Die Verwandlung der Barbarei in Kultur
Zur Rekonstruktion der nationalsozialistischen Verbrechen im historischen Gedächtnis
Exzesse haben das Angenehme daß man durch sie das Gedächtnis
verliert und zu allererst die Erinnerung an die Exzesse (Paul Morand)
Die nationalsozialistischen Verbrechen haben sich in Täter und
Opfer gleichermaßen eingeprägt, jedoch in unterschiedlicher Weise. Die
Opfer, eingesperrt im Terrorsystem der Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager,
oft jahrelang der alltäglichen Todesdrohung ausgeliefert, rangen nicht nur
ums bloße Überleben, sondern um den Bestand ihrer Persönlichkeit.
Um sie zu bewahren, mußten sie das Geschehen für bedeutungslos erklären.
Die Täter schienen um ihre Persönlichkeit wenig gebangt zu haben, versprach
doch der kollektive Aufschwung individuelle Vorteile. Dennoch konnten sie ihre Taten
nur verüben, weil ihre Vorstellungskraft auf dem Weg zur Tat versagte.
Der Mensch kann nur ein bestimmtes Maß an Grauen aufnehmen. Überschreitet
er diese Schwelle, verliert die Realität an Wirklichkeit, sie wird irreal.
Wo der Exzeß zur Normalität gerinnt, bewegt sich der Mensch jenseits
dessen, was einmal Erfahrung genannt wurde. Er eignet sich die Welt nicht an, sondern
tritt aus dem Kontinuum der Alltagserfahrung heraus, in einen externalisierten Bereich,
der sich jeglicher Integration widersetzt. Die Monstrosität und Sinnlosigkeit
der Verbrechen zerstören das Gedächtnis, bevor es entstehen kann. Sie
überwinden Vorstellungskraft und Spontaneität. Der Krieg gegen das menschliche
Leben beginnt mit der Bemächtigung der Wahrnehmung. Sie ist geradezu seine
Bedingung.
Der Angriff auf die Wahrnehmung umfaßte alle. Dezidierte Gegner des Systems
begriffen schnell, was vor sich ging. Die propagandistische Präparierung der
künftigen Täter, Mittäter, Mitläufer und Wegseher und die Verwirrung
der Opfer durch gezielt produzierte widersprüchliche Gerüchte gingen einher.
Die Tat nahm eine Qualität und Ausmaße an, daß kaum jemand, der
davon unterrichtet wurde, es glauben mochte. Der Ermordung der Juden sollte ihre
Tilgung aus dem Gedächtnis folgen.(*) Die Tat blieb unvollendet. Proklamiert
wurde sodann die Stunde Null.
Der Nationalsozialismus hat die Menschen über seinen Untergang hinaus in den
Bann geschlagen: in der Dialektik von Erinnern und Vergessen. Waren die überlebenden
Opfer so offensichtlich gezeichnet von den Qualen, die sie erlitten, schien das
Geschehene in den Tätern keine Spuren hinterlassen zu haben. Sie fühlten
sich "nicht schuldig". Das 12 Jahre währende tausendjährige
Reich war zusammengebrochen, die Vergangenheit unter einem Schuttberg versteckt.
Doch wie die im Boden Roms eingegrabenen Spuren der untergegangenen Römischen
Reiche kann "im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen",
bleibt "alles irgendwie erhalten"(1). Allerdings errichteten Schock und
Verleugnung schier unüberwindliche Barrieren. Der Verweigerung der Erinnerung
auf Seiten der Täter stand die Traumatisierung der Opfer gegenüber, die
Erinnerung gerade derjenigen, die sich dagegen sträubten, erforderte, um selbst
die andrängenden Bilder, die ihnen das Weiterleben zur Fortsetzung der Hölle
zu machen drohten, einmal vergessen zu können. Den Opfern blieb Anerkennung
versagt, weil die Täter ihre eigene Schuld nicht anerkannten.
Die Täter verspürten keine Scham. Gerade daß sie nicht unter
dem Getanen litten, verwendeten sie als Beweis ihrer Unschuld.(2) Sie waren schon
zur Zeit der Tat unfähig, "das Unsägliche, das sie begingen
oder dessen Zeugen sie waren, als entsetzlich zu erleben, das Grauenhafte als grauenhaft
wahrzunehmen".(3) Es hat sie nicht gerührt. Darum beharrten sie darauf,
keine Verantwortung zu tragen. Dem Gedächtnis ist die Grundlage entzogen: seine
emotionale Besetzung. Die Abspaltung der Affekte, die "Gefühlsstarre"(4)
ging der Tat voraus und bildete die Grundlage fortgesetzter Verleugnung.(**) Die
umstandslose Identifikation mit dem Neuen, den Siegermächten und dem Wiederaufbau,
galt den Deutschen als weiterer Garant ihrer Unschuld. Sie betrauerten nicht einmal
den Verlust ihres Führers, an den sie 12 Jahre lang geglaubt hatten, sondern
versuchten die Niederlage durch manische Beseitigung der Ruinen ungeschehen zu machen.
Die affektive Bindung an das nationalsozialistische System wurde aufgegeben. Die
Nürnberger Prozesse erfüllten dadurch, daß sie nur einzelne wenige
Haupttäter verurteilten, auch die unfreiwillige Funktion, daß die anderen
diesen die Verantwortung zuschieben konnten. Die eigene Beteiligung wurde geleugnet
oder verharmlost, die Entnazifizierungsprogramme als Zumutung aufgefaßt.
Doch blieben die Zeugen und Zeugnisse der Tat. Sie verlangten Rechenschaft der Täter.
Aber die Deutschen, die nach der Befreiung durch die KZs geführt wurden, wendeten
sich mit heftigen Bewegungen ab. Sie wollten nicht sehen. Der Anblick des Grauens
übersteigt tatsächlich jede Fassungskraft. Ist die Abwendung nur eine
Fortsetzung der Gefühlsstarre, die jene Taten erst möglich gemacht hat,
so mag die schockhafte Konfrontation vielleicht ungeeignet sein, von der Verleugnung
abzubringen. Der Schrecken, in den die Leichenberge versetzen, vermag die Entrealisierung
nicht rückgängig zu machen, nichts von den Affekten, die seinerzeit abgespalten
wurden, zurückzuholen und mit den Folgen des eigenen Handelns oder Unterlassens
in Einklang zu bringen. Die Frage des Erinnerns und Bearbeitens besitzt schon in
der Monstrosität der Tat ihre Barriere.
Hätte es zur Rekonstruktion der affektiven Seite des in seinem Ursprung zerstörten
Gedächtnisses in Bezug auf die Tat erst einer Konstruktion bedurft, so wäre
hinsichtlich der Identifikation mit dem nationalsozialistischen System eine Offenlegung
des "lustvollen Beteiligtseins"(7) Voraussetzung einer Loslösung
von der inneren Verbindung mit den nationalsozialistischen Werten gewesen. Beide
Anteile unterlagen gleichermaßen der Verleugnung.
Die Konfrontation mit der Schuld konnte nur durch Abwehr vermieden werden. Diese
Abwehr ist historisch konstitutiv und selbst in Phasen eines stärker ausgeprägten
Diskurses der Erinnerung blieb dieser immer relativ, gegen das Vergessen-Wollen
gerichtet, und in diesem Zusammenhang genötigt, sich selbst rechtfertigen zu
müssen. Wer vergessen wollte, befand sich durchaus im Einklang mit der objektiven
Entwicklung. Nicht nur, daß der Einzelne sich im Programm des Wiederaufbaus
wiederfand, "Erinnerung, Zeit, Gedächtnis [werden] von der fortschreitenden
bürgerlichen Gesellschaft selber als eine Art irrationaler Rest liquidiert".(8)
Es ist nicht einmal allein der Verstocktheit der Deutsche zuzurechnen, daß
sie das Gedächtnis schleifen ließen, zumal ihnen die Alliierten aus Angst
vor politisch unerwünschten Folgen "eine wirkliche Niederlage nicht gönnten".(9)
Dabei wurde an eine auch nur ansatzweise Genugtuung für die Opfer nicht gedacht,
der Philosemitismus, der den wenigen Überlebenden entgegenschlug, war nur die
Verkehrung der alten Ablehnung oder Gleichgültigkeit und hatte sein Gegenstück
in den entwürdigenden Befragungspraktiken der Entschädigungsstellen. Mußten
die Opfer dort um ihre Anerkennung gegen Personen kämpfen, die die unsäglichen
Torturen, die sie zu erleiden hatten, zu "Unannehmlichkeiten der KZs"(10)
herunterstuften, empfanden sich die Deutschen plötzlich selbst als Opfer: der
Bombenangriffe, der Vertreibung, ja gar des NS, als Verführte. In der Selbstwahrnehmung
verkehrte sich das Verhältnis von Tätern und Opfern. Die Scham, die doch
eigentlich die Täter hätten empfinden müssen, peinigte nun ihre Opfer,
als "Überlebensschuld"(11), der Frage, warum bin gerade ich davongekommen,
während die 6 Millionen anderen den Tod, der auch mir zugedacht war, an meiner
Seite erlitten.
Die Irrealität, in die die Tat für die einzelnen abgeglitten ist, verhinderte
die gesellschaftliche Akzeptanz des Faktums als seine emotionale Besetzung. Und
zugleich betrifft die Ereignisstruktur sowohl in ihrer objektiven als auch subjektiv
wahrgenommen Form den Kern des Darstellungsproblems.
Was erinnert werden soll, benötigt eine Repräsentanz. Das Unglaubliche,
das sich dem Anblick derer bot, die die Lager befreiten, wurde von den Kamerateams
der Alliierten gefilmt. Es sollte als Dokument denjenigen vorget;,ten werden, die
Wissen und Verantwortung leugneten. "Hätten nicht die von den Alliierten
nach der Befreiung der KZs gedrehten Filme zu kollektiven Alpträumen werden
müssen? Nichts dergleichen. Man hat die Bilder nicht wahrgenommen", obwohl
es unmöglich gewesen ist, ihnen nicht zu begegnen.(12) Der zusammengebrochene
NS hat die einzelnen als ihrer Subjektivität, Spontaneität und Empathie
Beraubte entlassen. Die Kluft zwischen der Tat und ihrer Wahrnehmung zu überbrücken
mißlang. Zu lange waren die einzelnen einer Selbstwahrnehmung ausgeliefert,
die die nationalsozialistische Propaganda unablässig ihnen eingab.
"Ich kann schon nicht mehr denken, was ich denken will. Die beweglichen Bilder
haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt" äußerte George
Duhamel 1930 über die Wirkungsweise des Films.(13) Die nationalsozialistischen
Propagandisten erkannten früh seine manipulativen Möglichkeiten und machten
sie sich zunutze. Die Selbstinszenierung des Regimes, deren Aufmarschformationen
selbst schon dem Primat des Visuellen geschuldet waren, verlängerte sich von
Straßen und Plätzen in die Kinosäle. Die gleichzeitige Mobilisierung
erniedrigender und erhebender Gefühle, der Großartigkeit durch Unterwerfung,
fixierte die einzelnen in einer Wahrnehmungs- und Erlebnisweise, die die späteren
Verbrechen und schließlich gar die Selbstzerstörung als Höhepunkt
der Verführung möglich machte. Goebbels überwachte persönlich
den Schnitt der Wochenschauen, die zum Kriegsende hin immer länger wurden.
"Auch die Kinosäle wurden Trainingslager, in denen eine ungeahnte agonistische
Einstimmigkeit hergestellt wurde".(14) In der Mischung von Wochenschau, Schnulze
und Propagandafilm lag die Absicht, "das deutsche Volk im Alltag in eine Masse
von Visionären zu verwandeln, 'einem Gesetz gehorchend, das sie nicht einmal
kannten, das sie aber im Traum hätten aufsagen können' - so Goebbels 1931".(15)
Was in der Zeit, in der die Deutschen ihre Visionen zu verwirklichen suchten, geschah,
nahm solche Ausmaße an, daß es im Nachhinein kaum noch erfaßt,
begriffen, gefühlt werden konnte. Das "traumatische Versinken der Vergangenheit"(16)
nach dem Krieg lag schon im traumartigen Charakter der Wahrnehmung der vergangenen
Gegenwart begründet. Der kollektive Narzißmus war in der Abwehr der Nachrichten
und Bilder über das begangene Unheil noch einmal vereint. Er ließ es
nicht zu, daß sich die wahren Bilder an die Stelle der untergegangenen Visionen
setzten. Die Lüge, zu der der NS die Bilder verwandelte, korrumpierte sie über
die Niederlage hinaus. Mit dem Mißtrauen, das jenen Bildern der Propaganda
nicht entgegengebracht wurde, wurde nun die Aufklärung über die Verbrechen
bedacht.
Das Scheitern der affektiven Neubesetzung der eigenen Geschichte unmittelbar nach
dem Krieg und die Monstrosität der Tat warfen die Frage nach der Form der nun
notwendig werdenden Darstellung des Leidens auf. Adornos Satz, "nach Auschwitz
ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch"(17), trifft in erster Linie die Auffassung,
Kultur nach Auschwitz sei ohne weiteres möglich. Die Entnazifizierungsbestrebungen
fanden ja ihre Grenze im Ziel der Westalliierten, ihre Besatzungszonen im Bollwerk
gegen den Osten in der nun entstehenden Teilung der Welt in zwei Machtblöcke
aufzubauen. Die ökonomischen Grundlagen des NS, die im wesentlichen erhalten
geblieben sind, wurden nicht offengelegt. Vielmehr war man an einer schnellen Restauration
interessiert, die sich mit der Vorstellung paarte, man könne die Erneuerung
der Gesellschaft auf kultureller Ebene bewältigen. Sie gipfelte in dem 1946
von Friedrich Meinecke geäußerten Vorschlag, "das Deutschtum aus
dem Geiste der Klassik heraus zu erneuern und die moralische Wiedergeburt der Nation
durch sonntägliche Goethefeierstunden voranzutreiben".(18) Der Blick auf
die "ewigen Werte" verleugnete, da? auch Sprache und Kultur die nationalsozialistische
Barbarei nicht unbeschadet Überlebt haben konnten. Er unterstellte, daß
nur die Politik korrumpiert war.
Der Rückzug in Innerlichkeit und Wiederaufbau war begleitet vom Verstummen
der Einzelnen, so daß George Steiner 1959 schreiben konnte: "An der Oberfläche
gedeiht und pulsiert das Leben prachtvoll, doch im Inneren herrscht eine krankhafte
Stille."(19) Sie hatten sich nicht rühren lassen, sie wollten nicht sprechen,
darum lag in Adornos Auffassung, das Schweigen sei der letzte adäquate Ausdruck
für eine Welt, in der das Subjekt restlos abgedankt hat, eine merkwürdige
Koinzidenz mit dem Schweigen-Wollen der deutschen Gesellschaft. Doch die Not der
Opfer "erheischt auch die Fortdauer von Kunst...; kaum woanders findet das
Leiden noch seine eigene Stimme, den Trost, der es nicht sogleich verriete. ...
Aber indem es, trotz aller Härte und Unversöhnlichkeit, zum Bild gemacht
wird, ist es doch, als ob die Scham vor den Opfern verletzt wäre."(20)
Dieses Ringen um den unabdingbaren oder unmöglich angemessenen Ausdruck der
Leiden der Opfer, ihr Recht auf Erinnerung, gebrach sich immer wieder an der Schlußtrichmentalität
der deutschen Öffentlichkeit. Als 1956 Alain Resnais' Film &hibar;Nuit et bruillard®
(deutsch: &hibar;Nacht und Nebel®) auf dem offiziellen Programm der Filmfestspiele
in Cannes erschien, erhob die Bundesregierung mittels ihres Botschafters in Paris
erfolgreich Einspruch mit der Begründung, daß nach den Statuten des Festivals
nur Filme gezeigt werden dürften, die nationale Gefühle eines anderen
Volkes nicht verletzten oder das friedliche Zusammenleben der Völker nicht
beeinträchtigten. Lag in der letzten Aussage eine unverhohlene Drohung, so
erhellt die erste die Gepflogenheit, sich von der Darstellung der nationalsozialistischen
Verbrechen mittlerweile verletzt zu fühlen. Daß die Täter Deutsche
waren, wurde nämlich in dem Film überhaupt nicht erwähnt, genausowenig,
daß der größte Teil der Opfer Juden waren.
&hibar;Nacht und Nebel® will dem Leiden der Opfer eine Stimme verleihen und
ist zugleich ein filmischer Diskurs über Erinnern und Vergessen. Resnais sucht
die verlassenen Überreste der KZs auf, die er farbig ins Bild setzt, und montiert
diese Farbsequenzen abwechselnd mit historischen Dokumenten, die aus filmischem
und photographischem Schwarz-Weiß- Material bestehen. Die ständigen am
Material eklatant sichtbaren Zeitsprünge zwischen der historischen und der
damaligen Jetzt-Zeit verweisen immer wieder auf die Stummheit der steinernen Zeugnisse,
über die das Grass zu wachsen begonnen hat. Was die Bilder nicht mehr hergeben,
muß die Sprache versuchen einzufangen: das Leiden, das weder im zum Augenblick
erstarrten Schrecken der Photographie noch in den sonnenüberfluteten Orten
des dort nicht mehr sichtbaren Grauens zum Ausdruck kommt. Der französische
Dichter Jean Cayrol, der selbst KZ-Häftling gewesen war - die spätere
(wortgetreue) deutsche Nachdichtung stammt von Paul Celan - fügt den Bildern
einen eindringlichen Text bei, der die Marter der Opfer heraufbeschwört und
darauf beharrt, daß es Schuldige gibt, ohne Anklage zu erheben. Hanns Eislers
Musik ergänzt den Film um eine weitere Dimension, indem sie die Bilder nicht
verdoppelt, sondern kommentiert, sie gegen die Bilder setzt und mit der Kritik
der kleinbürgerlichen Kunstwelt Verfremdungseffekte erzielt und dadurch die
Kultur selbst zur Debatte stellt. Doch obwohl der Film das Terrorsystem als ein
Menschheitsproblem, nicht als eines der Deutschen und ihrer Opfer erscheinen läßt,
gab es in Deutschland empfindlich getroffene bis empörte Reaktionen. Die Vorschläge,
wie mit einer deutschen Fassung umzugehen sei, reichten vom Verlangen, Hanns Eisler
aus dem Titelvorspann zu streichen, da er der "Star-Komponist der Sowjetzone"
sei, bis zu dem Ansinnen, dem Film einen Vorspann beizufügen, in dem darauf
hingewiesen wird, daß auch die anderen Länder im Krieg Verbrechen verübt
hätten. In dem sich offenbarenden Gekränkt-Sein, das fortbestehende Identifizierungen
mit dem NS aufdeckt, wird der proklamierte Bruch mit der Vergangenheit fragwürdig,
zumal eine Teilideologie, der Antikommunismus, im Nachhinein durch die neue Interessenlage
Bestätigung erfuhr.
Erschwert dadurch, daß es sich um einen Kurzfilm handelt (31 Minuten), gelangte
&hibar;Nacht und Nebel® nie ins offizielle Kinoprogramm, sondern war Sonderveranstaltungen
vorbehalten. Der größte Teil der Kopien wurde schwarz-weiß gezogen,
was die entscheidende Struktur des Films, den Diskurs über Vergessen und Erinnern,
die Frage, was sich den jeweiligen Bildern, die wechselseitig zueinander in Beziehung
gesetzt werden, überhaupt abgewinnen läßt, zunichte machte und dem
schockierenden Element der Leichenberge ein ästhetisches Übergewicht verlieh.
Damit wurde die Erinnerung auf jenes Schockelement fixiert, das Irritation beseitigt.
Schock und Schweigen liegen eng beieinander. Man sieht die Ergebnisse der Tat, doch
nicht eigenes, was darauf hinführte. Die Anonymität des Grauens läßt
eine Rückübersetzung in den Alltag nicht zu, es verbleibt wie ein böser
Traum im Bereich des Unwirklichen. Ist doch die Wirklichkeit wieder dazu angetan
gewesen, sich zu amüsieren. Der Wiederaufbau in vollem Schwung, genießt
man die in der Tradition der naturmythischen Berg- oder Blut- und Boden- Filme des
NS stehenden Heimatfilme, die als regelrechte Welle über das in politischer
Apathie verharrende Land schwappten (&hibar;Grün ist die Heide® wurde von
20 Millionen Zuschauern gesehen). Die ebenfalls beliebten Kriegsfilme schilderten
den kleinen Soldaten immer als tapfer und pflichtbewußt, ohnmächtig,
an den Zuständen etwas zu verändern. Eine Störung von Kleinbürgeridylle
und Ohnmacht ließen die Zensurbehörden nicht zu. International renommierte
Filme wurden nach "antideutschen" Stellen abgesucht, womit eine Kritik
am NS gemeint war. So fielen Werke wie &hibar;Die Eingeschlossenen® (Vittorio
de Sica), &hibar;Notorious® (Alfred Hitchcock) oder &hibar;Casablanca® (Michael
Curtiz) der Schere zum Opfer. Aus Politthrillern wurden Abenteuerstorys und Roberto
Rosselinis &hibar;Rom - offene Stadt® brauchte 15 Jahre, um in einer ebenfalls
von "Verunglimpfungen deutscher Soldaten" gereinigten Fassung ins deutsche
Kino zu gelangen. Die einheimischen Produktionen, die sich der Vergangenheit widmeten,
waren vorwiegend gemütvoll und liebenswürdig, ins allgemein Menschliche
verliebt. Auch bei Helmut Käutner und Kurt Hoffmann ist das Individuum edel
aber ohnmächtig.(21) Die Verklärung der privaten Existenz in der Familie
diente als Klebstoff der Affekte, nicht nur als Erlebensweise der Gegenwart, sondern
ebenso als Deutungsmuster, mit dem man nun auch rückwärts projizierend
die nationalsozialistische Vergangenheit verstand. Doch widersprach die Standardisierung
der Bedürfnisse durch die Kulturindustrie keineswegs der Zeit des NS. Auch
wurden damals größtenteils Heimat-, Natur- und Familienidyllen gezeigt.
Die Schablonen, die den Film zur Schule der Identifikation mit der Wirklichkeit
machen, ändern sich kaum. Gegen ihren Bestätigungscharakter waren Aufklärungsbestrebungen
machtlos. Es fehlte ja nicht an Büchern, Biographien oder künstlerischen
Verarbeitungsformen, Dokumentationen und Nachrichten. Ob Eugen Kogon oder Paul Celan,
Gerald Reitlinger oder Tadeusz Borowski, Leon Poliakov, Fischer Dokumente der Zeitgeschichte
oder Primo Levi, es waren viele Zeugnisse oder Versuche, die Vergangenheit zu erfassen,
zugänglich. Man hat sie wenig wahrgenommen. Allein die Dramatisierung des Anne
Frank-Tagebuchs löste einen Sturm der Emotionen aus. Doch mußte zunehmend
nun auch öffentlich debattiert werden: die Kunde vom Eichmann-Prozeß
in Jerusalem, endlose Verjährungsdebatten im Bundestag und dann, 17 Jahre nach
Ende des 2.Weltkriegs, der erste große, von einem deutschen Gericht eröffnete
Kriegsverbrecherprozeß, der Auschwitz-Prozeß in Frankfurt am Main. Andererseits
war auch die Veröffentlichungspraxis von Widerständen geprägt. So
galten Edgar Hilsenraths Ghettoroman &hibar;Nacht® oder Raul Hilbergs &hibar;Die
Vernichtung der europäischen Juden® als für deutsche Gemüter
unzumutbar, mittlerweile mit dem Argument, daß Aufklärung über die
nationalsozialistischen Verbrechen Antisemitismus hervorrufen könnte.
1960 gelangte ein Dokumentarfilm in die deutschen Kinos, der auch international
recht erfolgreich war: Erwin Leisers &hibar;Mein Kampf®. Schon dem Titel nach
ein "Hitlerfilm" rückt er indessen auch die politische Geschichte
Deutschlands ab 1914 ins Blickfeld und benennt die ökonomischen Interessen,
die Hitler nach oben verhalfen. Das brachte ihm sogleich den Vorwurf ein, "links"
zu sein, wie es auch die pawlow-hündische Reaktion hervorrief, wieder auf den
Gulag zu deuten und den roten Terror als ursprünglichen einzuklagen. Zudem
war Leiser, der nach der "Reichskristallnacht" Deutschland verließ,
als Emigrant in Schweden geblieben. Das öffentliche Ansehen der Emigranten
war nicht allzu hoch in der BRD, bewiesen sie doch durch ihre bloße Existenz,
daß die Rede von der Unausweichlichkeit von Mitmachen und Gehorsam unter der
Diktatur eine Ausrede war. Dies trug ihm die Beschimpfung "Emigrantenfilm"
ein. Allerdings lag der Film dem Interpretationsmuster der 50er Jahre gar nicht
so fern, sah er doch die Deutschen als Opfer von Hitler und wenigen Helfershelfern.
Er verzichtet - ausgenommen die Parole des Antifaschismus Nie wieder! am Filmende
- auf das Pathos, das &hibar;Nacht und Nebel® durch seinen Text verliehen bekam,
und auf durch Montage oder die Verwendung der grausamsten Dokumente hergestellte
Schockwirkungen, benannte aber offen die Verbrechen an den Juden, visuell vor allem
vermittelt durch bis dahin unbekannte Filmaufnahmen aus dem Warschauer Ghetto. Durch
seine ausschließliche Verwendung von Dokumentarmaterial und seine zurückt;,tende
Kommentierung wurde er zum Vorbild vieler späterer Darstellungen der nationalsozialistischen
Periode, vor allem in dem sich rasch ausbreitenden Medium des Fernsehens.
Aber die damals Beteiligten, sei es als Täter, Mittäter oder Mitläufer,
taten so, als ob sie das alles nichts anginge oder zeigten durch ihre Reaktionen,
daß sehr wohl etwas in ihnen verborgen lag, das zu erfahren die Welt ein Recht
gehabt hätte. Mehr Niederschlag fand die zunehmende Information der Öffentlichkeit
bei den Kindern der Beteiligten. Doch wenn sie ihre Eltern nach ihrem Verhalten
während der Nazizeit fragten, stießen sie größtenteils auf
eine Mauer des Schweigens. Diese Verweigerung des Sprechens und die Beibehaltung
rigid-autoritärer Erziehungsgrundsätze, die die alten Leitbilder von Sauberkeit
und Ordnung, Verzicht, Sparsamkeit, Leistung und Triebaufschub weiter aufrecht erhielten,
führte die "zweite Generation" dazu, in ihrem Protest und der Ablehnung
der älteren Generation zum "Negativ-Klischee der Denk- und Lebensformen
ihrer Väter und Mütter"(22) zu werden. Die Revolte fand ihre Berechtigung
in der Tatsache, daß in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft wichtige Funktionsträger
des NS ihre Stellung behalten oder ausbauen konnten, war doch gerade der ehem. Nationalsozialist
Kiesinger zum Bundeskanzler gewählt worden. Die Deutung der Vergangenheit änderte
sich für die Protestgeneration aber nur in einem Punkt: der NS wurde rein theoretisch-ökonomistisch
aufgefasst. "Auschwitz war nicht der Name einer polnischen Kleinstadt, in deren
Nähe in den Lagern Auschwitz 1 und Birkenau über 1 Million Juden aus vielen
Ländern Europas zu Tode gequält, bei medizinischen Versuchen getötet,
erschossen, durch Injektionen und durch Zyklon B ermordet worden waren; Auschwitz
war das Symbol für die Kombination von brutaler, nackter Gewalt und ökonomischer
Rationalität, durch die sich das Naziregime auszeichnete. Ortsbeschreibungen,
Zeugenaussagen, Erinnerungen von Opfern und Tätern konnten höchstens das
theoretische Wissen illustrieren, fügten ihm aber kein neues Element hinzu."(23)
In einer anderen Weise sind die Kinder damit ihrem Eltern treu geblieben: in der
Abspaltung der Affekte, in der Weigerung, sich auf das Leiden der Opfer, aber auch
die Handlungsmotivation der Eltern, als konstitutiven Bestandteil der Wahrnehmung
der vergangenen Verbrechen, einzulassen. Ihre Rationalisierung der Barbarei verwandelte
sie in ein bloßes Argument gegen die gegenwärtigen Verhältnisse
und einen Abgrenzungsmodus gegen die Elterngeneration, der das Schweigen nicht mehr
antastet.
Erst als 1979 die Fernsehserie &hibar;Holocaust® ausgestrahlt wurde, ging ein
Aufschrei durch die Nation. Plötzlich waren die einzelnen gerührt, betroffen,
beschämt. In den Sendeanstalten gingen körbeweise Briefe ein, in denen
Meinungen vertreten und Erinnerungen geschildert wurden. Auch durch pausenlose Anrufe
entstand dort der Eindruck, als habe es in der BRD noch gar keine wirksame Auseinandersetzung
mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gegeben, den Telefonisten schien es,
sie müßten "seelsorgerische Dienste" leisten.(24) Dabei begann
der öffentliche Streit schon über den Ankauf der Serie durch den WDR,
obwohl es kaum möglich schien, bei ihrer weltweiten Verbreitung als Land der
Täter außen vor zu bleiben. Danach hatte man sich wegen des Sendemodus
in den Haaren und einigte sich schließlich auf eine gemeinsame Ausstrahlung
in allen 3. Programmen an vier Abenden mit jeweils anschließender Fernsehdiskussion.
Eine merkwürdige Allianz zwischen linken Kritikern und Springer-Presse (sowie
Franz Josef Strauss) kanzelte den Film als "Geschäftemacherei mit Auschwitz"
ab. Auch die Krakeeler, die seit 30 Jahren "es muß endlich Schluss sein"
forderten, waren unüberhörbar. Doch der größte Teil des Massenpublikums
(20 Millionen Zuschauer sahen das Fernsehspiel) war sichtlich betroffen von einer
Mini-Serie, in der das Schicksal zweier Familien von 1935 an erzählt wird,
der jüdischen Familie Weiß, die den gesamten Leidensprozeß des
jüdischen Volkes repräsentieren soll, und der Familie Dorf, deren männlicher
Protagonist, angestachelt von seiner Frau, im RSHA Karriere macht und zum Mitorganisator
der Ermordung der Juden wird. Man erfährt anhand der einzelnen Familienmitglieder
sehr viel über den Weg, den Juden zurücklegen mußten: Boykott der
Geschäfte, Entrechtung, Verlust des Berufes, "Reichskristallnacht",
Deportation, Warschauer Ghetto, Buchenwald, Theresienstadt, Partisanenkämpfe,
Massenerschießungen in Rußland, Warschauer Ghettoaufstand, Sobibor,
Auschwitz. Zuviel vielleicht (wozu sicher gehört, daß auch die Euthanasie
noch eingebaut wird), aber man erfährt etwas über die inneren Beweggründe,
sich passiv zu verhalten oder aufzustehen, in den Judenrat einzutreten oder sich
einer Widerstandszelle anzuschließen, sehenden oder geschlossenen Auges in
den Tod zu gehen; und man erfährt etwas über die Funktionsweise der Maschinerie
des Terrors, der kalten Planung, die Worte erfindet, die nicht ausdrücken,
was sie meinen, um den ihnen verliehenen Sinn zu verstecken, von der Konkurrenz
innerhalb des Apparates, die das Unheil nicht bremsten, sondern beförderten,
oder die einfache Tatsache, daß man kein Antisemit sein mußte, um den
Massenmord zu begehen. Und auch die Botschaft war für Fernsehzuschauer nicht
gerade üblich: schuldig ist auch der, der nur innere Ablehnung verspürt,
aber trotzdem mitgemacht hat, während der einzige Überlebende der Familie
Weiß auch der einzige ist, der von Anfang an Widerstand ins Auge gefaßt
hat und dann aktiv leistet.
Doch der Informationsget;,t (der einige Fehler mit sich bringt, wie versierte Historiker
bemerkten) erscheint als nebensächlich gegenüber der Wirkungsweise der
spezifischen Form der Fernsehserie. Ihre extreme Standardisiertheit stellt ihre
Eignung für ein solches Thema grundsätzlich in Frage. Der fiktionale Charakter
des Plots ließ die Gefahr aufkommen, auch die Tatsächlichkeit der historischen
Geschichte zu fiktionalisieren und im Gleichmaß des Sende- und Rezeptionsflusses
aufzuheben.
Die Fiktionalität ist ein Teil des Darstellungsproblems. Da die tatsächlichen
äußeren Ereignisse der abgeschlossenen Vergangenheit angehören,
ist man auf Überlieferungen, Zeugnisse und Darstellungen angewiesen. Die Vergangenheit
muß für die Nachlebenden rekonstruiert werden oder sogar, wie James E.
Young (25) meint, erst konstruiert. Doch, ihn erweiternd, ist diese Konstruktion
nicht nur für die Nachgeborenen notwendig, sondern aufgrund der spezifischen
Struktur der Ereignisse und ihrer Wahrnehmung bzw. Verleugnung gerade auch für
die Beteiligten selber, wenn man nicht ohnehin davon ausgeten will, daß jede
Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit eine Konstruktion ist, ohne die sie nicht
verstanden werden könnte.(26) Nun scheinen dokumentarisches Material und Augenzeugenberichte
authentischer zu sein als fiktionale Verarbeitungen. Der Zuschauer ist angesichts
des Dokumentarfilms überzeugt, "er werde mit unwiderleglichem Beweismaterial
konfrontiert".(27) Zwischen beiden wird gewöhnlich eine Trennlinie gezogen,
die die Dokumentation ins Reich der Wahrheit und Aufklärung, die Fiktion aber
ins Reich der Märchen und Konstruktion verbannt. Doch wird dabei übersehen,
wie konstruiert, durch Auswahl, Schnitt, Rhythmus, Kommentar, Musikunterlegung auch
Dokumentarfilme sind, ja die Dokumente selbst besitzen zum Teil ein Höchstmaß
an Konstruiertheit. Gerade bei den Filmdokumenten aus der Zeit des NS handelt es
sich überwiegend um Material, das zu Propagandazwecken hergestellt worden ist.
Ungebrochen in einen Dokumentarbericht eingebaut, erscheint als Zeugnis der damaligen
Realität, was eigens für die Kamera inszeniert worden ist. Freilich ist
auch das Inszenierte real, aber eben nur als Inszeniertes. Dem Material selbst ist
in diesem Fall nicht anzusehen, ob es eine Realität wiedergibt, die auch unabhängig
von der Kamera existierte, oder eine, die vor der Kamera gestellt wurde.
Dieses Dilemma verwandelte der Film &hibar;Hitler - Eine Karriere® des ehem.
FAZ-Herausgebers und Hitler-Biographen Joachim C. Fest und Christian Herrendörfers,
der sich als Aufklärungsfilm über das Verhältnis von Hitler und seinen
Anhängern verstand, in einen Skandal. Zwar betonte er von Anfang an, daß
sich die Nationalsozialisten selbst inszenierten, doch durchbrach er die Inszenierung
nicht, sondern verstärkte sie, weil der Film selbst hochgradig inszeniert war
und aus denselben Prinzipien schöpfte, die er vorgeblich kritisierte. Er schwelgt
in Propagandaszenen, bestätigt die Hierarchie zwischen Führer und Volk
in der Schuß-Gegenschuß-Montage und verstärkt optische Effekte
durch akustische Nachsynchronisation. Dadurch wird der theatralische Effekt größer
als ihn jede Fiktion erreichen könnte. Doch er tut noch mehr. Durch seine psychologistische
Einfühlungsmethode wird uns Hitler nähergebracht, die Musik - den Film
durchgängig begleitend, was das Inszenatorische noch steigert - wird bedrohlich,
wenn orthodoxe Juden in Wien gezeigt werden und der Kommentator von "Schauern
blutschänderischer Schreckbilder" fabuliert, sie intoniert Hitlers Aufstieg
majestätisch und wird mitfühlend mit dem "zerrütteten Mann"
als es bergab ging. Die Kriegswende wird dramaturgisch so zugespitzt, daß
man die Niederlage der deutschen Armee unwillkürlich bedauert, und die Opfer
des ganzen Wahnsinns werden in nicht einmal zwei Minuten (bei einer Gesamtlänge
des Films von 150 Minuten) mit einigen Schockphotos abgehandelt, die so geschickt
vor die Größenphantasien der Nationalsozialisten und die Landung
der Alliierten in der Normandie mit schließlicher Kriegsniederlage geschnitten
sind, daß als "eigentliche" Opfer nur noch die Deutschen übrigbleiben,
während die Sieger feiern. 1977 gezeigt, schwamm der Film auf einer regelrechten
Hitlerwelle, die den Diktator den einzelnen "verbiederte"(28), ihn, als
den Fernsten, als Nächsten, als Bruder, Onkel, Weggefährten erscheinen
ließ, und so sprach man zu dieser Zeit(***) auch gerne vom "Hitler in mir"
und stellte sich die Frage, ob man dieser unwiderstehlichen Propaganda nicht auch
erlegen gewesen wäre, deren Bejahung schon in der Art der Fragestellung lag.
&hibar;Hitler - eine Karriere® machte sich die Authentizitätserwartung,
die dokumentarischem Material entgegengebracht wird, zunutze, um das Publikum ein
weiteres Mal zu verführen, und offenbarte dadurch ihre Absurdität. Wenn
beliebig mit Dokumenten hantiert werden kann, dann gerät die Glaubwürdigkeit
der Dokumente selbst in Gefahr. Etwas von diesem Zweifel mußte schon Erwin
Leiser bewegt haben, im Vorspann von &hibar;Mein Kampf® darauf hinzuweisen,
daß alles Material authentisch sei. Diese Bemerkung erscheint absurd, da der
Film keine gespielten Szenen aufweist. Die in den Dokumenten selbst entt;,tene Widersprüchlichkeit
aber wird durch den Hinweis auf ihre Authentizität noch einmal verdeckt. Durch
die geschlossene Form, den Faden, den der Zuschauer nicht verlieren darf, erscheinen
ihm die Bilder gleichmäßig evident, egal aus welcher Quelle sie stammen.
Und trotzdem ist das Dokument noch immer von diesem "Evidenzbeweis"(29)
umgeben, ohne den fast zwangsläufig auch fiktionale Darstellungen nicht auszukommen
glauben. So operiert die &hibar;Holocaust®-Serie ebenfalls mit dokumentarischen
Photos, die, immer wieder vorgeführt, darauf hinweisen sollen, daß es
sich bei dem gezeigten Geschehen nicht um eine Erfindung, sondern um belegbare historische
Wirklichkeit handelt. Umgekehrt verfährt Steven Spielberg in &hibar;Schindlers
Liste® (1994), der den Film Schwarz-Weiß dreht, mit der Begründung,
daß alle vorhandenen Zeugnisse aus dieser Zeit aus Schwarz-Weiß-Material
bestehen und die Erinnerung deshalb sich aus Schwarz-Weiß-Bildern zusammensetze,
mithin ein Schwarz-Weiß-Film von vornherein glaubwürdiger erscheine.
Zusätzlich bearbeitet er das Material durch Licht- und Material-Sprünge,
Unschärfen, Überbelichtungen und den Einsatz der Handkamera in einer Weise,
daß es dokumentarisch wirkt, verstärkt noch dadurch, daß er Originaldokumente
nachstellt. Spielberg erzeugt damit einen dokumentarischen Schein, der die Fiktionalität
des Filmes überdecken soll, zumal die Story vom Fabrikanten und Lebemann Oskar
Schindler, dem es gelingt, über tausend Juden vor dem mörderischen Zugriff
der Nationalsozialisten zu bewahren, historisch verbürgt ist.
Ist Spielberg dem Vertrauen aufs Dokumentarische in seiner Fingierung noch ganz
verhaftet, so bleibt in Eberhard Fechners dreiteiligem Fernsehfilm &hibar;Der Prozeß®
(1983) mit den Bildern vom Flug über das KZ Majdanek nur noch ein schwacher
Schein des Evidenzbeweises übrig. Glaubt er zwar nicht völlig auf ihn
verzichten zu können, so bleibt er aber doch marginal, weil Fechners Verfahren
sich auf die Gegenwart richtet, Vergangenheit nur in ihrer Erinnerung und dem nunmehrigen
Umgang mit ihr erscheint. Der Film über den längsten Prozeß der
deutschen Justizgeschichte, das fast sechs Jahre dauernde Majdanek-Verfahren, besteht
fast ausschließlich aus Interviews, die Fechner während und kurz nach
Abschluß des Prozesses mit beteiligten Richtern, Staatsanwälten, Angeklagten,
Zeugen und Prozeßbeobachtern führte. Die dichte Montage, die Themenkomplexe
und Verhaltensweisen aufschlüsselt, indem Satzpassagen so aneinandergereiht
werden, daß die Äußerungen, teilweise innerhalb des Satzes geschnitten,
ein Geflecht von Aussagen ergeben, versucht, durch die subjektive Wahrnehmung hindurch
Realität zu rekonstruieren und zwar sowohl im Versuch, die vergangenen Verbrechen
aufzuhellen, als auch in der Umgangsweise mit dieser Geschichte. Die durchgetaltene
Verleugnung der Täter angesichts des zur Verhandlung stehenden 250.000fachen
Mordes wird offensichtlich. Wo die Opfer den in Schweigen verharrenden Tätern
ihre Taten nachweisen müssen, wird Versöhnung unmöglich. Wo sich
Täter selbst als Opfer der Umstände empfinden und mehr Regung verspüren,
wenn sie als Nazis bezeichnet werden, als wenn sie sich ihre Handlungen vor Augen
führen lassen müssen, wird das Scheitern des Umgangs mit der Vergangenheit
ebenso deutlich wie die Begrenztheit ihrer juristischen Aufarbeitung, die sich nicht
nur in den skandalös milden Urteilen ausdrückt. Sie verweist das Problem
zurück in die Gesellschaft, eine Gesellschaft, die 35 Jahre nach Kriegsende
rassistischen und antisemitischen Haltungen wieder Raum eröffnet und die den
Stachel notwendiger Erinnerung zu gerne aus dem Fleische sich ziehen würde,
die Versöhnung weniger mit den Opfern als mit dem Andenken an die Täter
sucht, wie der deutsche Kanzler in Bitburg demonstrierte.
Noch immer ist die Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, ihre
Darstellung und Darstellbarkeit im Sinne einer adäquaten Erinnerung, Gegenstand
heftigster Debatten. 1985 legte Claude Lanzmann mit &hibar;Shoah® den ambitioniertesten
und umfangreichsten Versuch vor, eine Antwort auf die Frage zu finden, was ist damals
in Auschwitz, Treblinka, Belzec, Sobibor, Chelmno passiert, indem er auf Darstellung
völlig verzichtet. In seinem neunstündigen Film verwendet Lanzmann kein
einziges Bild-Dokument der NS-Zeit. Der Regisseur begibt sich - wie Alain Resnais
- an die Stätten der Vernichtung, an die Orte, denen selbst der unterschiedliche
Umgang mit den steinernen Überresten des Verbrechens anzusehen ist. Doch im
Unterschied zu Resnais begett er die Orte mit den ihnen entronnenen Opfern, die
nun als Zeugen zurückkehren und das Unsichtbare durch ihre Worte erfahrbar
machen. An die Stelle historisch bildlicher Dokumente, die bei Resnais die Verbrechen
repräsentieren, tritt die mündliche Zeugenschaft, die jedoch weniger Erinnerung
ist als vielmehr eine Erfahrung, die die beiden Zeitebenen der Gegenwart und der
Vergangenheit teleskopartig zusammenzieht, die Vergangenheit im Gegenwärtigen
aufheben läßt und das Gegenwärtige im Vergangenen, und damit Zeit
überhaupt, aufhebt. Lanzmann führt keine Interviews, er geht psychoanalytisch
vor, läßt die Zeugen Situationen nachspielen, indem er sie in
Situationen von damals hineinstellt. Er führt sie, indem er sie ablenkt, nicht
merken läßt, daß sie eine Handlung wiederholen. Und zugleich
wird ihre eigene Verarbeitungsweise der erlittenen Qualen deutlich in ihren Widerständen,
die unheilvolle Erinnerung zuzulassen, konkreter: ihre affektive Besetzung. Denn
einige Zeugen sprechen lächelnd von den schrecklichen Vorgängen, als wären
sie völlig bedeutungslos. Erst Lanzmanns insistierendes oft auch Druck ausübendes
Nachfragen bringt die Barrieren zum Einsturz und in ihrem Zusammenbruch offenbaren
sich die unermeßlichen Leiden, die sich in den äußerlich Wiederaufgerichteten
verbergen. Allerdings nicht bei den Tätern, die sich ihre leugnende Haltung
nicht streitig machen lassen (was auch Lanzmanns Ziel nicht zu sein scheint) und
auch nicht bei den weiterhin ihren fröhlichen bis unverschämten Antisemitismus
pflegenden Zuschauern, den Nachbarn der damaligen Vernichtungslager. Damit erstellt
Lanzmann nicht nur ein "erschütterndes Dokument", wie die Kritik
einengend lobte, sondern eine ästhetische Konstruktion, die sich dem Begriff
der Darstellung entzieht, weil sie das, was sie meint, nicht zeigt, sondern vielmehr
erfahrbar werden läßt.
* * *
Wer den Holocaust erfassen will, sagt Claude Lanzmann zu Raul Hilberg, muß
ein Kunstwerk schaffen, und der Historiker pflichtet dem Regisseur bei, auch er
sei nicht im vorhinein darüber im klaren gewesen, daß die Arbeit an der
Geschichtsschreibung der Vernichtung der europäischen Juden einem "Schöpfungsakt"
gleichkomme. Beide betonen, sowohl etwas Ursprüngliches zu tun als auch dessen
Charakter der Konstruktion, den die jeweiligen Darstellungsweise eint, auch wenn
sie gemeinhin für etwas unkonstruiertes gehalten werden. Dabei verdrängt
die Repräsentation die wirklichen Ereignisse. "So nehmen geschriebene
Worte den Platz der Vergangenheit ein und werden dann anstelle der Ereignisse selbst
erinnert."(30)
Was für Geschichtsschreibung generell gilt, wird zum Problem, wo ein Verbrechen
erinnert werden soll, das in der Tat selbst schon eine Entrealisierungstendenz beinhaltet,
die sich in dem von ihr angegriffenen Gedächtnis fortsetzt. "Der Holocaust
ist vor allem darin einzigartig, daß er sich nicht mit einem Flammenkreis
umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes,
absolutes Maß an Greueln nicht übertragbar ist. Wer es tut, macht sich
der schlimmsten Übertretung schuldig. Die Fiktion ist eine Übertretung
und es ist meine tiefste Überzeugung, daß jede Darstellung verboten ist",
urteilt Lanzmann über &hibar;Schindlers Liste®. Was zunächst einzig
als Ablehnung der Fiktion erscheint, richtet sich allerdings gegen die Form der
Abbildhaftigkeit. "Wäre mir ein unbekanntes Dokument in die Hände
gefallen, ein Film, der - heimlich, da filmen streng verboten war - von einem SS-Mann
gedreht worden wäre und der gezeigt hätte, wie 3000 Juden, Männer,
Frauen, Kinder, gemeinsam starben, erstickt in einer Gaskammer des Krematoriums
Auschwitz 2 - hätte ich so einen Film gefunden, ich hätte ihn nicht nur
nicht gezeigt, ich hätte ihn zerstört."(31) Gemeint ist nicht mehr
nur das Spiel, sondern der Konkretismus, der ein Bild erzeugt, dem der Bedeutungsgetalt
abhanden gekommen ist. Jener "Konkretismus der Anschaulichkeit ... sperrt sich
von innen her gegen das, was die Massenvernichtung ausmachte".(32) Die Monstrosität
ist nicht repräsentierbar. Das daraus resultierende Bilderverbot als Konsequenz
heißt, daß es unmöglich ist, sich ein Bild zu machen von dem, was
geschehen ist. Doch beinhaltet die aufgekommene Metapher der Undarstellbarkeit,
die, einhergehend mit der Betonung der Einmaligkeit der nationalsozialistischen
Verbrechen, u.a. eine Reaktion auf deren Verharmlosung und Parallelisierung mit
anderen Greueln der Weltgeschichte war, eine gewisse Problematik, die Bruno Bettelheim
als raffinierte Form der Abwehr bezeichnet. Er deutet auf die Schwierigkeit hin,
sich dem wirklichen Grauen zu stellen: "Es war eine Katastrophe, so jenseits
aller Verständigungsmöglichkeit und aller Vorstellungskraft, daß
wir uns gegen unseren eigenen Willen zwingen müssen, wenn wir diese grausigen
Ereignisse in unser Bild von der Wirklichkeit integrieren wollen."(33) Bettelheims
Forderung führt in ein Paradox, denn für die Integration des Grauens in
unser Bild von der Wirklichkeit benötigen wir eben jene Vorstellungskraft,
die vor dem historischen Geschehen versagt hatte. Nur ihre schrittweise Erweiterung
kann einen Ausweg aus der Gefahr einer Tabuisierung weisen.
Für Kracauer bewahrt die Darstellung des Grauenhaften "uns davor, unsere
Augen vor dem 'blinden Treiben der Dinge' zu schließen."(34) Allerdings
besitzt sie eine Ersatzfunktion, weil uns das wirkliche Grauen blind macht. Wie
Perseus den blanken Schild der Athene als Spiegelfläche benötigt, um den
versteinerten Schrecken, den der Anblick der Medusa hervorruft, zu bannen, fungiert
die Filmleinwand als Ort, wo wir "das Grauenhafte aus seiner Unsichtbarkeit
hinter den Schleiern von Panik und Phantasie" erlösen.(35) Doch betrifft
die befreiende Funktion, die Kracauer den Filmen über die nationalsozialistischen
KZs zuspricht, nur die Gefahr, die Verbrechen hinter dem Vorhang des Tabus verschwinden
zu lassen. In den 50er Jahren machten die Schockelemente von &hibar;Nacht und Nebel®
auf das kaum vergangene Verbrechen überhaupt erst wieder aufmerksam. Sie machten
ihr Ausmaß sichtbar und wendeten sich gegen allzu schnelles Vergessen. Und
doch sind sie auf lange Sicht in ihrer Wirkung begrenzt. Sowohl der Schock als auch
die Gewöhnung an die schrecklichen Bilder bergen die Gefahr einer erneuten
Erstarrung, einer Stillstellung der Affekte. Der Massenmord war so gewaltig,
daß er in dieser Weise nicht nachvollziehbar ist. Die Bilder der Leichenberge
lösen nur Entsetzen aus, sie sind zu grauenvoll und dabei in ihrer Konkretheit
zu abstrakt, um einen affektiven Zugang zu dem Geschehenen und u.a. der Möglichkeit,
wie es passieren konnte, zu ermöglichen. Das kann vielleicht ansatzweise nur
erfahren werden, wenn man sich des Mittels der Verkleinerung oder Metaphorisierung
bedient.
Eine in diesem Sinne verstandene Personalisierung reduziert das Leiden, das Millionen
erfahren haben, auf einen einzelnen, aber es bleibt ungeteiltes Leiden. Sie wirkt
der Entmenschlichung und Einsperrung ins gebrandmarkte Kollektiv, die die Schockbilder
äußerlich wiedergeben, entgegen und stattet den einzelnen wieder mit
individuellen Zügen aus. Als Schema der Kulturindustrie ist die Personalisierung
zur vorherrschenden Verarbeitungsform von Stoffen, aber auch ihrer Selbstrepräsentation
geworden. Das Starsystem wirkt innerhalb wie außerhalb der Filme, die mimetisch
darauf abgestimmte Rezeptionsweise ist für andere Darstellungsformen kaum empfänglich.
Darum waren die öffentlichen Reaktionen ausgerechnet dort am stärksten,
wo die Rezeptionst;,tung des Publikums durch das Produkt bestätigt wurde. Im
Anne-Frank-Kult der späten 50er Jahre kündigte sich bereits an, was &hibar;Holocaust®
erst zwanzig Jahre später auslöste. Die mit den herkömmlichen Schablonen
identifizierten nahmen plötzlich wahr, daß ihnen durch sie etwas ganz
anderes vorget;,ten wurde. Wich &hibar;Holocaust® auch in nichts vom gewohnten
Schema ab, so wartete man doch vergeblich auf die witzige Pointe, das unverhoffte
Glück, die befreiende Rettung. Man war plötzlich mit der eigenen Geschichte
konfrontiert. Daß dabei begriffen wurde, daß es sich um die wirkliche
und nicht um eine bloß kulturindustriell gefertigte Story handelt, zeigten
die massenhaften Reaktionen. Neu waren Beunruhigung, Beschämung, Verstörung,
was von jahrzehntelanger Information, Buch- und Featureproduktion nicht hervorgerrufen
werden konnte. Das Thema war affektiv besetzt, wenn auch durch die Identifizierung
mit den Opfern, was leicht dazu führen konnte, gleichfalls als Opfer zu empfinden.
Dennoch stand alleine die Tatsache einer Identifizierung mit den Opfern der alten
starren Verleugnungsposition entgegen. Allerdings waren es nicht die Täter,
die nun Einsicht zeigten. Vielleicht war das Vergeten eines Generationsalters nötig,
um überhaupt eine emotionale Reaktion hervorzubringen. Die gesellschaftliche
Hinwendung zur Selbstbefindlichkeit unterstützte diese Entwicklung. Die &hibar;Holocaust®-Gesellschaft
war auch die Gesellschaft, die unlängst einen "Heißen Herbst"
hinter sich brachte, in dem noch einmal deutlich wurde, wie diese mit ihren erklärten
oder vermeintlichen Feinden umspringt. Die Hysterie der Auseinandersetzung zwischen
einem entfesselten, sich von freiwillig gleichschaltenden Medien unterstützten
Staatsapparat und einem sich verselbständigenden Terrorismus der RAF ließ
viele ins eigene Haus sich flüchten. Die Besichtigung des Kellers war dabei
auch eine Form, sich einzurichten und seßhaft zu werden. Es war sicher kein
Zufall, daß gerade in diesen Jahren eine Flut von &hibar;Vati®-Romanen
den Markt überschwemmte, in denen sich die Kinder der Täter und Mitläufer
mit ihren in der Regel bereits verstorbenen Vätern und ihren eigenen Wurzeln
beschäftigten.
Die &hibar;Holocaust®-Serie war kein isoliertes Phänomen. Sie wirkte weiter
auch als Verstärkereffekt, sich mit dem Thema nun eingehender zu befassen.
Ihre Kehrseite war die mit ihr einsetzende völlige Kulturalisierung der nationalsozialistischen
Verbrechen. Schon die nach dem Krieg ausbleibende kritische Auseinandersetzung mit
der jüngsten Vergangenheit, das mit Inbrunst geäußerte "Nie
wieder" bei gleichzeitiger Abwehr und dem Umweg über den Konformismus
mit den Siegermächten, verwies die Beschäftigung mit ihr in den Bereich
der Kultur. Doch hat der NS auch die bürgerliche Kultur miterledigt. Die in
den Propagandaschlachten gestählten waren bestens präpariert, die an ihre
Stelle tretenden kulturindustriellen Produkte aufzunehmen. Gerade deren Harmlosigkeit
und scheinbare Ideologielosigkeit waren geeignet, eine politischen und kulturellen
Neubestimmung aus dem Weg zu gehen. Ideologie geriet unter Generalverdacht. Kulturindustrie
brauchte keine zusätzliche Ideologie mehr, sie war ihre eigene: die Welt so,
wie sie ist. Die ästhetische Verarmung der Mittel läßt keinen Platz
mehr für Bedeutungen, ihre Abbildhaftigkeit erstickt noch die letzte Fragestellung,
und das Fernsehen als Medium macht die Welt zum "Nippes" im Wohnzimmer.
Kulturindustrie hebt die Differenz von höherer und niederer Kultur auf. Sie
erschöpft sich nicht in der Beschaffenheit ihrer Produkte, wie einige ihrer
Kritiker suggerieren, nicht in der Form, ihrer Produktion und Verbreitung, sondern
hat eben auch den Charakter einer fundamentalen Rezeptionsweise angenommen, die
ein außen nicht kennt. Insofern ist die Verwandlung der Barbarei in Kultur
ein unausweichlicher Prozeß, in dem das Recht der Opfer auf Erinnerung und
die Notwendigkeit, ihre Leiden zum Ausdruck zu bringen mit der Form der Verbreitung
und Rezeption zusammenfließen.
Doch die Dimension der Verbrechen unterliegt noch immer dem Problem ihrer Darstellung.
Hat &hibar;Holocaust® mit dem Mittel der Personalisierung, der Anpassung ans
Thema der Kulturindustrie, eine Identifizierung mit den Leiden der Opfer auslösen
können, so erscheint ihre Darstellung dennoch absolut inadäquat und verharmlosend.
Sie suggeriert nämlich, daß die Persönlichkeit der Opfer in ihrer
seelischen Einheit und die menschlichen Beziehungen untereinander intakt geblieben
seien, abgesehen von dem Problem, daß gut genährte Schauspieler unmöglich
einen Eindruck der ungeheuerlichen körperlichen Qualen vermitteln können.
Das "Hallo, wie gett's. - Mir gett's gut" in Auschwitz ist ein Hohn auf
die dortigen Verhältnisse, wo die Übernahme des aufgezwungenen wölfischen
Prinzips durch die Opfer ihre Lebensgrundlage und den totalen Sieg des Terrorregimes
bedeutet.
Das Fiktionale, dessen Darstellung sich für Lanzmann verbietet, betrifft das
Problem, daß ein Bild herzustellen von dem, was dort gewesen ist, gar nicht
anders als verharmlosend sein kann. Wie auch &hibar;Schindlers Liste®, der nicht
einmal den makabren Höhepunkt und Suspense-Trick der Gaskammern, die sich dann
doch als Duschräume herausstellen, ausspart, präsentiert &hibar;Holocaust®
ein Bild, wie es in Auschwitz ausgesehen haben soll. Diese Bildvorstellung ersetzt
die notwendige Einbildungskraft. Sie erspart den Aufwand, sich das Schlimmste ausmalen
zu müssen. Und dennoch ist vielleicht gerade die Verharmlosung in einem Medium,
an dessen Darstellungsweise die einzelnen so gewöhnt sind, daß sie anderes
zu verarbeiten schwer in der Lage scheinen, die einzige Form, diese überhaupt
zu erreichen. &hibar;Holocaust® war auch die erste simultane Massenrezeption
der eigenen Geschichte. Als Alternative zur Emotionalität und Konstruktion
der fiktionalen Story läßt sich die vermeintliche Rationalität und
Authentizität des Dokumentarfilms kaum verteidigen. Was an &hibar;Hitler -
eine Karriere® zu sehen war, ist ja gerade der Mißbrauch der Authentizitätserwartung.
Es kommt also weniger auf das Material als vielmehr auf die Intention und ihr Gelingen
an, mit der die Geschichte bearbeitet wird. So entsteht im besten Fall im Fiktionalen
Authentizität als Teil seiner Erfindung und im Dokumentarischen als Teil seiner
Konstruktion. Doch das Problem der Rationalität selbst eines so engagierten
Dokumentarfilms wie &hibar;Mein Kampf® ist, daß er die Individuen aussparen
muß. Sie sind als Masse Opfer des Geschichtsprozesses. Die Frage ist, wie
überhaupt Diskontinuität als wesentliches Merkmal der Erfahrung der einzelnen
in einem Medium repräsentiert werden soll, das fast zwangsläufig den Eindruck
von Kontinuität erzeugt. Womöglich ist deshalb &hibar;Shoah® der einzige
Film, der den Individuen zu ihrem Recht verhilft, weil er ihre Beschädigungen
sichtbar werden läßt, den Niederschlag des Allgemeinen in den einzelnen
aufdeckt. Er erzeugt die Zeugnisse selbst, die, obwohl die Zeugen ihre Rollen nachspielen,
nichts gespieltes haben. Ihre Reaktionen, ihre Gesten, das Nicht-Gesagte sind auf
eine schockierende Weise authentisch. Sie werden zu Spuren von Erfahrung. Eine solche
Authentizität kann Fiktion nicht erreichen, nicht selbst verbürgen, sie
muß es sich aus anderen Quellen verschaffen. Doch setzt &hibar;Shoah®
eine Vorstellungskraft voraus, die den an Abbilder sich Klammernden, Geschwindigeit,
Farbe und Turbulenz Gewöhnten systematisch ausgetrieben wurde.
So bildet sich das Dilemma, daß die Monstrosität und die Ursache der
nationalsozialistischen Verbrechen in ihrem ganzen Gehalt in einem einzigen Zeugnis
gar nicht vermittelt werden können. Der Vorwurf, &hibar;Holocaust® kläre
nicht über die Gründe auf, wie es zu alldem kommen konnte, gilt für
&hibar;Shoah® noch viel mehr, ist aber in seinem Zusammenhang nie gefallen.
Er ist in beiden Fällen auch nicht berechtigt, erweisen sich die Grenzen der
Repräsentierbarkeit doch u.a. in der Unmöglichkeit, erschöpfend Auskunft
darüber zu geben, was damals geschah.
Daß sich im deutschen Wortschatz für die nationalsozialistischen Verbrechen
kein Name, geschweige denn ein Begriff fand, spiegelt die Schwierigkeit, darüber
zu sprechen, wider. Nahm man den Namen Auschwitz als Metapher fürs ganze, verschwand
hinter ihm doch das Unbegriffene. Er bezeichnete, woran nicht gerührt werden
durfte. Man nannte den Massenmord nicht einfach Massenmord, nicht weil auch dieses
Wort nicht ansatzweise an den Abgrund des Verbrechens führt, sondern weil in
ihm das Unrecht und seine strafrechtliche Relevanz Betonung gefunden hätte,
was die Restaurateure tunlichst zu vermeiden wußten. Mit der Übernahme
des Begriffs &hibar;Holocaust® ist der Abstand noch gewachsen, sowohl, weil
er die Erinnerung an die Fernsehserie nahelegt, als auch als undurchschaubares "Fremdwort".
Ebenso ergeht es "Shoah", dessen Bedeutung der Verzweiflung und des sinnlosen
Unheils dem Leiden der Opfer zwar näher kommt als die des Martyriums in "Holocaust",
aber die Fremdheit nicht beseitigen kann, die nicht nur dadurch hervorgerufen wird,
daß diese Begriffe einem jeweils anderen Wortschatz entstammen, sondern auch
daß sowohl "Holocaust" als auch "Shoah" Begriffe der Opfer
sind. Es fehlt ein adäquater Täterbegriff, auch weil die Täter eine
Auseinandersetzung, eine Anerkennung ihrer Taten immer verweigert haben. Erst als
man sich mit lebenden Tätern nicht mehr konfrontieren mußte, begann sich
die öffentliche Lähmung zu lösen. Doch kaum schob sich das Thema
der nationalsozialistischen Verbrechen etwas ins Bewußtsein, versuchten einige
Historiker mit findigen Vergleichen und Kausalitätsbeziehungen den NS endgültig
aus den Köpfen in die Mottenkiste hinwegzuzaubern. Man wollte einen Schuldkomplex
loswerden, den niemand empfand, außer ein paar Nachgeborenen, ohne daß
sie Schuld traf - ganz abgesehen davon, daß die Rede vom Komplex so tut, als
wäre die Schuld eine eingebildete. Doch der Versuch mißlang. Die Forderung
nach Erinnerung hatte einen solchen Auftrieb erhalten, daß sich im öffentlichen
Diskurs eine Wende vollzog. Sie begann mit Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag
der Befreiung, in deren Folge es zum guten Ton eines jeden Funktionsträgers
gehörte, bedauerndes Mitgefühl mit den Opfern des nationalsozialistischen
Terroregimes zu äußern.(****) Immerhin hat das öffentliche Sprechen
die Schlußstrichmentalität in den Hintergrund gedrängt. Doch der
Diskurs blieb ein kultureller, weil aus den Beteuerungen keine politischen Konsequenzen
mehr gezogen werden mußten. Die Fälle Jenninger und Heitmann erhöhten
eher die Wirksamkeit der Beteuerungen und zeigten die noch immer vorherrschende
Verkrampfung.(*****)
Ein entscheidender Wandel im Verhältnis zur eigenen Geschichte hätte auch
eine Reflexion der Gegenwart bedeuten müssen. Sind doch wesentliche Grundvoraussetzungen
des NS über dessen Zusammenbruch hinaus enthalten geblieben. Noch heute steht
einem ökonomischen System, das die einzelnen weitgehend zum Material seiner
eigenen Gesetze erniedrigt, ihre Subjektwerdung im Keim erstickt, die Unmündigkeit
derer gegenüber, die mittlerweile ihre Ohnmachtsgefühle, die sie nicht
mehr in festverankerten autoritären Strukturen aufgehoben wissen, umlenken
auf ein fragwürdiges Amüsement, das ihnen diejenigen bereiten, die jene
gute Laune als Produktionsbedingung einfordert und erneut verwertet. Die Bedrohung
der materiellen Lebensgrundlagen eines jeden einzelnen erhöht den gesellschaftlichen
Anpassungsdruck, ohne daß Mitmachen noch mit dem einmal gewährleisteten
Schutz belohnt würde. Die gesellschaftliche Kälte, die Voraussetzung für
die verübten Verbrechen war, lebt fort in der aufgezwungenen Konkurrenz der
Individuen, deren Monadisierung den letzten Halt, den sie - wie falsch auch immer
- in Familien oder sozialen Milieus noch hätten finden können, zerstört.
Dumpfes Fröhlichsein oder Massaker erscheinen als verbleibende Reaktionsweisen
in einer entgesellschaftlichten Welt, die den Sachzwang zur universalen Metapher
der Abdankung jeglichen Gestaltungswillens erhebt und damit freiwillig eingesteht,
dem blinden Wirken des dinglichen Zusammenhangs sich längst schon unterworfen
zu haben.
In dieser Unterwerfung liegt auch der Anknüpfungspunkt der alten Verkehrung
von Tätern und Opfern. Die Bestätigung der Ohnmacht der einzelnen macht
sie blind für ihr Handeln. Wer zum Angriff auf Flüchtlinge und Nicht-Deutsche
bläst, kann sich getrost als Leidtragender fühlen, weil er sein Einverständnis
mit der ökonomischen Rechnung, daß ein paar Millionen Menschen zuviel
dieses Land bevölkerten, bereits gegeben hat. Tatsächlich Opfer darin,
daß auch er selbst dazu gehören könnte, machen ihn die Schlüsse
die er daraus zieht, zum Täter und die Gründe, sich als Opfer zu empfinden,
zu falschen.
Die Wahrnehmung bildet sich nicht mehr an Erfahrung. "Wer 'im Bilde sein',
wer wissen will, was es draußen gibt, der hat sich nach Haus zu begeben."(37)
Die Medialisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit verwischt die Grenze von
Bild und Realität. Das Übergewicht visueller Aktivität des Körpers
ist dem Traum verwandt. Die dissoziierte Persönlichkeit findet Anschluß
an die Bilder, sei es als Verdopplung oder Desiderat. Mittlerweile wird das Bild
zunehmend vom Flackern und Zucken optischer Reize abgelöst, was noch den letzten
Schein von Zusammenhang liquidiert. Die Erregung, in die sie versetzen, fließt
dem Aggressionstrieb zu, die Leere, die sie hinterlassen, erzeugt seine Virulenz.
Kulturindustrie beschädigt Vernunft und Gefühl gleichermaßen. Sie
bemächtigt sich der Individuen, indem sie die Übermacht des Visuellen
durchsetzt, die Vorstellungskraft durch ihre Erzeugnisse kolonisiert. Die Unverschämtheit,
im Nachhinein von Marktgesetzen zu sprechen, ist Zeichen ihres Sieges. An Surrogate
sich heftend, regredieren Gefühle auf ihre kümmerlichste Form. Hilflos
wird, wer sich auf die Seite der Vernunft schlägt und auf sie sich berufend,
das Urteil über die "leichte Kunst", über &hibar;Holocaust®
und &hibar;Schindlers Liste® fällt. "Wer sie als Verrat am Ideal des
reinen Ausdrucks beklagt, hegt Illusionen über die Gesellschaft."(38)
Auch wird das Beharren auf Vernunft als Einwand gegen die auf Emotionalisierung
zielenden Verarbeitungsweisen der nationalsozialistischen Verbrechen zur Rationalisierung.
In ihr findet sich die Abspaltung der Affekte wieder. Wer fordert, man dürfe
sich von den wie unzulänglich auch immer dargestellten Leiden der Opfer nicht
rühren lassen, verkennt, daß sich jahrzehntelang tatsächlich kaum
einer rühren ließ. Selbst Sentimentalität, als Element des Kitschs
mehr ins eigene Gefühl verliebt als wirkliche Einfühlung, besitzt immerhin
noch den Vorzug, "für einen Augenblick die Verhärteten (zu) erweichen,
sie den härteren Befehlshabern (zu) entziehen."(39) Sie enthält das
Potential, die Trennung von Wissen und Fühlen aufzuheben.
Das Auslösen von Gefühlen und der Mechanismus der Identifikation ist nicht
bloß ein Merkmal der Filmfabrik Hollywood sondern eine Eigenschaft des Films
selbst. Er liegt dem Körperlichen näher als dem Geistigen. "Begriffliches
Denken ist ein filmfremdes Element."(40) Claude Lanzmann täuscht sich,
wenn er betont, in seinem Film könne man nicht weinen. Wenngleich er nicht
die persönliche Geschichte der Zeugen vorstellt, ist angesichts ihrer individuellen
Brüche die Empfindung des Zuschauers "schneller". Das Gefühl
wird zur Bedingung des Wissens.
Das Bewußtsein ist nicht resistenter gegen die Wechselfälle der Geschichte
als das Gefühl. Beide haben vor den nationalsozialistischen Verbrechen versagt.
Während Vernunft in kalte Rationalität der Geschäfts- und Vernichtungsabläufe
mündete, wurden die Gefühle nicht mehr zugelassen und ihnen nicht erlaubt,
etwas zur Beurteilung der Lage beizutragen. Verleugnung kann sich sowohl gegen das
Wissen als auch gegen eine affektive Besetzung richten.
Die Geschichte des Massenmords ist in einem kulturellen Erzeugnis nicht repräsentierbar.
Es kann keine privilegierte Zugangsweise zu ihr geben. Die Verwandlung der Barbarei
in Kultur hat in den verschiedensten Erzählweisen stattgefunden. Ihnen gemeinsam
ist der Charakter der Konstruktion. Es kommt darauf an, die jeweils ihnen innewohnende
Deutung der Vergangenheit zu entschlüsseln. Der kategorische Imperativ, "daß
Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe"(41), ist auch
heute noch die oberste Forderung an ein schwächer werdendes Bewußtsein
und schwindende Anteilnahme.
Tim Darmstädter,
Die Verwandlung der Barbarei in Kultur. Zur Rekonstruktion der nationalsozialistischen
Verbrechen im historischen Gedächtnis; in: Michael Werz (Hrg.) Antisemitismus
und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, Frankfurt
am Main 1995 Dort können auch die Literaturhinweise nachgelesen werden
(*) Das Vorhaben, die Spuren der Vernichtung restlos zu beseitigen, war nur der
Schlußpunkt einer am Beginn des Gesamtprozesses einsetzenden schrittweisen
Entfernung der Juden aus dem Berufsleben, der Entrechtung, Enteignung, der räumlichen
Separation durch Ghettoisierung und Deportation und damit auch der schrittweisen
Entfernung aus dem Gedächtnis. Nur so ist erklärbar, warum niemand nach
dem Verbleib der deportierten Juden (sich) gefragt hat.
(**) Die Affektabspaltung ist freilich ein basales Element gesellschaftlicher Entwicklung
im Kapitalismus. Marx beschreibt die von heftiger Gegenwehr begleitete Durchsetzung
der Maschinisierung des Arbeitsprozesses als Subsumption des einzelnen unter die
Maschine. Bereits die Manufaktur "verkrüppelt den Arbeiter in eine Abnormität,
indem sie sein Detailgeschick treibhausmäßig fördert durch Unterdrückung
einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen, ... das Individuum wird geteilt,
in das automatische Triebwerk eine Teilarbeit verwandelt."(5) In der Fabrik
schließlich werden die Arbeiter einem toten Mechanismus "als lebendige
Anhängsel einverleibt"(6).
- Es mußten natürlich nicht alle Affekte abgespalten werden. Der NS scheint
auf den ersten Blick eine Orgie des Aggressionstriebs gewesen zu sein. Doch wenn
auch vielerorts sadistische Exzesse sich austobten, waren die Destruktionsenergien
nicht das wesentliche Merkmal der nationalsozialistischen Verbrechen. Hitlers "Antisemitismus
der Vernunft" forderte ja, sich gerade nicht von destruktiven Affekten
leiten zu lassen.
(***) Gemeint ist hier die "zweite Generation": Die Zeit der großen Theorien und
Revolutionshoffnungen der Protestbewegung war vorbei, man zog sich in Handwerkskollektive
oder Landkommunen zurück, entdeckte die gefährdete Natur und sprach von
der "Politik in der ersten Person".
(****) In der in solchen Festreden äußerst beliebten Redewendung, die nationalsozialistischen
Verbrechen seien "in deutschem Namen" verübt worden, überlebt
die Verleugnungstendenz. Sie suggeriert, daß irgendwelche Fremden sich unseres
Namens bedient hätten, um die Verbrechen zu begehen und damit den guten deutschen
Namen beschmutzten. Dies ist der Neigung verwandt, die Angriffe auf Flüchtlinge
und hier lebende Nicht-Deutsche in erster Linie als Beschädigung des deutschen
Ansehens im Ausland aufzufassen. Sprache enthüllt hier, daß Scham und
Trauer nur proklamiert wurden, während man sich im Grunde als Opfer fremder
Mächte fühlt, also selbst zu beklagen ist.
(*****) Mittlerweile weiß jeder, was er zu sagen hat. Vom Bundespräsidenten
bis hinunter zum Provinzjournalisten haben sich die Sprachregelungen durchgesetzt,
die gut ankommen. "Hier öffnen die Toten den Lebenden die Augen",
dichtete Roman Herzog während der 50-Jahr-Feiern der Befreiung von Auschwitz
ins Gedenkbuch Birkenau, was in der FR eine Hymne auf die "Würde"
zum Anschwellen brachte: "Aussage eines Deutschen zwischen den Namenszeilen
internationaler Prominenz, ... eine kleine und zugleich starke Geste". Von
wenigen Rechtsradikalen abgesehen wird nicht mehr geleugnet oder verschwiegen, sondern
gefeiert. Titelgeschichten, Sonderseiten, Non-Stop-Gedenkprogramme, Veranstaltungsreihen,
der Spielfilm zum Thema und die Live-Übertragung aus Auschwitz, Gedenkstättendiskussionen
aller Orten haben eine Erinnerungsindustrie entstehen lassen, die den nunmehrigen
Wunsch nach dem "richtigen" Gedenken zu vermarkten weiß, indem sie
dessen Schein produziert. Das Tabu, an Auschwitz nicht zu rühren, hat eine
Verwandlung erlebt. Ist die Übereinkunft der Mehrheit, über die begangenen
Verbrechen zu schweigen, durch &hibar;Holocaust® und Historikerdebatte aufgebrochen,
das Thema damit gewissermaßen enttabuisiert worden, so setzt sich nun zunehmend
ein Jargon der Trauer durch, der ein viel härteres Tabu heraufbeschwört,
indem er sich gegen Kritik feit. Geht es aber um konkrete Forderungen nach Entschädigung
oder der Anerkennung anderer Opfergruppen, lebt die alte Starrheit unverändert
fort.
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt