"Nationale Selbstbestimmung" heute -
Vom virtuell revolutionärenen Prinzip zur Kannibalen-Parole

Nationalismen im modernen Sinne und Nationalstaaten sind erstens eine europäische Erfindung - und eine späte obendrein. Sie entstehen, grob gesagt, erst mit der Zerstörung der agrarisch-lokal bestimmen Gesellschaften im Zuge der ökonomischen Modernisierung und Industrialisierung. "Der Tatbestand, eine Nation(alität) zu besitzen, ist kein inhärentes Attribut der Menschlichkeit, aber es hat diesen Anschein erworben"(Ernest Gellner) Für die Schotten zeigte sehr schön Hugh Trevor-Roper: die Kultgegenstände des schottischen Nationalismus (Kilt, Dudelsack, Folklore) kamen erst nach der Union mit England (1707) in Mode und galten zuvor unter den Schotten selbst als "a sign of barbarism". Entsprechend tief standen die vermeintlich ursprünglichen Traditionen und Gebräuche im Kurs. Es handelt sich, wie meistens bei der nationalen Sinnstiftung im Augenblick des realen Substanzverlusts der Differenz zwischen den Menschen unterschiedlicher Herkunft nicht um authentische, sondern um "invented traditions"(Eric. J. Hobbesbawm). Alle Versuche, Nationen gleichsam als ewige Gegebenheiten darzustellen, sind nichts als Geschichtsklitterungen des 19. - also des nationalstaatlichen Jahrhunderts. Erst im Zuge der nationalstaatlichen Formierung und zu deren höheren Ehre und Legitimation "entdeckten" die zünftigen Nationalhistoriker des 19. Jahrhunderts, die vermeintlichen Wurzeln "ihres" Staats im frühen Mittelalter. Im Falle Deutschlands sind die teutonisierenden Konstruktionen geradezu grotesk: als staatsrechtlich relevanter Begriff taucht 'Deutschland' überhaupt erst im 19.Jahrhundert auf - in der Deutschen Bundesakte vom 8.7.1815. Vorher ist die Nation nur adjektivisch vorhanden; erst seit dem Kölner Reichsabschied vom 26.8.1512 und bis zum Untergang des Reiches (12.7.1806) hieß es offiziell und adjektivisch "Heiliges römisches Reich deutscher Nation". Die frühmittelalterlichen gentes, auf die sich alle Nationalitäten-Bastler gerne berufen, waren jedoch ethnisch gemischt und lebten oft und lange unter "fremdstämmischen" Herren und Herrscherdynastien. Und zu den objektiven Determinanten des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und - nur ansatzweise - staatlichen Zusammenlebens der Menschen zwischen Mittelalter und 18. Jahrhundert konnte die Nationalität schon allein deswegen keine wichtige Rolle spielen, weil diese Gesellschaften, die ihre Truppen oft und gerne aus "Ausländern" rekrutierten, um den eigenen Bevölkerungsbestand zu schonen, in einem strikten Sinne anational waren. Die Oberschichten, allen voran der Adel, orientierten sich an gesamteuropäisch sich an gesamteuropäisch generierten Handlungskodizes, Kulturmustern und Moden; oft sprachen sie die Sprache "ihres" Volkes nicht oder nur unzureichend. Für das Volk, für die Unterschichten also, hörte die Welt buchstäblich am Dorfrand auf. Und die Angehörigen der sehr dünnen Mittelschicht, die allein "Nationalität" als Abgrenzungs- und Anerkennungsmerkmal hätte ausbilden können, verkehrten untereinander lateinisch oder kommerziell - auf jeden Fall eher nach kosmopolitisch-universalen Standards als nach nationalen.
Zwar gelang in ganz Europa nirgends die Gründung eines homogenen Nationalstaats, aber in den meisten Fällen waren die Minderheiten doch so klein oder so assimillationswillig gegenüber der eben installierten Staatsnation, daß gravierende Konflikte nur vorübergehenden Charakter hatten.
Ganz anders lagen die Verhältnisse in Ost- und Südosteuropa. Hier brach das Prinzip "nationaler" Selbstbestimmung nicht einfach ein. Es stürzte einen halben Kontinent ins voraussehbare Chaos, dessen offener Ausbruch mit Mühe und Not solange verhindert wurde, wie autoritäre Regimes regierten. Die Versuche, im Osten und Südosten Europas nach 1918, das Kriterium der Nationalität zur Staatsbildung heranzuziehen, mußten scheitern, weil in diesen Räumen ethnisch, kulturell und sprachlich vielfach durchmischte Völker lebten und leben. Soziale Bindungen, ökonomische Strukturen und politische Beziehungen folgten bis dahin in diesem Regionen entlang vielerlei Traditionen und Prinzipien - nur nicht dem nationalen. Das vollkommen willkürliche nationale Prinzip erzeugte zusammen mit den höchst bunten Nationalstaaten in jedem dieser Staaten eines oder mehrere Minderheitenprobleme oder "Anschluß-" bzw. "Befreiungs"- Bewegungen. Mit der Unterwerfung des vielfältigen lokalen und regionalen Zusammenlebens unter dem Primat des Nationalen und Nationalstaatlichen wurden die Konflikte auf dem Balkan dramatischer und unlösbarer als je zuvor. Die übergestülpten nationalen Ordnungskonzepte satter "Nationalstaats"-Realisten bereiteten dem nationalistischen Populismus und der vulgär-völkischen Demagogie den Weg als Herrschaftsinstrumente. Die heute substanzlose Chiffre "nationale" Selbstbestimmung erschlich sich den Rang eines allgemeinen Volksvorurteils. Die sehr vernünftige Frage dagegen, die Habermas - soziologisch solide codiert, aber politisch wirkungslos - bereits in den 70er Jahren stellte, ob nämlich Großgruppen wie "Völker", "Gesellschaften" und "Nationen" unter den herrschenden Verhältnissen überhaupt willens und in der Lage sind, sozial, politisch, wirtschaftlich und ökologisch verträgliche "kollektive Identitäten" auszubilden, fällt nach wie vor und immer unterhalb die Wahrnehmungsgrenze.
Die vermeintlich objektiven Abgrenzungskriterien (ethnische Herkunft und Sprache) lösen sich in einem Raum wie dem Balkan schnell in nichts auf und werden damit frei verfügbar für fast beliebige nationalistische Ansprüche und Zurechnungen. Nationalistische Serben behaupten heute, der Kroate Tito habe eine Million "Serben" zwangskroatisiert, die nun endlich (Was sonst?) für die verdiente "Re-Serbisierung" frei würden. Frei?! Alle anderen Konfliktparteien können mit dem Billig-Chip "national" mühelos Rechnungen präsentieren. Bezahlt wird - metaphorisch und real - mit Blut. In den 20er Jahren gab es eine von den Regierungen hochbezahlte Riege von Fachleuten, die sich mit nichts anderem befaßten als mit "Methoden der Nationalitätenzählung in Östereich-Ungarn und in der Tschechoslowakei". Die subkutanen Führungsagenturen wurstelten nebenher ganz unakademisch im Namen "nationaler" Selbstbestimmung mit Dynamit, Brownings und Häckler-Koch oder SIG. Für beide - Nationalitätenzähler und Nationalitäten-Dynamiter - wird es noch viel zu tun geben, wenn die Vergangenheit weiter als Zukunft irrlichtert.
Auch die Sprache bildet - entgegen dem naiven, national getrimmten Denken des 19. Jahrhunderts - dort kein objektives Abgrenzungskriterium mehr, wo Mehrsprachigkeit die Norm abgibt und es mithin nur vom Willen der Individuen oder den mehr oder weniger zufälligen Einflüsterungen, denen sie ausgesetzt sind, abhängt, welcher (Sprach-)Nation sie angehören _wollen_. Als Mitglied der polnisch-deutsch-litauischen Oberschicht z.B. konnte man sich sprachlich, kulturell oder politisch je nach Opportunität an mindestens drei Nationalitäten positiv orientieren - an der polnischen, der deutschen oder der litauischen; und negativ besetzt blieben wenigstens zwei, die jüdische und die russische; für die östlichen Teile der ehemaligen Habsburger Monarchie gilt Ähnliches, ebenso wie für große Bereich des Balkans. Der US-Soziologe W.B. Pittsburg stellte schon 1882 fest: "Der einzige Weg, um zu entscheiden, ob ein Individuum zu einer oder der anderen Nation gehört, ist, es zu fragen."
Wenn man heute daran gehen will, den Osten und Südosten vom Baltikum bis zum Balkan zu reorganisieren, so fragt sich zuerst nach welchen Prinzipien und Standards: Demokratie? Menschenrechte? Soziale Gerechtigkeit? Kapitalinvestitionen? Absatzmärkte? Industrielle Reservearmee? Sicherheitskordon gegen Flüchtlingsströme aus dem Osten und Süden? Diese Räume und die damals darin lebenden Menschen nochmals nach nationalen Mustern und obendrein borniert.nationalstaatlich gruppieren zu wollen, heißt nur, ein Bürgerkriegsprogramm zu verkleiden. Um jeden 17-jährigen Litauer, Serben, Kroaten, Kosovo-Albaner etc. ein Gewehr in die Hand zu drücken, brauch man ein paar Dutzend Millionen Dollars, willige Waffenverkäufer und nationalistisch eingefärbte Propagandisten; und schon hat man eine todsichere Garantie dafür, daß keines der wirklichen wirtschaftlichen, sozialen, politischen, kulturellen und ethnischen Probleme auch nur in den Horizont gerät, in dem Lösungen, die diesen Namen verdienen, möglich sind. Wer die Lösung der Konflikte und Krisen innerhalb des jugoslawischen Bundesstaates mit der Perspektive einer "nationalstaatlichen" Neuverteilung des Territoriums betreibt, spielt am Ende des 20. Jahrhunderts das 19. und den Beginn des 20. nochmals durch. Bei dieser Reprise folgt allerdings auf die Tragödie nicht die TV-Farce, sondern die reale Katastrophe: weder die wirtschaftliche Ausbeutung und politische Unterdrückung kleiner Gruppen durch eine sich selbst bestellende "Staatsnation", noch der "nationalstaatliche" Territoriumswahn jedes sich "national" kostümierenden Bevölkerungsteils vermögen in dieser wie in vielen (nicht allen!) Regionen mehr, als an der staatsfixierten Spirale von Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung weiterzudrehen. Bei allen Respekt vor dem Mut einzelner Akteure und politisch oppositioneller Organisationen zwischen Riga und Belgrad: was außer Armeen, Milizen, Uniformen und geschmacklosem Mummenschanz von Nationalstaatlichkeit (Hymnen, Fahnen und Gebete etc.) haben sie denn bisher an wirklich Entwicklungsfähigen hervorgebracht? Ist alles, was man so vernimmt, um mehr als die berühmte (aber völlig unzureichende) homöopathische Nuance besser als der in der Tat hoffnungslos unhaltbar gewordene russisch-sowjetisch bzw. serbo- jugoslawisch beherrschte status quo? Wie eine Lösung der Konflikte aussehen könnte, ist nicht einmal zu ahnen. Und alle Politiker, Diplomaten, Staatssekretäre und deren publizistische Reserveleute, die das Gegenteil daherreden ("Anerkennen", "EG-Intervention", "Blauhelme etc.), sind schon Opfer ihres "Realismus". Eines ist sicher: wenn man die Rechte aller Menschen und Bevölkerungsgruppen, die auf den Territorien des heutigen Jugoslawien und der heutigen Sowjetunion leben, egalitär berücksichtigen und schätzen will, kann man die Länder nicht nach Maßgabe der Kannibalen-Parole angeblich national abgrenzbarer "Selbst"bestimmungsrechte aufteilen: das Selbst autonomer Subjekte bleibt so auf der Strecke; es agieren Individuen wie Ochsen am Göpel, und nur die Peitsche wechselt die Hand. Mit ambitionierter Nationalstaatlichkeit und Nationalismus werden heute berechtigte Ansprüche auf individuelle Autonomie und kollektive Emanzipation niedergemäht.
Ludi Lodovico, aus: "Nationale Selbstbestimmung" heute - Vom virtuell revolutionärenen Prinzip zur Kannibalen-Parole zitiert nach links 256 (September 1991)

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Most recent revision: April 07, 1998

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