit seine partikularen Interessen den prozeduralen Automatismus als generalisierungsfähige
passieren, die Qualität des Citoyen. Gerade diese prozedurale Vermittlung von
Besonderem und Allgemeinem ist aber auf die äußerste Abstraktion des
Begriffs des Citoyen angewiesen. Nur dessen völlige inhaltliche Unbestimmtheit
garantiert, daß kein konkretes Interesse und kein besonderer Bourgeois von
der Teilnahme am Verfahren ausgeschlossen wird.
Die Gewährleistung gleicher Verfahrensrechte
Es ist nicht diese Abstraktion, sondern die mangelnde Konsequenz inder Universalisierung
ihrer Anwendungsbedingungen auch noch bei vielen ihrer zeitgenössischen Vertreter,
wenn die staatsrechtliche Allgemeinheit des Volks- und Citoyenbegriffs sich dennoch
in der Praxis mit Exklusionen ethnischer Minderheiten oder der Nichtanerkennung
der Frauen als Menschen und Citoyens verband. Erst die Resubstantialisierung
der einst abstrakten staatsrechtlichen Begriffe im 20. Jahrhundert bewirkt deren
prinzipielle Unanwendbarkeit auf eine pluralistische oder multikulturelle Gesellschaft.
Ist letzteres in den drastischen Substantialisierungen des Nationalsozialismus oder
des Stalinismus auch gar nicht beabsichtigt, in denen entweder eine Rasse oder eine
Klasse zum "Volk" erklärt wird - mit entsprechenden Konsequenzen
für das jeweils "Heterogene" -, so haben auch Substantialisierungen
wie sie in heutigen liberaldemokratischen Systemen üblich sind, ihre eigene
Problematik. Die gutgemeinte Absicht, die besondere Identität einzelner gesellschaftlicher
Gruppen durch konkrete Sonderrechte abzusichern, führt eher zur Verfestigung
der Grenzen zwischen den Gruppen und zur Exklusion statt zur Inklusion.
Dagegen anerkennen die Abstraktionen der Aufklärungsphilosophie gesellschaftlichen
Pluralismus nicht im Wege der rechtlichen Festschreibung partikularer Positionen,
sondern durch die Gewährleistung gleicher Verfahrensrechte trotz Ungleichheit
der gesellschaftlichen Interessenlagen. Daraus ergibt sich ihre Relevanz und Aktualität
gerade auch angesichts der heutigen gesellschaftliche Ausdifferenzierung. Die abstrakten
Prinzipien der Aufklärung, gerade indem sie die Hypostasierung einer inhaltlichen
Allgemeinheit vermeiden und als Allgemeines nur noch das Prozedere der Kompatibilisierung
des je Besonderen bestimmen, bezeichnen das einzige, worauf eine pluralistische
und multikulturelle Gesellschaft sich noch einigen kann.
Ein offener Begriff der Nation
Was einen anderen Aspekt des Nationbegriffs der Französischen Revolution angeht,
so argwöhnt Hannah Arendt, daß der Akzent auf die konkrete Besonderheit
einer nationalen Identität gelegt sei, so daß in der französischen
Deklaration der Menschenrechte bereits Freiheit durch nationale Einheit verdrängt
werde. Sie sieht den Universalismus der proklamierten Rechte dadurch desavouiert,
daß diese zugleich als die spezifischen Rechte eines konkreten Volkes in Erscheinung
treten, das in ihrer Erringung seine besondere nationale Identität findet.
Demzufolge verschwände die Anerkennung höchster universeller Rechte in
der gleichzeitigen Proklamation des souveränen Volkswillens, dem sie ihre Anerkennung
verdanken. Damit wäre die Durchsetzung des Prinzips der Volkssouveränität
nichts anderes als die Etablierung einer konkreten souveränen Nation (37). Wenn Hannah Arendt die Crux des so explizierten
Zusammenhangs von universellen Freiheitsrechten und gesetzgebender Souveränität
des Volkes in der späteren Auswirkung erblickt, daß die nationalstaatlich
erklärten Menschenrechte eben nicht den Menschen, sondern nur den Staatsangehörigen
zugebilligt wurden und insbesondere für Staatenlose nicht existent waren (38), so ist zu sehen, daß diese Analyse
die Entwicklung zum chauvinistisch pervertierten Nationalstaat auf das 18. Jahrhundert
zurückprojiziert. Diese Interpretation post festum scheitert an der Tatsache,
daß die Souveränität des Volkswillens im 18. Jahrhundert ebenso
universalistisch gedacht wurde wie die Idee der Menschenrechte selbst und sich deshalb
mit ihr verbinden konnte. Volk und Nation als Prinzipien der Französischen
Revolution basieren noch so wenig auf quasi "natürlicher", substantieller
oder historisch gewachsener Identität, daß sie z.B. das Problem der Staatenlosigkeit
nicht nach sich ziehen können. Ausgerechnet die Jakobiner-Verfassung (es sei
hier daran erinnert, daß der Terror der Jakobiner-Herrschaft nicht mit dieser
Verfassung, sondern nur aufgrund ihrer Suspension durchgesetzt werden konnte) garantiert
nicht nur die Staatsangehörigkeit, sondern bereits die Ausübung sämtlicher
bürgerlicher Rechte einschließlich der politischen Rechte des Aktivbürgers
"jede(m) Ausländer, der das Alter von 21 Jahren erlangt hat, in Frankreich
seit einem Jahr ansässig ist und dort von seiner Arbeit lebt oder ein Besitztum
erwirbt oder eine Französin geheiratet hat oder ein Kind annimmt oder einen
Greis ernährt"(39).
Angesichts der niedrigen Schwellen, die in diesen alternativen Bedingungen errichtet
sind, kann der Französischen Revolution nur der Begriff einer Nation unterstellt
werden, die für die Beitrittserklärung eines jeden durch Willensakt offen
ist. Nicht eine vorausgesetzte Einheit der Nation bestimmt darüber, wer ihr
zugehören kann, sondern umgekehrt bestimmen die Menschen, welcher Nation sie
sich anschließen wollen. Das Durchgängige in universeller Volkssouveränität
und besonderer Nation, die sich dem Prinzip der Volkssouveränität verpflichtet
weiß, besteht gerade darin, daß die Substantialität der konkret-besonderen
Nation hinfällig wird, weil ihre Identität nur noch auf der Abstraktion
des freien Willensaktes beruht. Insofern liegt die Menschenfreundlichkeit des revolutionären
Volks- und Nationbegriffs gerade in dieser Abstraktion.
Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag im Rahmen einer gemeinsamen
Veranstaltung von Buntstift e.V., der Hessischen Gesellschaft für Demokratie
und Ökologie e.V. und der Gesellschaft für politsche Ökologie e.V.
"Wer ist das Volk? Deutsche Identität jenseits von Kleingartenidylle und
Großmachtgehabe". Ein Band, der alle Vorträge versammelt, ist in
Vorbereitung und kann ab Anfang Juni über die HGDÖ, Ostendstr. 30, 60314
Frankfurt, bezogen werden. D. Red.
1)Jean-Francois Lyotard, Memorandum
über die Legitimität, in: Peter Engelmann (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion.
Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 54 ff. (hier:
S. 56 ff., 63, 65).
2)Ebd., S. 67 ff.
3) Jürgen Gebhardt, Die Krise des Amerikanismus,
Stuttgart 1976, projiziert auf die amerikanischen Gründungsväter ein Verfassungsverständnis,
das ein Produkt erst des 20. Jahrhunderts ist.
4) Alexander Hamilton / James Madison / John
Jay, Der Föderalist, hrsg. von Felix Ermacora, Wien 1958, No. 84, S. 475 f.
5) Ebd., S. 473 ff., 476 f.
6) Zum Zusammenhang von demokratischen Verfahren
und Freiheitsrechten vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M.
1992, S. 109 ff.
7) Daß Rousseau die Französische
Revolution beeinflußt habe, wird in relevanter Sekundärliteratur gelegentlich
bestritten; z.B. Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte
des demokratischen Freiheitsbegriffs, 2. Aufl. Neuwied/Berlin 1968, S. 263 ff. Darauf
kann hier nicht näher eingegangen werden.
8) Es sei hier nur daran erinnert, daß
die Jakobinerverfassung unmittelbar nach ihrem Zustandekommen suspendiert wurde:
der Terror der Französischen Revolution war nur gegen die Verfassung zu inszenieren.
9) Jean-Jacques Rousseau, Erster Discours,
in: ders., Schriften zur Kulturkntik, hrsg. von Kurt Weigand, Hamburg 1955, S. 41.
10) Ebd.
11) Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Bd.
XI, S. 234 und Anm. Kants Schriften werden nach der Ausgabe n Weischedel, Frank-
furt/M. 1974 ff., der handschriftliche Nachlaß wird nach der Aka- demie-Ausgabe
(= AA), Berlin 1900 ff., zitiert. Vgl. auch Kant, R 8077 AA XIX S. 604.
12) Jean-Jacques Rousseau, Entwurf einer
Verfassung für Korsika, in: ders., Sozialphilosophische und polilsiche Schriften,
München 1981, S. 552.
13) Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social
ou principes du droit politique, Paris 1962, III, 4.
14) Rousseau, Entwurf einer Verfassung für
Korsika a.a.O., S. 509
15) Rousseau, Du Contrat Social, a.a.O.,
II, 6 Abs. 5 und 9. Vgl. a.a.O., II, 6 Abs. 6 und 8; III, 4 Abs. 2; III, 16 Abs.
1.
16) Rousseau, Entwurf einer Verfassung für
Korsika, a.a.O., S. 516.
17) Rousseau, Du Contrat Social, a.a.O.,
II, 10.
18) Ebd.
19) Ebd., IV, 7.
20) Diese Intention ist besonders herausgearbeitet
bei Niklas Luhmann, Grundwerte als Zivilreligion: Zur wissenschaftlichen Karriere
eines Themas, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1981, S. 293 ff.
21) Kant, Anthropologie in pragmatischer
Hinsicht, a.a.O., Bd. XII, S. 658. Zum folgenden vgl. Ingeborg Maus, Zur Aufklärung
der Demokratietlieorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im
Anschluß an Kant, Frankfurt/M. 1992.
22) Kant, Anthropologie, a.a.0., S. 399.
Hervorhebung I. M.
23) Ebd., S. 660.
24) Ebd., S. 658 f.
25) Kant, R 7769 AA XIX, S. 511; vgl. R
7415 AA XIX, S. 367.
26) Kant, R 8043 AA XIX, S, 590.
27) Kant, R 7847 AA XIX, S. 533.
28) Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge
totaler Herrschaft, München 1986, S. 371.
29) Kant, Metaphysik der Sitten, a.a.O.,
Bd. VI, S. 465.
30) Jean-Franois Lyotard, Memorandum, a.a.O.,
S. 70 f.
31) Kant, Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten, a.a.O., Bd. VII, S. 87 f., 59.
32) Kant, Über den Gemeinspruch: Das
mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, a.a.O., Bd.
XI, S. 131. Hervorhebung im Original.
33) Kant, Kritik der praktischen Vemunft,
a.a.O., Bd. VII, S. 193; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a.a.O., S. 62 f.
34) Kant, Über den Gemeinspruch,..,
a.a.O., S. 145.
35) Rousseau, Du Contrat Social, a.a.O.,
II, 1, Abs. 1.
36) Ebd., IV, 1, Abs. 2.
37) Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge
totaler Herrschaft, a.a.O., S. 371.
38) Ebd., S. 466.
39) Französische Verfassung von 1793,
Art. 4 des Acte constitutionel, Günther Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen,
Darmstadt 1975, S. 379.
aus: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/94
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt