Der Sinn von nationaler Identität
Jeder spricht von Identität, doch kaum einer weiß, was das Wort heißen
soll. Noch nebulöser wird der Sinn, wenn Identität das Beiwort national
hinzugefügt wird. Warum muß man einen solch schwammigen Begriff gebrauchen?
Weil der Inhalt, den er bezeichnet, diskreditiert ist und deshalb verkleidet werden
muß. Das Wort "nationale Identität" verdeckt den Inhalt, um
den es wirklich geht: _Nationalismus_. Der Nationalismus gehörte zur ideologischen
Grundausstattung der europäischen Nationalstaaten des 19.Jahrhunderts. In Deutschland
allerdings ist er spezifisch ausgeprägt worden: nicht allein im Denken, sondern
in realen Taten. Der Nationalsozialismus sprengte aber die Grenzen seiner Entstehungsbedingungen
- die Grenzen des alten Europa. Bezeichnenderweise liegt Auschwitz, das Synonym
für die nazistische Barbarei, in der Mitte von West und Ost. Der Nationalsozialismus
war ideologisch und real eine transnationale Angelegenheit - ein politischer Körper,
dessen Kopf und Rückgrat das Deutsche Reich bildete. Er war ein Produkt des
ausgewachsenen deutschen Nationalismus und zugleich mehr als das: Er wollte eine
Neuordnung Europas als Vorstufe zur Neuordnung der Welt. Der nationalsozialistische
Traum von der Weltherrschaft wurde wegen der gewaltigen Anstrengung der von Vernichtung
bedrohten Völker nicht Wirklichkeit. Dafür mußten sämtliche
Kräfte mobilisiert werden. Der wirksame Nenner, auf den sich der Widerstandskampf
bringen ließ, hieß: nationale Befreiung von nationalsozialistischer
Fremdherrschaft. Die klügsten politischen Kräfte in Europa wollten die
Beseitigung des Nationalsozialismus mit einer Änderung der Gesellschaftsordnung
verbinden. Sie unterlagen 1945. Obwohl nach 1945 transnationale Einheiten unterschiedlicher
gesellschaftlicher Natur in Ost- und Westeuropa entstanden, blieb der Nationalismus
eine entscheidende Kategorie in den Köpfen der Menschen - und sei es in der
abgemilderten Form der Identifikation mit einem kollektiven Schicksal. Ein Widerspruch,
der alle offiziellen Ideologien durchzog, besteht in der Unterscheidung zwischen
gutem und schlechtem Nationalismus - viele halten Patriotismus für gut, Nationalismus
für schlecht. Es handelt sich aber um ein identisches Problem, das hinter dem
schwammigen Wort "Nationale Identität" verborgen wird. Die Welt von
heute wird in den Kategorien von gestern begriffen - bösartig gesagt: _Im Deutschland
von heute ist "Nationale Identität" der schamhafte Ausdruck für
"Volksgemeinschaft"._
Das Reden von der "nationalen Identität" soll eine kollektive Befindlichkeit
rehabilitieren, die zu Recht in Mißkredit geraten war. Deswegen muß
der Status quo ante wieder hergestellt werden, eben die Welt, bevor der Nationalismus
seine angebliche Unschuld im Nationalsozialismus verlor. Am sperrigsten auf dem
Weg in diese Scheinwelt positiver Gefühle erweist sich das, was im Universum
der Vernichtungslager Auschwitz, Sobibór, Treblinka geschah. Es gibt brutale
Versuche, das Geschehen zu leugnen, die sogenannte "Auschwitz"-Lüge.
Dieses Verleugnen gibt es außer in Deutschland, z.B. auch in Frankreich: die
Rehabilitation nationalistischer Schemata ist ebensowenig spezifisch deutsch wie
es der Nationalismus gewesen ist; spezifisch deutsch ist die Ausprägung der
realen Taten, die Verleugnung dieser Taten danach und die Selbststilisierung zum
Opfer. Ernst Nolte, der mit seinen Thesen den sogenannten Historikerstreit auslöste,
führt diese Methode der Verleugnung von Wirklichkeit vor: nicht absolutes Leugnen,
sondern Relativierung. Auschwitz wird zur "asiatischen Tat" stilisiert,
also verlagert: Was haben wir schon mit Asien zu tun? Allerdings, so geht die nationalistische
Logik weiter: Aus Asien werden wir bedroht! Tatsächlich steht bei Nolte, daß
Auschwitz offensichtlich aus Angst vor dem Archipel GULag geschah. Die Verwechslung
von Raum und Zeit bei einem Historiker ist schon erschütternd, noch mehr aber
entsetzt, wie bruchlos an die nationalsozialistische Ideologie angeknüpft wird.
Deutschland ist nach 1917 weder von der Sowjetunion bedroht worden, noch bestand
die Gefahr, daß wehrlose Menschen in den zwanziger Jahren von asiatisch aussehenden
Rotarmisten umgebracht würden. Hitler begann schon während des russischen
Bürgerkriegs, als der weiße Terror mit rotem Terror beantwortet wurde,
seine Ideologie von Deutschland als Opfer zu entwickeln. Das deutsche Volkstum,
wie er es nannte, stand in Gefahr, von außen zerstückelt - siehe Versailler
Vertrag - und von innen zersetzt zu werden - siehe Judentum und Bolschewismus. Wer
"Mein Kampf" von Adolf Hitler liest, erkennt die Grundfigur der Hitlerschen
Propaganda wieder: Die nationalistische Identität des deutschen Volkes ist
bedroht; aus diesem Grund müssen wir rücksichtslos durchgreifen - nach
innen und nach außen.
Hitler, Rosenberg und Goebbels schlossen eine ideologische Lücke des deutschen
Nationalsozialismus, indem sie ihn universalisierten: Der Nationalsozialismus war
ein Übernationalismus. Der Faschismus als terroristische Veränderung der
Klassengesellschaft auf dem Boden der Klassengesellschaft selbst ist ein europäisches
Phänomen. Im Unterschied zu den anderen Faschismen griff der deutsche Nationalsozialismus
real zur Weltmacht, und dieser Griff war untrennbar mit der Massenvernichtung großer
Teile der slawischen Völker und zugleich mit der massenmörderischen Auslöschung
der europäischen Juden verbunden. _Deutsche_ griffen nach der Weltmacht - um
dies zu verschleiern, benutzte die nationalsozialistische Propaganda die nationalistische
Ideologie des Opfers: Seine Bedroher - der Erbfeind Frankreich, das perfide Alibion
und hauptsächlich der jüdische Bolschewismus, der von der jüdisch-
plutokratischen Wallstreet finanziert werde, müssen zerschlagen und vernichtet
werden. Dieser Griff zur Weltmacht - ich benutze die Formulierung des Historikers
Fritz Fischers - war bewußte Wiederholungstat. Fischer löste vor knapp
zwanzig Jahren schon einen Historikerstreit aus, als er die Kriegsschuldfrage von
1914 - ohne Wenn und Aber - als geklärt bezeichnete: Deutschland griff eben
nach der Weltmacht. Nur die Methoden waren den Nationalsozialisten nicht barbarisch
genug. Vor allem hat man den inneren Feind am Leben gelassen, die Juden und die
Roten, die dann, im November 1918, dem bedrohten Zweiten Reich den Dolchstoß
in den Rücken versetzten. Wenn an schon von nationaler Identität spricht,
von Identifikation mit dem Deutschen Reich, dann muß man sich auch mit allem
identifizieren: mit dem Griff zur Weltmacht und den nationalsozialistischen Methoden.
Die Zerschlagung des Zweiten wie des Dritten Reiches läßt sich nur als
Folge dieser mißglückten Weltmachtpläne begreifen; warum sich damit
identifizieren?
Der Liberalismus im nachnationalsozialistischen Deutschland inklusive der aufgeklärten
Teile der Sozialdemokratie haben versucht, an die guten deutschen Traditionen anzuknüpfen.
Darin liegt ein richtiger Protest gegen eine falsche Traditionslinie, die von den
felltragenden Germanen über Luther und Nietzsche bis zu Hitler gezogen wurde.
Aber in guter Absicht hat man sich auf das Feld des Gegners begeben: Gutes und Schlechtes
in der deutschen Geschichte gehören zusammen; die Auflösung dieser Verschlingung
kann nur eine gesellschaftliche, keine selber nationale sein. Nationalismus, auch
wenn man ihn nationale Identität nennt, _bedeutet immer eine falsche Identifikation
des sich ohnmächtig fühlenden Einzelnen mit einem Kollektiv, zu dem der
Einzelne scheinbar von Natur, nämlich durch Geburt gehört". Dieses
Kollektiv ist real, insofern es Völker gibt, und fiktiv zugleich, weil die
Vorstellung vom Kollektiv scheinbar einheitlich ist, die Gesellschaft, deren Teil
man ist, in Wirklichkeit aber differenziert ist. Um diesen Schein von Einheit herzustellen,
bedarf es des Ausschlusses von Menschen, die nicht mit der eigenen Nation identisch
sein sollen. In der Geschichte der europäischen Nationalstaaten, also den letzten
zweihundert Jahren, hat es eine Wunderwaffe gegeben, nationale Identifikation herzustellen,
_den modernen Antisemitismus_. Wer nationale Identität will, muß Exklusivität
wollen, Ausschluß von anderen; potentiell wird mit dem Gerede von nationaler
Identität der Antisemitismus aus seinem offiziellen Schattendasein auf die
Tagesordnung des politischen Alltags gesetzt: Fellner, Korschenbroich, Waldheim...
Jürgen Habermas hat sehr treffend diesen Vorgang, der von Fachhistorikern eingeleitet
wurde, als Entsorgung der Vergangenheit bezeichnet. Aber es handelt sich nicht um
eine akademische Fachfrage, sondern um eine politische Machtfrage, wie Geschichte
interpretiert wird. Eine Anpassung an den Gegner bedeutete Habermas' Forderung nach
einem Verfassungspatriotismus - wohl, um auch einmal positiv zu werden. Schon vom
dem zu Unrecht als preußischen Staatsphilosophen verschrieenen Hegel kann
man lernen, daß Gesetz und Gefühl getrennt werden müssen. Das Grundgesetz
kann man einsehen, es als Kompromiß in der geschichtlichen Lage der vierziger
Jahre für gut oder für schlecht halten - aber warum ein Gesetzeswerk lieben?
Mann kann es nur falsch lieben, durch falsche Identifikation ebenso wie beim Schwammwort
nationale Identität - wirklich lieben kann man nur Individuen, und das ist
nach der Erkenntnis Freuds ein asozialer Vorgang. Hinter dem Geschwätz von
nationaler Identität aber verbirgt sich etwas ganz anderes, das, was Habermas
mit dem "Verfassungspatriotismus" sicherlich nicht will: Die hohle Phrase
nationaler Identität beutet die Sehnsucht der Menschen nach Geborgenheit in
einer bedrohlichen Welt aus. Die Parole von der nationalen Identität spielt
die Sicherheit gegen die Unsicherheit einer widerspruchsvollen Wahrnehmung der Wirklichkeit
aus.
aus: Detlef Claussen, Vergangenheit mit Zukunft. Über die Entstehung einer
neuen deutschen Ideologie in: Die neue deutsche Ideologie Einsprüche gegen
die Entsorgung der Vergangenheit hrg. von W.Eschenhagen
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt