VERGANGENHEIT VERLEGEN
Über die Wiederherstellung nationaler Größe im Haus Ullstein
Von Maria Zens

Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen. (Johann Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen.)
Erziehung zur Nation
"Um eine Nationalerziehung kommen die Deutschen nicht herum, so fraglich es auch erscheinen mag, wer sie denn leisten sollte." (1) Gemeint ist die Erziehung zur Nation, und so fraglich ist denn auch wieder nicht, wer sie leisten soll; zumindest Lehrbücher stünden bereit. Beklagt Herbert Kremp in der "Welt" den gewundenen Weg, auf dem man sich "immer noch" der Nation nähere, so bietet der Ullstein/Propyläen-Verlag unter der Ägide seines Cheflektors Rainer Zitelmann das Werkzeug, mit dem sich der gewundene Pfad begradigen läßt. Was empfielt dieser gesinnungstreue junge Mann als Mittel gegen deutschen "Selbsthaß" und die ange- schlagene deutsche "Gefühlsbalance" (Kremp)? Normal sollen "wir Deutschen" wieder werden, und das heißt "so wie früher". Die Geschichtsrevision des ehemals jüdischen, dann, im Dritten Reich, "Deutschen" Verlags (2) gliedert sich ein in die bereits als "Kulturkampf" (3) apostrophierte Auseinandersetzung um die Gestaltung des "neuen Deutschland", die die Entwertung konstitutiver Elemente der Bundesrepublik (alt) betreibt: der Sozialstaat, die Linie außenpolitischer Zurückhaltung und die Integration in westliche Norm- und Entscheidungszusammenhänge werden abgebaut. Die Vereinigungskrise wirkt dabei als Katalysator der kulturellen und politischen Regression.

Wieder in Deutschland
Abgelöst werden auch die Kollektivbegriffe: Die "nationale Einheit" fungiert als Integrationssymbol für eine desintegrierte "Gesellschaft". Das Versprechen eines "natürlichen" Zusammengehörigkeitsgefühls soll Akzeptanz für individuelle Einbußen und Opfer herstellen. Dabei werden im wesentlichen zwei Referenzpunkte der "Neubegründung" genannt: die Vereinigung und das "Standort"- Argument. Gemeinsam ist beiden, daß sie Opfer und persönlichen Verzicht einfordern, die Nation aber gleichzeitig schöner, größer und stärker werden lassen sollen. Im Kontext des ersteren kaschiert das nationale Argument die politischen Handlungsdefizite angesichts sozialer Konfliktlagen, im Kontext des zweiten bereitet es Massenentlassungen vor und begleitet Produktivitätssteigerung.
Einige der normativen Positionen des (Zeit-)Geschichtsrevisionismus sind dabei längst in der politischen Wirklichkeit angekommen. Die Vergangenheitssignale, die der Bundeskanzler setzt, sei es in Bitburg oder Berlin, die Erhebung Ernst Jüngers in den Stand eines seherischen Politikberaters und Steffen Heitmanns in den eines Präsidentschaftskandidaten, sind deutlich genug. Vor allem, wenn sie gegen die Folie der symbolischen Leerstellen betrachtet werden: wie z.B. des Kanzlers Weigerung, an den Trauerfeiern für die Opfer von Mölln und Solingen teilzunehmen.
Die regressive Sinnstiftung hat politische Konsequenzen. Sie kompensiert - jedenfalls scheinbar - den Mangel an zustimmungsfähiger Politik. Gleichzeitig soll sie die Akzeptanz für den Abbau bundesrepublikanischer Errungenschaften fördern: namentlich von Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, die zugunsten einer losgelösten Idee von Staatlichkeit zurückgedrängt werden, die ihre Legitimation aus der Idee der Nation erhält.
Die "Verachtung der Innenpolitik" (4) geht einher mit neuen außenpolitischen Orientierungen, denn durch die Besinnung auf die Nation kann die Bundesrepublik auf ihrem Weg nach Deutschland nicht nur von ihrer "Identitätsneurose" ( Hans-Peter Schwarz), sondern auch von der "Machtvergessenheit" (ders.) geheilt werden (5). Die "Angst vor der Macht" (6) jedenfalls, die Gregor Schöllgen im Ullstein-Verlag diagnostizierte, scheint zu schwinden.
Gegen den "geschichtspolitischen Stumpfsinn"
In diesem Szenario bewegt sich der geneigte Historiker hin zum Politischen, um den allgemeinen "geschichtspolitischen Stumpfsinn" aufzupolieren, den Eckhard Fuhr am 24. September in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" für die Ablehnung Steffen Heitmanns verantwortlich macht.
Zitelmann, als "Kristallisationsfigur einer Gruppe junger Revisionisten" (7), hat sich und seinen Mitstreitern mit dem Wechsel aus dem universitären Elfenbeinturm ins Verlagsleben die Plattform für eine weiterreichende moralisch-nationale Aufrüstung geschaffen. Ausgangspunkt des revisionistischen Projekts ist die Schaffung einer neuen historischen Kontinuitätslinie vom Bismarck-Reich zum vereinigten "neuen Deutschland", welche die Totalitarismus-These überholt, ohne die Totalitarismus- Diskussion noch führen zu müssen. Die Vergleichbarkeit ist nicht mehr das Thema schon eher, welches der totalitären Systeme bei diesem Vergleich besser abschneidet.
Im sog. Historikerstreit waren "Normalität" und "Normalisierung" noch Begriffe, an denen sich heftige Kritik entzündete. Heute bieten sie sowohl den Orientierungsrahmen für außenpolitische Begehrlichkeiten einer vollsouveränen Bundesrepublik als auch das Passepartout für die Geschichtsbilder, an denen die Historiker unter Zitelmann stricheln. "Normalisierung" heißt für sie zu allererst, die Nation zu ihrem quasi-natürlichen Recht kommen zu lassen. Der Staat ist (wieder) Ausdruck nationaler Identität, in ihm kommt die Nation zu sich selbst, ohne daß dazu eine Entscheidung vonnöten wäre. Der contrat social als die Grundlage staatlicher Verfaßtheit in der Moderne wird ausgeblendet; die vorbewußte Größe der "Nation" als einer "Schicksalsgemeinschaft" immunisiert sich gegen jedwede Kritik. Paradoxer Kulminationspunkt dieser Vorstellung ist die von Tilman Mayer erhobene Forderung, den Nationalstaat unter Verfassungsschutz zu stellen (8).

Rückgriffe
Der geschichtspolitische Rückgriff auf das Kaiserreich, der innenpolitische Rückgriff auf die Nation als Grundlage des Gemeinwesens wird komplettiert durch den außenpolitischen Rückgriff auf die geostrategische "Mittellage" und die deutliche Distanzierung von der bundesrepublikanischen "Westbindung". Außenpolitisch bedeutet dies auch die Rückkehr zu den Konzepten der nationalstaatlichen Machtpolitik; das nationale Interesse kann - zum eigenen Vorteil - mit dem anderer Nationen koordiniert, aber nicht durch übernationale Ziele, Institutionen oder Zusammenschlüsse transzendiert werden. Folgerichtig sind europäische Einigung und Vereinte Nationen bloße "Irrwege" oder "Utopien".

Einige Akteure
Bei der kulturellen Umwertungsdebatte handelt es sich um einen Diskurs, der Veränderungen des politischen Klimas einerseits aufnimmt, andererseits verstärkt. Ihn an einzelnen festzumachen bleibt problematisch; trotzdem erscheint es sinnvoll, auf einige Exponenten einzugehen, gerade um personelle und institutionelle Verflechtungen aufzuzeigen. Aufschlußreich sind nicht zuletzt die Diffusionsprozesse zwischen Wissenschaft, politischer Publizistik, Journalismus, Politikberatung und Elitenrekrutierung. Rainer Zitelmann erst seit dem Frühjahr vergangenen Jahres Lektor beim Verlag Ullstein/Propyläen hat in dieser recht kurzen Zeit den Verlag auf Vordermann gebracht (9).
Eine Säule im Herbstprogramm ist sicherlich Ernst Nolte: Der große alte Mann des Revisionismus wiederholt in seinem neuesten Werk "Streitpunkte" seine These vom Kausalnexus zwischen Archipel Gulag und nationalsozialistischem Genozid und antizipiert "künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus" (10). Die Lesehilfe des Hauses Ullstein: "Wenn in der 'Schlußbetrachtung' nicht nur dem Bolschewismus, sondern auch dem Nationalsozialismus 'Größe, Untaten und Tragik' zugeschrieben werden, so bestätigt sich dadurch der in der langen, nicht minder informativen wie gedankenreichen Einleitung erörterte Begriff der Objektivität, der nur durch das Vergehen der Vergangenheit realisierbar wird." Abgesehen von der fragwürdigen Leistung von Begriffen wie "Größe, Untaten und Tragik" - die Objektivität der historischen Rekonstruktion wird also an der Bewertung historischer Ereignisse gemessen; die Tatsache, daß in beidem gleichermaßen "Schlechtes" (und "Gutes") gesehen wird, wird bereits als Ausweis von "Objektivität" verstanden, die Frage, ob es sich um eine angemessene Beschreibung historischer Wirklichkeit handelt, gar nicht mehr gestellt. Die Gesinnungshistoriographie, die sich hierin decouvriert steht im Gegensatz zu dem pseudo-positivistischen An- spruch und zum Begriff der "Historisierung", wie er von Martin Broszat vorgeschlagen und von Zitelmann et al. in ebenso ostentativer wie bis zur Unkenntlichkeit verschlankter Weise vereinnahmt wurde (11).
Karlheinz Weißmann, einer der Newcomer der historischen Zunft, wurde 1989 von der Technischen Universität Braunschweig für eine reich illustrierte Arbeit über "Schwarze Fahnen, Runenzeichen" promoviert, die im wesentlichen die Selbsteinschätzung rechter Akteure referiert und die Forschungslage zur politischen Symbolik ignoriert, da sie unüberschaubar sei. Entsprechend naiv ist ein Versuch, die Ästhetik des SS-Runenzeichens nachzuweisen: "Von völkischen Abzeichen unterschied sich dieses Symbol schon durch die geschickte Proportionierung und Anordnung, die eine aggressive Dynamik zum Ausdruck brachte." (12) Nichstdestotrotz avancierte er mit seinem neuesten Werk "Rückruf in die Geschichte" (verlegt bei Ullstein) nicht nur zum junghistorischen Shooting Star der neurechten Klientel (13), sondern unterhielt auch eine Tagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing, wo er als konservative Hoffnung des ehemaligen Regierungssprechers Klaus Bölling (der die Veranstaltung organisierte), auftrat (14).
Christian Strieflers "Kampf um die Macht" (15), will erklärtermaßen die "gedanklichen Furchen", die Ernst Nolte gezogen hatte, breittreten. Bis heute, so der Verlag über Strieflers Beitrag zur Neuorientierung, sei "der Machtkampfvon Kommunisten und Nationalsozialisten nicht vorurteilsfrei dargestellt worden". "Nachgewiesen" werden nicht nur die "antibolschewistischen", sondern auch die "sozialistischen" Beweggründe nationalsozialistischer Politik. Der Stellenwert dieser Publikation wird auch gleich erläutert: "Der Autor korrigiert die Geschichtsschreibung", weil "die dazu neigt, die Rolle der KPD zu verharmlosen" (Verlagsankündigung). Striefler, nach dem Examen Forschungsassistent bei Michael Wolffsohn, ist heute Grundsatzreferent des sächsischen Innenministers und stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Heinz Eggert.
Hans-Helmuth Knütter hat es sich zur lebenslangen Aufgabe erwählt, den "Antifaschismus als politischen Kampfbegriff" unschädlich zu machen. Knütter ist seit 1972 Professor am Seminar für Politische Wissenschaft der Universität Bonn. Das Institut, in der Zunft bisher nicht gerade als progressiv geltend, muß sich z.Z. damit auseinandersetzen, daß Knütters Umtriebe in der Vergangenheit - u.a. die Betreuung eines (inzwischen aufgelösten) Arbeitskreises, der Vorträge mit bekannten Rechtsextremisten veranstaltete - sogar im betulichen Bonn auf öffentlichen Unwillen stießen. Knütters neueste Publikation rechnet ab mit der "Fiktion der multikulturellen Gesellschaft". In "Westbindung" beschäftigt er sich mit der "Deutschfeindlichkeit im westlichen Ausland", die bereits das Material für eine schmale, im MUT-Verlag erschienene Monographie hergab (16).
In ihrem Band " Die braune Elite" (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) wollen Rainer Zitelmann, Ronald Smelser und Enrico Syring "mancherlei gängige volkspädagogische Klischees über nationalsozialistische Führungspersönlichkeiten" relativieren. Wie das so ist, mit Führungspersönlichkeiten, denen wir mit Distanz begegnen: "Manch einem der hier skizzierten NS-Führer kann ein gewisser Idealismus nicht abgesprochen werden, wenngleich auch ausgesprochene Verbrechertypen wie etwa Odilo Globocnik unter ihnen waren." In solcher Perspektive lassen sich politische Eliten zwischen Führungspersönlichkeit und Verbrechertyp lokalisieren und individualpsychologisierend aus historischen Strukturen entfernen (17).
Schule hat begonnen
Auch das muß man den Neuhistorikern lassen: ein funktionierendes Zitier- und Rezensionskartell haben sie bereits auf die Beine gestellt: Syring gibt mit Zitelmann und Smelser einen Sammelband heraus, Syring bespricht einen anderen Zitelmann in der FAZ - Zitelmann publiziert mit Uwe Backes und Eckhard Jesse, Backes und Jesse publizieren bei Zitelmann. Das geht sogar über's Eck: Backes rezensiert Weißmann in der "Welt" (im übrigen durchaus distanziert). Ansgar Graw, Redakteur beim SFB und Autor des MUT- Verlags (18), lobt im "Ostpreußenblatt" vom 17. Oktober 1992 Weißmanns "fulminant-intellektuelle Kampfansage an die tonangebenden Eliten" und darf im Gegenzug in "Westbindung" gegen die emanzipatorische Geschichtswissenschaft zu Felde ziehen. Michael Wolffsohn attestiert dem ersten Band der "Braunen Elite": "Das ist keine Verharmlosung, sondern Versachlichung." (19) Wolffsohns ehemaliger Mitarbeiter Christian Striefler publiziert bei Zitelmann. Hans-Helmuth Knütter saß im Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung. Ludwig Watzal, Redakteur der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" (der Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament"), beklagt in "Westbindung" den "Irrweg von Maastricht" (20). Karlheinz Weißmann beschwört im April 1993 in "Aus Politik und Zeitgeschichte" die "Wiederkehr eines Totgesagten: Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts"; in der gleichen Ausgabe findet sich ein Beitrag Tilman Mayers der wiederum auch in "Westbindung" mit "Fragmente(n) zur Bestimmung der deutschen Nationalstaatlichkeit" vertreten ist. Die Mannen um Zitelmann stilisieren sich dabei als Expertokraten des Zeitgeistes (21): so wie für sie 1989 die Nachkriegszeit geendet hat, beginnt die Historiographie mit der je eigenen Dissertation. Dabei gerinnt ihnen ihre relative "Jugend" zur epistemologischen Größe. Das Insistieren auf diesem Selbstporträt als historiographischer E-Jugend verbindet sich mit dem Gestus des Tabubruchs - dabei werden keine neuen Positionen und kaum neue Erkenntnisse präsentiert. Lediglich die Dreistigkeit, mit der man sich über kollektive Wissensbestände hinwegsetzt und gleichsam politisch zielstrebig wie methodisch freischwebend in die Geschichte zurückruft, verblüfft.
Des Historikers Beweggrund läßt sich ex negativo erschließen, wenn Karlheinz Weißmann Gesine Schwan vorwirft: "Ihr geht es eben darum, zu verhindern, daß die Deutschen ein, gesundes Selbstvertrauen zurückgewinnen." (22) Sein, Weißmanns Anliegen ist es, so darf man wohl schließen, "den Deutschen" bei diesem Unterfangen Hilfestellung zu leisten. Gregor Schöllgen stimmt da zu: "Wer wäre berufener die Frage nach dem Stellenwert des neuen Deutschland in der Welt kompetent zu beantworten, als die Historiker?" (23) - Historiker machen Angst weg. Diesem eher unkomplizierten Orientierungspunkt sind dann sukzessive Verschiebungen des innen wie außenpolitischen Koordinatensystems untergeordnet.
Der "Rückruf in die Geschichte" re-animiert längst überwunden geglaubte Versatzstücke konservativer Kulturkritik (wie den Gegensatz von Kultur und Zivilisation) und verkauft sie als neue Glaubenssätze.
Paradoxerweise tritt so neben die gebetsmühlenhafte Betonung der "wissenschaftlichen Präzision" ein profunder Anti-Intellektualismus. Damit ist nicht nur die Ablehnung des Intellektuellen als einer gesellschaftskritischen Instanz, als die man ihn in der Bundesrepublik bis in die 80er Jahre hinein verstanden hat, verbunden, sondern auch die Auflösungsarbeit am historisch informierten kritisch-rationalen Erkenntnismodell. Damit keine Mißverständnisse entstehen: Es wird keineswegs die Diskussion um die "positivistisch halbierte Rationalität" wiederaufgenommen, sondern das Denken wird - am Stammtisch keine Seltenheit - in den Bauch verlegt, dessen Tiefsinn nach Wiederkäuen klingt: "Zu den Eigenheiten des deutschen Nationalcharakters gehört auch, daß die Deutschen dauernd über sich nachdenken." (24) Manchmal aber auch gerade nicht: "Gerade in der breiten Bevölkerung überdauerte während der Jahrzehnte der Spaltung ein Gefühl, auch ein Wissen um die Zusammengehörigkeit; je geringer das Reflexionsniveau, desto selbstverständlicher der Patriotismus." (25) "Wissen" ist hier also etwas Vorbewußtes, das der Überprüfung in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung nicht zugänglich ist, nur so erhält die Formel "mehr Wissen durch weniger Denken" überhaupt so etwas wie eine Hilfs-Logik.
Mit diesen scheinbar so volksnahen Überlegungen hätte Weißmann durchaus Chancen, zum Redenschreiber des Kohlschen Kandidaten für das Bundespräsidentenamt zu werden, denn auch der Politiker Steffen Heitmann wundert sich über die Intellektuellen: "Es gibt eine intellektuelle Debattenlage, die nicht unbedingt dem Empfinden der Mehrheit der Bürger entspricht. ... Und dazu gehört das Thema Ausländer, dazu gehört das Thema Vergangenheit Deutschlands; die Nazi-Vergangenheit, dazu gehört das Thema Frauen." (26) Das - unterstellte - "Volksempfinden" wird zum Orientierungspunkt der Normalisierung erklärt. Hier paßt sich auch die Kritik Hans-Helmuth Knütters ein, der nicht nur theoretisch die gesellschaftsorganisierende Potenz von Vorurteilen rühmt, sondern auch nicht müde wird, gegen das Feindbild vom "hedonistischen Intellektuellen" anzugehen (27).
L'amour propre: Die Liebe zu sich selbst
Wir lernen hier, daß Denken zu Selbstzweifeln führt, die der notwendigen Identitäts- und Kontinuitätsstiftung im Wege stehen. Das "gesunde Selbstbewußtsein", das die Deutschen wiedererlangen sollen, erfordert Selbstliebe statt des angeblich so weit verbreiteten, kritisch infizierten Selbsthasses, der den unbefangenen Zugang zu der eigenen, von "Entgleisungen" bereinigten Vergangenheit versperrt. Der auto-erotischen Geschichtsbetrachtung entspricht die Abgrenzung vom anderen, die Identitätsfindung durch Autonomisierung des Selbst und Negation des Fremden, universaler und supranationaler Wertzusammenhänge oder Institutionalisierungen. Was Weißmann als Anforderung an die geistig-moralische Lage der Nation formuliert, vertritt Heitmann ebenso, er sagt es nur schlichter.
Daß die Liebe der Deutschen zu ihrer Geschichte so problemlos nicht zu haben ist, weiß man auch im Hause Ullstein. Zunächst sind einige kosmetische Operationen vonnöten. Dabei gibt man sich nicht mehr mit der Relativierung der nationalsozialistischen Barbarei zufrieden.
Wenn sich auch die "erste Schuld" noch nicht recht leugnen läßt, die "zweite" will Manfred Kittel so nicht gelten lassen (28). In seiner Dissertation, gefordert von der Konrad-Adenauer-Stiftung, angenommen von Horst Möller (29), gedruckt bei Ullstein, weist er "mit wissenschaftlicher Präzision" (Verlagsankündigung) nach, daß in den Gründungsjahren der Bundesrepublik feste getrauert und sich geschämt wurde: von Verdrängung keine Spur (mehr). Die Funktion des "Anti-Giordano" ist eine zweifache: zum einen wird der deutschen Nation das beruhigende Gefühl vermittelt, ihrer moralischen Pflicht genüge getan zu haben, zum anderen soll der Blick geschärft werden für die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit.
Die Frage der "Singularität" der nationalsozialistischen Verbrechen läßt das Ullstein-Verlagsprogramm hinter sich. Daß Auschwitz und dessen deutschnationale Möglichkeitsbedingungen als Reflex auf außerdeutsche Handlungen verstanden werden können, steht zumindest für den Nolte-Jünger Weißmann außer Frage: So hat nicht nur Auschwitz seinen Ursprung im Bolschewismus, sondern auch die "NSDAP war ihrem Ursprung nach eine radikale Oppositionsbewegung gegen 'Versailles' und dann erst gegen 'Weimar'" (30).
Der Glaube an den eigenen unbefangenen und vorurteilslosen Blick erlaubt dem Historiker, das Gute im Bösen zu sehen und als Desiderat der Wissenschaft anzumahnen. Was Zitelmann der Forschung bis Zitelmann vorwirft, ist, daß sie die positiven Seiten des Nationalsozialismus nicht angemessen hervorgehoben hätte; "Nicht zufällig wurden jene Elemente, die offenbar von breiten Teilen der Bevölkerung als die 'positiven' Seiten des Nationalsozialismus wahrgenommen wurden, erst spät von der Forschung 'entdeckt'. Das gilt besonders für die nationalsozialistische Sozialpolitik, lange Zeit ein Stiefkind der Zeitgeschichtsforschung." (31) Mit dem kalkulierten Fehlgriff der anachronistischen Anwendung eines Begriffs von sozialer "Chancengleichheit", die Adolf Hitler im Sinn gehabt haben soll, schafft es Zitelmann, die hermeneutische Differenz zum Nationalsozialismus zu nivellieren. Und auch hier wird, wie bei Weißmann, die Empfindung der historischen Akteure zur Erkenntnisgrundlage des Historikers: Aus Mangel an objektiv Gutem muß die subjektive Empfindung herhalten, die nicht nur die Erkenntnis strukturieren soll, sondern deren Bewertung gleich mitübernommen wird. Das Verfahren offenbart sich hier als das genaue Gegenteil von dem, was es zu sein vorgibt: statt Historisierung und Objektivierung eröffnet es den distanzlosen, ja apologe- tischen Anschluß an die Vergangenheit.
Diese Stilisierung des vermeintlich Positiven, die Relativierung des unleugbar Scheußlichen gehen einher mit der Umwertung zentraler Positionen der Forschung. Aus einer semantischen Umgestaltung von Modernisierungs-und Revolutionsbegriff, die beide aus einem sozialgeschichtlichen Kontext in einen ahistorisch-ideengeschichtlichen transponiert werden, ergibt sich das Handwerkszeug, mit dem die NS-Diktatur konsensstiftend in eine "nationale" Kontinuität integriert werden kann (32): "Die NSDAP war überhaupt die erste deutsche Partei, die eine klassenübergreifende Integration vollzog. Modernität war der Schlüssel ihres Erfolges, und solche Modernität bildete auch nach Hitlers Machtergreifung ein wesentliches Moment nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik." (33)
In seiner Dissertation geht Rainer Zitelmann ganz unbefangen auf die Suche nach Hitlers Selbsteinschätzung. Wie defizitär ein rein ideengeschichtlicher Ansatz bleiben muß, der seine historischen Kenntnisse aus dem Bewußtsein der Akteure bezieht, ohne diese auf die Realgeschichte zu beziehen, wird hieran deutlich. In speziellen Fall ermöglicht er, Hitler als Sozialrevolutionär erscheinen zu lassen, der auf der Grundlage seines Wollens und seines Selbstverständnisses interpretiert wird und nicht auf der historischer Ereignisse. Da ist es nur konsequent, wenn Weißmann auch die Kriegsschuldfrage als historisch und methodisch uninteressant vom Tisch wischt (34).
Die Einordnung des Verbrechens betreibt auch Steffen Heitmann - "gegen die intellektuelle Debattenlage" - will sagen: den bis dato gültigen gesellschaftlichen Konsens. Es sei an der Zeit, so Heitmann im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung", "dieses Ereignis", d.h. den Genozid, "einzuordnen" (35). Seine Methode ist die Banalisierung der Singularität: "Ich glaube, daß der organisierte Tod von Millionen Juden in Gaskammern tatsächlich einmalig ist - so wie es viele historisch einmalige Vorgänge gibt."
Ein Rückruf wie Donnerhall
Die historische Kontinuitätsstiftung geschieht also unter tendenzieller Auf- oder Umwertung des Nationalsozialismus und Rückgriff auf die glorreicheren Tage des Deutschen Kaiserreichs. Die DDR hingegen, prägend für immerhin über 16 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger, ist schon heute nurmehr ein Treppenwitz: "Das neue Deutschland hat überraschend viel mit dem alten, dem Bismarck-Reich, gemein (...); die DDR erscheint schon jetzt als ein völlig peripheres geschichtliches Phänomen." (36)
Im Rekurs auf Gottfried Benn inszeniert Weißmann den Rückgriff auf den "normalen deutschen Nationalstaat": " Wer Begriffe wie 'Held', 'Ehre', 'Preußentum', 'Reich' aus dem Wortschatz getilgt wissen wollte, der wandte sich nicht allein gegen die nationalsozialistische Weltanschauung, die damit Schindluder getrieben hatte, sondern wandte sich überhaupt gegen das bis dahin normale Verständnis der Geschichte des von Bismarck geschaffenen deutschen Staates." (37) Zentrale nationalsozialistische Ideologeme erscheinen hier problemlos auf "Normalität" und damit Wiederverwendbarkeit zurückzufahren zu sein. Die Klassifizierung "Schindluder Treiben" verharmlost nicht nur geschichtliche Kontinuitäten, sondern ordnet die nationalsozialistische Diktatur ein als eine Art verzeihlichen Exzess. Die damit verbundene posthume Glorifizierung des Kaiserreichs, die beschworene Rückkehr des Wilhelminismus findet ihr synthetisches Symbol in der Neuerrichtung seines größten und scheußlichsten Monuments am Deutschen Eck.

Verlegung des Sonderwegs
Das Wiederanknüfen an preußische Traditionen verlangt nicht nur, die Zeit von 1871 bis (zumindest) 1918 zu reliabilitieren, sondern auch, die Einbindung der Bonner Republik in den Westen als undeutschen Irrweg zu apostrophieren. Der "Sonderweg" wird also kurzerhand in die Zeit nach 1949 verlegt. Ullsteins Kronzeuge hierfür ist Panajotis Kondylis (38). Seine Argumentation ist eine ebenso paradoxe wie inzwischen vielzitierte: zum einen hebt Kondylis hervor, daß Deutschlands Weg so anders nicht gewesen sei - verbunden mit dem scharfsinnigen Hinweis, daß die Wege Englands und Frankreichs schließlich auch vollkommen verschieden gewesen seien -, die strukturellen Unterschiede zwischen der verspäteten Nation Deutschland und den westlichen Demokratien werden also banalisiert. Parallel zu Weiß- und Zitelmann wird hier das Defizit an Demokratie und die Hybris der Macht, die in die nationalsozialistische Dikatur geführt hatten, als eine Option unter vielen verharmlost; gleichzeitig hebt Kondylis die "Überlegenheit deutschen Geistes", das Besondere der geographischen Lage Deutschlands und die daraus resultierenden Hegemonialansprüche hervor. Kein Wunder, daß seine Abrechnung mit dem Sonderweg als "politischem Kampfbegriff", nicht nur den ideologischen Ausgangspunkt für die Auflösungsarbeit an der Westbindung bildet, sondern auch für das gesamte Projekt einer neuen Historie, als deren Telos der vereinigte deutsche Nationalstaat (post festum) bestimmt worden ist.
Daß dabei noch um die Hegemonie bei der Interpretation der Adenauer-Ära gestritten werden wird, verspricht Karl-Eckhard Hahn: "Unter neuen, nicht mehr nur sicherheitspolitischen Vorzeichen steht auch der Streit der Traditionen wieder auf der Tages- ordnung." (39) Gemeint ist damit die Konstruktion von historischen Alternativen zur Westbindung auch in den Gründungsjahren der Bundesrepublik, die die Kontinuitätslinie aus der zur 'Rhöndorfer' provinzialisierten Republik zu den außenpolitischen Traditionen vor 1949 ermöglichen soll (40). Der westlichen Bundesrepublik (alt) hingegen wird keinerlei handlungsbefähigender Erinnerungswert attestiert; sie wird als "Auszeit der Geschichte" begriffen, als oktroyierter Dämmerschlaf, aus dem der Prinz Vereinigung das neue Deutschland wachküßt.

Rücknahme der Erziehung: Deutschland als der "gute Wilde"
Der Begriff der "Umprägung" ist charakteristisch für die Vorstellung von der aufgezwungenen und letzlich "widernatürlichen "Re- Education" (41), die als Fortsetzung des militärischen Siegs mit pädagogischen Mitteln erscheint: "Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges übernahmen nicht nur die militärische und politische Kontrolle über das Reich (!), sie betrieben auch eine kalkulierte Bestrafung und Demütigung des besiegten Feindes." (42) Vor allem die kritische Nachkriegsintelligenz wird als das Produkt "westlichen Einflusses" (und damit eigentlich "undeutsch") an den Rand der Nationalgeschichte gestellt. Bei den Herausgebern von "Westbindung" wirkt das nachgerade so, als ob die westlichen Siegermächte kurzen Prozeß gemacht hätten: "Der sich frei entwickelnde Reststaat des Reiches, die Bundesrepublik, erhielt in seinem Innern eine Verfassung und Sozialordnung nach westlichem Muster und wurde nach außen in die westliche Verteidigungsgemeinschaft eingebunden." (43) "Bundesrepublik" erscheint lediglich als Apposition zu "Reststaat" - Legitimität wird ihr nur als Transitorium zugestanden.
Zur Kritik der angeblichen Indoktrination Deutschlands durch den "Westen" gehört nicht nur der skizzierte Anti-Intellektualismus, sondern auch die Ablehnung mehrheitsdemokratischen Gesellschaftsverständnisses. Mit Oswald Spengler formuliert Weißmann, die Nation werde durch eine Minderheit repräsentiert, und welche das sei, sei "die eigentlich politische Frage innerhalb der Gesell- schaft" (44). Nicht die Gleichheit der Individuen vor dem und im Staat ist Zweck der gemeinschaftlichen Übung, sondern die Selbsterhaltung der staatlichen Konstruktion, unabhängig vom Nutzen für die Individuen: "Während man sich betreuend irgendwelchen Minderheiten zuwendet, verrottet das Allgemeine, das der Staat ist. Eine gewandelte Einstellung zum Staat gehört deshalb zu den dringendsten Forderungen 'politischer Bildung'. Es müßte, ohne die nötige Nüchternheit zu verlieren, jener 'unpersönliche Stolz' wiedergewonnen werden, ohne den sich noch kein Gemeinwesen in der Geschichte halten konnte." (45) Dem Staat wird so eine Existenzberechtigung jenseits des Gesellschaftskonsenses zugesprochen: Staatlichkeit erscheint als ein Wert an sich, der seine Begründung aus dem nicht hintergehbaren Prinzip der Nation gewinnt.

Neue deutsche Außenpolitik: östlicher und mächtiger
Die um sich greifenden Wiederbelebungsversuche am preußischen Tugendkanon erinnern an die Abmahnung, die Bundesrepublik solle mit der Vereinigung östlicher und protestantischer werden. In Verbindung mit den neu-alten geopolitischen Konzepten klingt das erst recht nach Drohung: "Deutschland ist östlicher geworden, es darf sich nicht allein Westeuropa verpflichten. Es ist als östliche Flügelmacht eine Brücke für Ost und West. "(46)
Weißmann vermerkt begeistert, im November 1989 habe man in Berlin einen Eindruck davon gewinnen können, "was es heißt, wenn die Nation bei sich selbst ist" (47), - doch da will sie offenbar nicht bleiben, wenn man die außenpolitischen Überlegungen, die auf die Auflösung der "Westbindung" abheben, ernst nimmt. Der Rückgriff auf die Geopolitik als methodisch-politischen Referenzrahmen ist eindeutig. Zitelmann/Weißmann/Großheim meinen, daß (fast) alle umdenken müssen, denn selbst konservative Wissenschaftler erlagen "dem Irrtum, daß sich außen-, sicherheits- und bündnispolitische Festlegungen zwingend aus bestimmten gesellschaftspolitischen Präferenzen und Optionen ergäben" (48). Das schränkt die Vorstellung ein, die Mitglieder einer Gesellschaft (bzw. deren Repräsentanten) könnten sich über außenpolitische Optionen verständigen und Entscheidungen treffen. Nicht die (westlichen) gesellschaftlichen Normvorstellungen sind die Grundlage dafür, wie man sich in der Welt verhält, sondern die pseudo-deterministischen Vorgaben der geographischen Lage: "Da die Bedeutung geopolitischer Gegebenheiten geleugnet wurde und sogar der Begriff der "Interessen" fragwürdig erschien, wurde das Verhältnis Deutschlands zum Westen vorwiegend auf der Ebene innen- und gesellschaftspolitischer Fragestellungen diskutiert." (49) Das soll sich ändern, Grundlage der Außenpolitik soll wieder Machtpolitik sein, und vor allem in Hinblick auf den ungeliebten europäischen Einigungsprozeß will man sich die Option des nationalstaatlichen Alleingangs offenhalten: Deutschland "muß lernen, daß Gewalt in den internationalen Beziehungen - als letztes Mittel der Politik - legitim ist. ... Und Deutschland muß schließlich fähig sein, das vorläufig Undenkbare zu denken, nämlich trotz der katastrophalen Abschnitte in der deutschen Geschichte zwischen 1914 und 1945 wieder ein Akteur der Weltpolitik zu sein - sollte der europäische Integrationsprozeß scheitern oder in einer unbefriedigenden Richtung verlaufen." (50)
Weißmann hatte bereits die Geopolitik als Orientierungswissenschaft ausgerufen (51); Thies beklagt zwei "Handicaps" der deutschen Außenpolitik: das "Verdrängen des Faktors Machtpolitik" und die "verlorenen achtziger Jahren" (52). Schuld daran ist vor allem die Einbindung Deutschlands in die westliche Gemeinschaft, die der historischen "Mittellage" nicht gerecht werde. Die "Risiken" einer "Totalwestintegration" werden zum totalitären Irrweg einer geschichts- und machtvergessenen Elite stilisiert: "Dieses Bekenntnis (Habermas, d. Verf.) zur 'westlichen Wertegemeinschaft' hat damit fast den Charakter einer auf die totalitäre Durchdringung der gesamten Gesellschaft gerichteten Utopie gewonnen." (53) Die Unverfrorenheit, mit der man hier den politischen Kampfbegriff einsetzt, um die aufklärerischen Elemente der alten Bundesrepulik in die Ecke zu stellen, ist schon erstaunlich. Die neue Ostorientierung findet ihre Entsprechung in der Abwertung des deutsch-französischen Verhältnisses. Gemessen am Idealbild der Bismarckschen Bündnispolitik konstatiert Thies als grundlegende "Schwäche" der deutschen Europa-Politik, daß die politische Klasse Angst habe vor dem "Spiel mit mehreren Bällen". Anti französische Ressentiments lassen grüßen, und Deutschland soll germanischer werden: "Gewiß ist die enge deutsch-französische Zusammenarbeit von großer Bedeutung. Aber darf man ihr so uneingeschränkt vertrauen, wie Helmut Kohl es tut? Muß Deutschland nicht in gleicher Weise versuchen, die Zusammenarbeit mit Großbritannien zu gestalten, das dem Norden und Osten Deutschlands mentalitätsmäßig viel näher liegt?" (54) Die eher rüde Gangart, welche die bundesdeutsche Regierung gegenüber Frankreich in der jüngeren Vergangenheit angeschlagen hat - nicht zuletzt angesichts der Umgestaltung des EWS -, zeigt, daß Politik und Publizistik den gleichen Zeitgeist atmen.
Thies' Rückruf in die Geschichte ist preußisch: "Die außenpolitische Elite, die es einmal gab, ist teilweise durch Emigration, Holocaust und den Verlust von Berlin als Metropole verlorengegangen." Die vergleichende Verharmlosung, die in dieser Reihung steckt, wird nur noch übertroffen von der Wehmut mit der Thies den Wegfall der "Großagrarier, des Adels oder des Militärs" als außenpolitischer Elite beklagt. So anachronistisch es heute erscheint, die Herrschafttseliten Preußens als Idealbilder wieder auferstehen lassen zu wollen, es paßt in das Sinnkabinett der preußisch-großdeutschen Geschichtssimulationen. Der Umzug nach Berlin gewinnt dadurch "Vollzugscharakter", denn Deutschland "muß mit dem Umzug von Regierung, Parlament und Teilen der Funktionselite nach Berlin versuchen, mit seiner Vergangenheit ins reine zu kommen" - und Anschluß finden anbessere Zeiten (55).
Den Vollzug der Einheit (56) als Kopulation mit der Vergangenheit zu ermöglichen, das ist die selbstgestellte Aufgabe eines solchen Verlages - Oswald Spenglers Diktum zur Methode erhebend: Natur soll man wissenschaftlich behandeln. Über Geschichte soll man dichten.
Anmerkungen
1) Herbert Kremp, Rückkehr zu den Interessen, in: "Die Welt ", 27.8.1993.
2) Otto Köhler zeichnet die stufenweise Zerschlagung des Verlags nach: Ein deutscher Verlag, in: "Konkret", 10/1993, S. 57-59.
3) Eckhard Fuhr in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ), 29.9.1993; vgl. auch die Replik von Antje Vollmer in der "tageszeitung" vom darauffolgenden Tag.
4) Vgl. Thomas Assheuer, Das konservative Projekt, in: "Frankfurter Rundschau" (FR), 15.10.1993.
5) Hans-Peter Schwarz, Das Ende der Identitätsneurose, in: "Rheinischer Merkur", 7.9.1990; ders., Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbessessenheit zur Machtvergessenheit, Stuttgart 1985.
6) Gregor Schöllgen, Angst vor der Macht, Die Deutschen und ihre Außenpolitik, Frankfurt/M. und Berlin 1993.
7) Karl Heinz Roth, Verklärung des Abgrunds. Zur nachträglichen Revolutionierung der NS-Diktatur durch die Gruppe um Rainer Zitelmann, in: "1999", 1/1992, S. 7-11, hier: S. 10.
8) Tilman Mayer, Fragmente zur Bestimmung der deutsche Nationalstaatlichkeit, in: Rainer Zitelmann/Karlheinz Weißmann/Michael Großheim (Hrsg.), Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland, Frankfurt/M. und Berlin 1993, S. 501-521, hier: S. 508 f. Im folgenden als "Westbindung" zitiert.
9) Eine Auswahl aus der Reihe "Ullstein-Report" liest sich so: Hans-Helmuth Knütter, Die Faschismus-Keule. Das letzte Aufgebot der Linken; Jochen Kummer, Ausländerkriminalität. Legenden und Fakten zu einem Tabu; Wemer Bruns, Sozialkriminalität in Deutschland Heinrich Lummer, Asyl; Jens Motschmann, Die Pharisäer. Die evangelische Kirche, der Sozialismus und das SED-Regime,
10) Ernst Nolte, Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus, Frankfurt/ M. und Berlin 1993.
11) Siehe Uwe Backes/Eckhard Jesse/Rainer Zitelmann (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. und Berlin 1990.
12) Karlheinz Weißmann, Schwarze Fahnen, Runenzeichen. Die Entwicklung der politischen Symbolik der deutschen Rechten zwischen 1890 und 1945, Düsseldorf 1991, hier: S. 172.
13) Karlheinz Weißmann, Rückruf in die Geschichte. Die deutsche Herausfordervng: Alte Gefahren - neue Chancen, Frankfurt/M. Und Berlin 1992. Konrad Löw liest für das "Deutschland-Magazin", 11/1992, Weißmanns Werk "nicht ohne Schmunzeln" und lobt "Überzeugungskraft der Gedankenführung und Reife des Urteils", allein, daß Weißmann "keine zielorientierten Impulse gibt", läßt ihn unbefriedigt zurück.
14) Vgl. die Berichterstattung durch Thomas Assheuer, Wer hat Angst vorm deutschen Dämon?, in: FR, 23.3.1993.
15) Christian Striefler, Kampf um die Macht. Kommunisten und Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik, Frankfurt/M. und Berlin 1993.
16) Hans-Helmuth Knütter, Deutschfeindlichkeit. Gestern, heute und morgen...?, Asendorf 1991. Deutschfeindlichkeit im westlichen Ausland, in: Westbindung, S. 421-437. Antifaschismus als innen- und außenpolitisches Kampfmittel, Bornheim 1991; Wanderungsbewegungen - ein Faktum, Multikulturelle Gesellschaft - eine Fiktion, St. Augustin 1993.
17) Ronald Smelser/Enrico Syring/Rainer Zitelmann (Hrsg.), Die braune Elite II, Darmstadt 1993, Zitate sind dem Vorwort entnommen. 1989 war der erste Band erschienen, herausgegeben von Smelser und Zitelmann.
18) Von Ansgar Graw ist im MUT-Verlag erschienen: Königsberg morgen. Luxemburg an der Ostsee, Asendorf 1993. (Ko-Autor des Bandes ist Wilfried Böhm.)
19) Michael Wolffsohn, Hitler, seine Helfer und seine Helfershelfer, in: "Die Welt", 30.1.1989.
20) Ludwig Watzal, Der Irrweg von Maastricht, in: Westbindung, S. 477-500.
21) Rainer Zitelmann über sich und den Zeitgeist im Interview mit der "Jungen Freiheit", Juli/August 1993: "Vielleicht bin ich, was die Zukunft anbelangt, auch deshalb optimistisch, weil bei aller Kritik, die ich auch erfahren habe, doch im großen und ganzen eine sachgerechte Auseinandersetzung mit meinen Forschungsergebnissen erfolgt ist. Hätte ich meine Hitlerbücher aber in den siebziger Jahren veröffentlicht, wäre dies vermutlich doch anders gewesen. Da sehen Sie doch, daß in den letzten Jahren manches ruhiger und sachlicher geworden ist."
22) Karlheinz Weißmann, Auf dem Sonderweg verirrt, in: "Rheinischer Merkur", 28.2.1992.
23) Schöllgen, a.a.O., S, 117 f.
24) Weißmann, Rückruf, S. 142.
25) Ebd., S. 10.
26) Steffen Heitmann, "Süddeutsche Zeitung", 18./19.9.1993.
27) Knütter, Deutschfeindlichkeit ini westlichen Ausland, a.a.O., S. 433.
28) Manfred Kittel, Die Legende von der "Zweiten Schuld". Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer, Frankfurt/M. und Berlin 1993. Kittel wendet sich gegen Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987.
29) Heute Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, wo Manfred Kittel an der Edition der Goebbels-Tagebücher mitwirkt.
30) Weißmann, Rückruf, S. 86.
31) Rainer Zitelmann, Das Erbe der Diktaturen, in: "Rheinischer Merkur", 18.10.1991.
32) Neben Zitelmanns Dissertation Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, Stuttgart 3 1991 vor allem Rainer Zitelmann/Michael Prinz (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991; einzelne Beiträge zu den beiden Sammelbänden Die braune Elite, a.a.O.
33) Weißmann, Rückruf, S. 86f.
34) Ebd., S. 80.
35) Heitmann, a.a.O.
36) Weißmann, Rückruf, S. 49.
37) Ebd., S. 26.
38) Panajotis Kondylis, Der deutsche "Sonderweg" und die deutschen Perspektiven, in: Westbindung, S. 21-37.
39) Karl-Eckhard Hahn, Westbindung unter Vorbehalt: Bonner Diplomaten und die Deutschlandpolitlk von 1949 bis 1959, in: Westbindung, S. 151-172, hier: S. 167.
40) Vgl. auch Rainer Zitelmann, Demokraten für Deutschland. Adenauers Gegner - Streiter für Deutschland, Frankfurt/M. und Berlin 1993.
41) In extenso vorgeführt von Eberhard Straub, "Verwestlichung" als Erziehungsprogramm, in: Westbindung, S. 323-342. Im übrigen von Günther Zehm (alias "Pankraz") im "Rheinischen Merkur", 20.8.1993, als "brillanter Essay" gerühmt.
42)
Karlheinz Weißmann, Die Zeichen des Staates. Deutsche Symbolik und nationale Identität, in: "MUT", Nr. 243, November 1987, 56-71, hier 64.
43) Westbindung, Einleitung, S. 11.
44) Weißmann, Rückruf, S. 19.
45) Ebd., S. 159 f.
46) Mayer, a.a.O., S. 514.
47) Weißmann, Rückruf, S. 137.
48) Westbindung, Einleitung, S. 14.
49) Ebd.
50) Jochen Thies, Perspektiven deutscher Außenpolitik, in: Westbindung, S. 523-536, hier. S. 527. Thies ist Ressortleiter Außenpolitik der "Welt", zuvor war er Chefredakteur des "Europa-Archivs".
51)
Weißmann, Rückruf, S. 65.
52) Thies, a.a.O., S. 535.
53) Westbindung, Einleitung, S. 10.
54) Thies, a.a.O., S. 531.
55) Ebd., S. 532 und 534 f.
56) Vgl. dazu auch Karl Feldmeyer, Die unvollzogene Einheit, in: FAZ, 2.9.1993.

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Most recent revision: April 07, 1998

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