Die politische Dimension von Vorurteilen
Es soll hier nur über soziale Vorurteile gesprochen werden, also über Vorurteile, die gesellschaftlich produziert werden und die - wie eingeschränkt auch immer - gesellschaftlich gebilligt werden. Beispiele dafür sind: der Antisemitismus, die nationalen Stereotypen und die Feindbilder. (1)
Eigentlich ist der Ausdruck "soziale Vorurteile" ein Pleonasmus, denn "private Vorurteile" werden in der Regel nicht als Vorurteile angesehen, sondern derjenige, der ein individuelles Wahngebilde sich aufbaut, gilt als krank.(2) Wenn beispielsweise ein Mensch von der fixen Idee besessen ist, alle rothaarigen Kellner trachteten nach seinem Leben, so wird er sicher an einen Psychiater verwiesen, obwohl diese seine Wahnidee psychologisch nichts anderes ist als die Wahnidee Hitlers von der jüdischen Weltverschwörung. Der Unterschied zwischen der Kellner-Wahnidee und der Juden-Wahnidee liegt lediglich darin, daß es sich im ersten Fall um einen individuellen Wahnsinn - eine Form der Paranoia - handelt, während die Vorstellung von der jüdischen Weltverschwörung auf eine lange Geschichte gesellschaftlicher Approbation zurückblicken kann, von breiten Schichten der deutschen Gesellschaft als wahr geglaubt wurde, weil diese Wahnvorstellung bestimmte gesellschaftliche und individuelle Bedürfnisse befriedigte.(3)
Ein Vorurteil hat drei Aspekte. Zunächst den kognitiven Aspekt: Ein Vorurteil spricht ein Urteil aus. Beispiel: Alle Neger stinken. Zweitens hat ein Vorurteil einen affektiven Aspekt, das bedeutet, daß ein Vorurteil eine gefühlsmäßige Ladung besitzt. Beispiel: Jedesmal, wenn ich in der Untergrundbahn neben einem Neger sitze, wird mir schlecht. Und drittens hat ein Vorurteil einen konativen Aspekt, also eine Disposition zum Handeln. Beispiel: Jedesmal, wenn sich in der Untergrundbahn ein Neger neben mich setzt, dann wechsele ich den Platz.(4) Die Disposition zum Handeln ist natürlich die gefährlichste Eigenschaft, die Vorurteile haben, denn dieses Handeln kann von Diskriminierung über Verfolgung bis hin zu Pogrom und Mord reichen. Eine geläufige Definition von Vorurteil lautete: "Von anderen ohne ausreichende Begründung schlecht denken".(5) Mit diesem "schlecht denken" könnte man sich abfinden, wenn nicht jedes Vorurteil die Tendenz hätte, sich in Gewalttaten gegen denjenigen fortzusetzen, der mit dem Vorurteil belegt wird. Allport hat die fünf Eskalations-Stufen feindseligen Handelns beschrieben, die sich aus einem Vorurteil entwickeln können: Am Anfang steht die Verleumdung und die Vermeidung, es folgen die Diskriminierung und schließlich die körperliche Gewaltanwendung und Vernichtung.(6) Deshalb gibt es keine "unschuldigen" oder "harmlosen" Vorurteile; im antisemitischen Witz liegt bereits der Keim zum Pogrom. Für Vorurteile und Feindbilder gilt in besonderem Maße: pricipiis obsta, den Anfängen gilt es zu widerstehen. Das Bemühen, Vorurteile kritisch anzugehen und den Versuch zu machen, sie abzubauen, gehört zu den wichtigsten Aufgaben der politischen Bildung.(7)
Freilich handelt es sich bei dem Versuch, Vorurteile abzubauen, um ein schwieriges Unterfangen. Ein Vorurteil ist nicht einfach ein falsches Urteil, sondern ein hartnäckig falsches Urteil, d. h. es sträubt sich gegen die Berichtigung. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zwischen einem falschen oder vorläufigen Urteil und einem Vorurteil: Falsche Urteile, vorläufige Urteile können durch neue Erfahrungen berichtigt werden. Dazu ein Beispiel: Wenn ich den Wal als einen Fisch angesehen habe aufgrund seiner Form und seiner Lebensweise, dann aber in einem Biologielehrbuch erfahre, daß der Wal ein Säugetier, also kein Fisch ist, wird es mir keine Schwierigkeiten bereiten, mein falsches Urteil zu berichtigen. Ein Vorurteil zeichnet sich aber dadurch aus, daß es sich hartnäckig gegen diese Berichtigung durch neue Erfahrungen wehrt, daß es resistent ist gegen neue Erkenntnisse. Diese Abschottung des Vorurteils gegen neue Erfahrungen wird vor allem durch zwei Mechanismen bewirkt. Erstens durch das, was in der Psychologie selektive Wahmehmung genannt wird. Wenn ich beispielsweise das Vorurteil habe, daß es in Frankreich schmutziger ist als in Deutschland, werde ich in Frankreich auf jeder Straße und in jedem Hotelzimmer Schmutz sehen und werde durch diese auswählende Wahrnehmung mein Vorurteil als berechtigt empfinden. Zweitens: Vorurteile verhindern neue Erfahrungen dadurch, daß der Vorurteilsbehaftete den Kontakt mit dem Objekt seines Vorurteils vermeidet. Der Antisemit wird Bekanntschaft mit Juden, der Rassist Berührung mit Negern z.B. scheuen; er wird sich gegen diese neue Erfahrung wehren. Vorurteile sind gewissermaßen ein liebgewordenes Mobiliar unseres Weltbildes. Wir haben uns mit den Vorurteilen eingerichtet, und wir möchten nicht verunsichert werden dadurch, daß dieses Weltbild in Gefahr kommt.
Wie entsteht die Bereitschaft im Menschen, Vorurteile anzunehmen und sie zu einem integrierten Bestandteil seines Denkens und Handelns zu machen? Die ersten Voraussetzungen zur Vorurteilsbereitschaft entstehen bereits in frühester Kindheit. Schon der Säugling erwirbt die Disposition, die ihn später befähigt, Vorurteile in sein Weltbild einzubauen und nach ihnen sein Verhalten einzurichten. Zu den wichtigsten Dingen, die ein Säugling im ersten Lebensjahr lernen muß, gehört die Unterscheidung zwischen Innen und Außen. Der Säugling muß seinen eigenen Körper, seine Gefühle, seine Bedürfnisse, seine Wünsche von der Umwelt unterscheiden können. Das ist ein sehr schwieriger Prozeß, denn für den Säugling sind zunächst sein eigener Körper, das Bettchen, die Mutter eine Einheit. Die Differenzierung zwischen dem Selbst und der Umwelt beginnt damit, daß der Säugling feststellt, daß Dinge, die er sich gerne zueignen würde, wie etwa die Mutterbrust, offensichtlich seinem Willen nicht gehorchen, also "draußen" sind, während andere Dinge, die er gerne abweisen möchte, wie etwa die Leibschmerzen, zu ihm gehören, ein Teil seines Selbst sind. Der Säugling muß also lernen zu unterscheiden zwischen den Reizen, die aus der Umwelt auf seinen Körper treffen, und den Triebregungen, die aus seiner eigenen Person kommen. Freud hat diese Fähigkeit, die der Säugling erwerben muß, "Realitätsprüfung" genannt.(8) Diese Realitätsprüfung, also die Fähigkeit des Menschen, zwischen Innen und Außen unterscheiden zu können, zwischen der Welt draußen und den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, kann natürlich niemals vollständig gelingen. Wir können die äußere Welt nur als Subjekt erfahren, das heißt, alle Wahrnehmung ist durch unser Wesen, durch unsere Befindlichkeit, durch unsere Aktivität vermittelt.
Aber die Fähigkeit zur Realitätsprüfung kann verschieden stark entwickelt sein. Manche Menschen sind in hohem Maße fähig, die äußere Realität vergleichsweise unbeeinflußt von ihren eigenen Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen wahrzunehmen; andere dagegen projizieren ihre Innenwelt so stark auf die Umwelt, daß sie kaum imstande sind, die Realität unvoreingenommen sehen zu können.
Was sind nun die Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit der Säugling diese Fähigkeit der Realitätsprüfung erwirbt? Ich möchte nur einige dieser Bedingungen nennen. Zunächst ist wichtig, daß der Säugling ein Gefühl der Sicherheit und Verläßlichkeit erwirbt, also die Mutter sich in ihrer Anwesenheit und Abwesenheit auf die Bedürfnisse des Säuglings einstellt und für ihn diese Anwesenheit oder Abwesenheit kein irrationales Ereignis ist. Zu häufiges Anwesendsein und zu lange Abwesenheit sind schlechte Bedingungen für die Entwicklung dieses Stabilitätsgefühls. Auch darf die Mutter den Säugling nicht für ihre eigenen Gefühle instrumentalisieren, also ihr eigenes Gefühlsdefizit - entstanden etwa in der Ehe oder dern Beruf - durch Überhäufen des Säuglings mit Zuwendung und Gefühlen auszugleichen versuchen.(9) Dies sind alles sehr subtile Vorgänge, die auch keineswegs planbar sind, sondem in hohem Maße davon abhängen, inwieweit die Mutter selbst jene Stabilität und Ausgeglichenheit besitzt, die sie dem Säugling vermitteln soll. Und dies wiederum hängt ab von ihren eigenen frühesten Erfahrungen und der realen Situation, in der sie lebt.
Erwirbt der Säugling die Fähigkeit zu angemessener Realitätsprüfuungen nicht, dann ist damit die erste Voraussetzung für vorurteilhaftes Verhalten gegeben, denn vorurteilhaftes Verhalten bedeutet ja nichts anderes, als daß der Mensch Teile seines Inneren - Bedürfnisse, Wünsche, Triebe - auf ein äußeres Objekt projiziert und dann glaubt, das, was er als Bild im Kopf hat, sei das Bild der Realität. Margarete Mitscherlich hat dies einmal so formuliert:
"Nur wenn wir die Fähigkeit entwickelt haben, zwischen äußeren und innerseelischen Anlässen zum Haß zu unterscheiden, läßt sich feststellen, ob er aus tatsächlichen Unmenschlichkeiten oder Kränkungen entsprungen ist oder aus einem Phantasievorgang, in dem einem Haßopfer die Unmenschlichkeit angedichtet wird".(10)
Daß die Entscheidung, ob ein Mensch eine angemessene Fähigkeit zur Realitätsprüfting erwirbt, bereits in der frühesten Kindheit fällt, bedeutet natürlich nicht, daß Vorurteilsbereitschaft gewissermaßen eine im ersten Lebensjahr erworbene Determinante ist, die den Menschen für den Rest seines Lebens prägt. Davon kann überhaupt nicht die Rede sein, sondern das, was in diesem ersten Lebensjahr erzeugt wird, ist lediglich eine Disposition, die aber, wenn im weiteren Sozialisationsprozeß verstärkende Erfahrungen hinzukommen, zu einer verfestigten Verhaltensweise wird. Wenn also der Mensch im Heranwachsen immer wieder die Erfahrung der Unsicherheit, der Nichtverläßlichkeit macht, dann wird er mit großer Wahrscheinlichkeit vorurteilhaft reagieren.
Dieses Phänomen, daß Menschen flir eine realitätsangemessene Wahrnehmung der Welt Stabilität und Sicherheit brauchen, läßt sich auch in Krisen und Ausnahmesituationen feststellen. Wenn Menschen in solche Situationen kommen, dann geschieht es sehr oft, daß ihre differenzierten Umweltbilder zusammenbrechen und daß sie seelisch auf einen früheren Zustand zurückfallen und ihre Fähigkeit zur Realitätskontrolle wieder verlieren. Das läßt sich sehr gut am Beispiel des politischen Terrorismus studieren. Nicht nur bei den Terroristen ist jeder Realitätsbezug verlorengegangen; auch die emotionalisierten Reaktionen in der Öffentlichkeit zeigen dieses Zusammenbrechen der differenzierten Umweltbilder und der Fähigkeit der Realitätsprüfung. Vorurteile erfüllen für den Menschen, der sich an sie klammert, eine ganz bestimmte Funktion; etwa die Funktion, Unsicherheit und Bedrohung in seelischer Weise zu bewältigen. Vorurteile sind ein Instrument, um Angst abzuwehren. Sie dienen dazu, Sicherheit für das eigene Handeln zu finden, die Welt gewissermaßen überschaubar zu machen, für alles die richtige Schublade zu finden. Damit hängt zusammen, daß es Wellen des Antisemitismus oder Wellen von Vorurteilsbereitschaft gibt. Diese Welle von Vorurteilen scheint im Anschwellen begriffen zu sein, nicht nur in der Bundesrepublik, sondem etwa auch in Frankreich. Die Ursache dafür, daß die überwunden geglaubten nationalen Stereotypen und Vorurteile wiederum belebt werden, liegt in der Verunsicherung, die in allen europäischen Staaten durch krisenhafte Erscheinungen in Wirtschaft, Politik und Alltagsleben hervorgerufen worden sind. Die Welt ist für sehr viele Menschen nicht mehr überschaubar, und insbesondere sind für sie die Folgen ihres Handelns nicht mehr kalkulierbar. Wenn vor 10 Jahren ein junger Mensch in der Bundesrepublik das Lehrerstudium begann, dann konnte er abschätzen, daß er zu einem bestimmten Zeitpunkt in seinem Beruf würde arbeiten können. Heute ist das überhaupt nicht mehr absehbar. Das Entscheidende dabei ist nicht das Risiko der Berufswahl, sondern die Irrationalität dieser Verteilung von Lebenschancen, die etwa darin besteht, daß es lediglich auf die Stärke des Abitujahrgangs ankommt, ob ein junger Mensch einen Studien- oder Arbeitsplatz bekommt oder nicht. Mit anderen Worten: die Lebenschancen von ganzen Generationen junger Menschen hängt für sie von völlig irrationalen, von ihnen nicht beeinflußbaren Faktoren ab. Das ist mit der These gemeint, daß für sehr viele Menschen nicht mehr das eigene Handeln in bezug auf einen möglichen Erfolg abschätzbar ist. Das gleiche gilt auch für andere Bereiche. So sind etwa Konjunkturschwankungen, sektorale ökonomische Prozesse vom einzelnen überhaupt nicht mehr zu überschauen.
Eine zweite Funktion der Vorurteile ist das, was man Stabilisierung des Selbstwertgefühls nennen könnte. In Amerika gehören die weißen Dockarbeiter zu der sozial am niedrigsten eingeschätzten Gruppe der Arbeiter. Bei dieser Gruppe ist der Rassismus besonders stark. Das ist ein Beispiel für diese Funktion von Vorurteilen. Man nimmt eine niedrige soziale Position in Kauf, wenn es eine Gruppe gibt, die noch drunter steht. Das gleiche gilt natürlich aufjeder Stufe der sozialen Leiter. Dritte Funktion von Vorurteilen: sie liefern ein gesellschaftlich gebilligtes Objekt für die Aggressionsabfuhr. In den modernen Industriestaaten gibt es, wie der amerikanische Soziologe Parsons überzeugend nachgewiesen hat, ein großes Potential an Aggressivität - das wissen wir auch aus unserer Alltagserfahrung -; diese Aggressivität findet in den vorurteilsbehafteten Gruppen ein gesellschaftlich gebilligtes Objekt.(11)
Auch dafür bietet der politische Terrorismus ein Beispiel. Ich will daran erinnere, welche schlimmen Dinge etwa zutage gekommen sind, als der Stuttgarter Oberbürgermeister Rommel die Bestattung der Stammheimer Selbstmörder gestattet hatte. Damals konnte man in Leserbriefen in Stuttgarter Zeitungen lesen, diese Kerle gehörten zerstückelt und in die Kanalisation geworfen usw. Das ist ein Beispiel für die Aggressionsabfuhr, die sich an solche Ereignisse heftet. Eine vierte Funktion der Vorurteile. sie stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl, sie bilden ein Ingroup-Bewußtsein. Ich möchte dazu Mitscherlich zitieren, der das einmal so beschrieben hat:
"Der Gewinn, den ein geteiltes Vorurteil abwirft, liegt darin, daß wir in konformem Verhalten mit der Gruppe auch ihre spezifischen Erleichterungen mitgenießen dürfen. Wir dürfen mit den Wölfen heulen, wir dürfen nach Vorurteilen agieren, mithandeln und unsere eigene innere Triebspannung damit erleichtern. Die Ablenkung der Triebspannung nach außen auf Minoritätsgruppen ist gleichsam der ökonomische Trick zur Erhaltung des Gruppengleichgewichts.(12)
Vorurteile und Feindbilder haben eine individuelle und eine gesellschaftliche Funktion. Für das Individuum tragen sie zur Stabilisierung des Ichs bei. Sie vermitteln Sicherheit und vermindern die Angst. Dies bedeutet, daß Menschen umso stärker vorurteilshaft reagieren, je größer ihre Defizite in bezug auf persönliche, berufliche und gesellschaftliche Identität sind. Auf der anderen Seite sind die Inhalte von Vorurteilen gesellschaftlich vorgegeben, und sie tragen bei zur gesellschaftlichen Integration. Die Gesellschaft prämiert und akzeptiert denjenigen, der das gesellschaftliche Normen- und Vorurteilssystem teilt, während sie denjenigen mit Sanktionen belegt, der abweichende Auffassungen vertritt. Dies bedeutet, daß einerseits die Menschen, die von geringer Ich-Stabilität aufgrund geringer persönlicher und sozialer Akzeptanzerlebnisse und Zuwendung den Versuch machen, durch Integration in dieses Normen- und Vorurteilssystem sich die erforderliche Akzeptierung und Zuwendung zu erkaufen. Sie werden umgekehrt den Versuch, ihr mühsam stabilisiertes Vorurteils- und Wertsystem in Frage zu stellen, als Bedrohung empfinden und mit Angst oder Flucht reagieren.
Nun noch einige Worte zu den Objekten von Vorurteilen. Wenn die These zutrifft, daß bei Vorurteilen nicht das Objekt das entscheidende ist, sondern die Bedürfnisse, Triebspannungen und Wünsche des Subjekts, dann dürfen die Objekte der Vorurteile im Grunde austauschbar sein. Das trifft bis zu einem gewissen Grade auch zu. Es gibt allerdings historisch vorgezeichnete Vorurteilsobjekte, wie etwa die Juden im Antisemitismus oder die Neger. Aber tendenziell sind die Objekte von Vorurteilen austauschbar. Eine Eigenschaft allerdings müssen die Objekte von sozialen Vorurteilen haben. Sie müssen unterscheidbar sein.(13) Und gerade das ist ja bei den Juden mit Schwierigkeiten verbunden. Hitler hat im Sinne der Vorurteilspsychologie folgerichtig gehandelt, als er den Juden den Judenstern angeheftet hat. Neger beispielsweise sind unmittelbar erkennbar. Auch andere soziale Minioritäten wie Zigeuner sind ebenfalls unmittelbar identifizierbar. Da sind solche Hilfsmittel nicht notwendig. Die zweite Eigenschaft, die Objekte von Vorurteilen haben müssen, ist, daß sie schwach sein müssen, zugleich aber auch als Gefahr dargestellt werden können.(14)
Vorurteile sind verzerrte Bilder von der Welt, wobei die Ursachen für die Verzerrung auf individuelle und gesellschaftliche Defizite und Mängel zurückgehen. Weil Menschen aus Gründen, die in ihrer Lebensgeschichte oder in der Struktur der Gesellschaft liegen - beides ist untrennbar verbunden - nicht die äußere und innere Freiheit gewinnen können, nach der sie streben, bauen sie sich eine Welt des Wahns aus Vorurteilen und Feindbildern auf. Goethe hat einmal auf die Macht dieser zweiten Welt hingewiesen:
"...so ist außer dieser realen Welt noch eine Welt des Wahns, viel mächtiger beinahe, in der die meisten leben."(15)
Für das politische Handeln hat diese Wahnwelt der Vorurteile und Feindbilder fatale Folgen. In der Politik, besonders in der internationalen Politik, können die Menschen in der Regel keine eigene unmittelbare Erfahrung machen. Sie interpretieren deshalb die Ereignisse der Politik in der Regel nach dem Vorbild ihrer Alltagserfahrungen und projizieren dadurch ihre Alltagsvorurteile auf den Bereich der Politik. Ich möchte nur einige dieser Alltagsformeln nennen, mit denen Politik interpretiert wird: Nur Stärke zählt. Oder: wenn man angegriffen wird, muß man sich wehren und dergleichen. Die politische Realität wird auf ein Freund-Feind- Raster reduziert; es wird eine Schwarz-weiß-Zeichnung angefertigt und eine schreckliche Vereinfachung der politischen Realität vorgenommen. Dies hat zur Folge, daß eine realitätsbezogene Politik nur schwer legiti- mierbar ist. Schließlich wird die Politik als Projektionsschirm benutzt für private Ängste.(16)
Adorno hat in der Untersuchung über den autoritären Charakter diese von Vorurteilen und Stereotypen entstellte Welt, in der die meisten Menschen leben, einmal so beschrieben:
"Die autoritäre Persönlichkeit lebt in einer Welt, die sie sich als Dschungel ausmalt, wo jeder gegen jeden ist, wo die Welt betrachtet wird als gefährlich, bedrohlich, wo jedes menschliche Wesen aufgefaßt wird als selbstsüchtig, böse oder dumm. Die Sicherheit kann man dann nur durch Stärke erlangen, oder sie besteht hauptsächlich in der Fähigkeit zu dominieren. Wenn jemand nicht stark genug ist, ist die einzige Altemative, einen starken Beschützer zu finden."(17)
Wie kann man diese Wahnwelten aufbrechen? Wie kann man Menschen anleiten, sich von der unheilvollen Wirkung von Vorurteilen und Feindbildem freizumachen? Richtigstellende Informationen allein genügen wohl kaum. Aufklärung ist ungeheuer wichtig, aber sie genügt nicht. Die Vorurteile sind zu fest in der Struktur der Menschen verankert; sie haben eine zu starke Funktion für den einzelnen und die Gesellschaft, als daß sie durch bloßes Argumentieren abgebaut werden könnten. Das ist ein gesicherter Bestand der Forschung. Das leuchtet auch ein, denn Vorurteile haben ja relativ wenig mit dem Gegenstand zu tun, den sie zu bezeichnen vorgeben. Adorno hat dies einmal am Antisemitismus exemplarisch gezeigt: man gehe bei dem Versuch, durch Gegeninformation antisemitische Vorurteile abzubauen, allzusehr von der Voraussetzung aus, der Antisemitismus habe etwas Wesentliches mit den Juden zu tun und könne durch konkrete Erfahrungen mit Juden bekämpft werden, während der genuine Antisemit vielmehr dadurch definiert sei, daß er überhaupt keine Erfahrungen machen könne, daß er sich nicht ansprechen ließe.(18) Sigmund Freud hat einmal folgende Geschichte erzählt: Wenn jemand komme und sage, der Erdmittelpunkt besteht aus einer Eisen-Nickel-Legierung, dann könne man mit diesem Menschen ein wissenschaftliches Streitgespräch mit Argumenten führen. Wenn aber jemand komme und sage, der Erdmittelpunkt besteht aus Erdbeermarmelade, dann sei ein Argumentieren relativ sinnlos. Freud schlägt dann eine Wendung des Blicks vor. Dann sei eigentlich die Frage sehr viel interessanter, was für ein Mensch das sei, der diese Auffassung habe.(19) Wieso komme er dazu, diese Auffassung zu vertreten? Welche Bedürfnisse sind es, die ihn so wahrnehmen und denken lassen?
Vorurteile sind Gewaltstrukturen in unseren Köpfen. Sie sind ein Element der Unfreiheit und deshalb nicht allein durch Argumente zu bekämpfen. Vorurteile sind das Ergebnis erduldeter Gewalt, die an einen dritten weitergegeben wird. Deshalb heißt Vorurteile bekämpfen, den Menschen größere Chancen der Selbstverwirklichung zu geben, sie anzuleiten, sich selbst besser akzeptieren zu können, ihr Ich zu stärken. Vorurteile bekämpfen heißt, den gesellschaftlichen Druck, der auf den Menschen lastet, zu verringern, ihnen die Angst und die Unsicherheit zu nehmen, ihren Freiheitsspielraum zu vergrößern. So ist die Frage des Abbauens von Vorurteilen sehr eng mit der Stärkung der Demokratie verbunden. Stärkung der Demokratie bedeutet aber nicht, wie man heute gelegentlich zu glauben scheint, eine Verstärkung der Polizei, sondern ein Vorantreiben all der mühsamen Prozesse, die die Selbstbestimmung und die Freiheit des Menschen von äußeren und inneren Zwängen steigern. Abbau von Vorurteilen bedeutet aber auch Aufklärung. Aufklärung nicht im Sinne von Gegeninformation, sondern Aufklärung über die Mechanismen, nach denen Vorurteile funktionieren.
Bei Menschen, die Vorurteile zu einem Teil ihrer Persönlichkeitsstruktur gemacht haben, ist der Frontalangriff auf Vorurteile zum Scheitern verurteilt. Allein Selbsteinsicht könnte hier dazu fuhren, die Verteidigungs- und Abwehrstellungen zu durchbrechen, mit denen das Vorurteilssystem abgesichert ist. Erst Lemprozesse, sie es dem Menschen erlauben, Einsicht in die eigenen psychischen Strukturen zu gewinnen, die ihn erkennen lassen, weshalb er der Vorurteile bedarf, versprechen Erfolg bei dem Versuch des Abbaues von Vorurteilen.
Bei anderen sind wir sehr wohl in der Lage, Vorurteile zu erkennen und zu analysieren. Bekanntlich ist der Balken im eigenen Auge das beste Vergrößerungsglas für den Splitter im Auge des Nächsten. Aber bei uns selbst will die Erkenntnis, daß wir Vorurteile haben, nach ihnen die Welt interpretieren und sie zur Richtschnur unseres Handelns machen, nur schwer gelingen. Das Vorurteil der eigenen Vorurteilslosigkeit ist das hartnäckigste Vorurteil überhaupt.
Aufgabe ist die Schärfung der Beobachtungsfähigkeit für unser eigenes Verhalten. Die Einübung einer Sensibilität für das, was wir sagen und tun. Nur so kann es gelingen, die Blindheit aufzuhellen, die nur zu oft die Grundlage unserer Selbstsicherheit ist.
Diese Selbstbesinnung ist nicht einfach. Denn solcher Introspektion stehen erhebliche Widerstände entgegen. Geradezu Schrecken erzeugt die unverstellte Selbstwahrnehmung, weil sie unser oft mit großer Anstrengung errichtetes Selbstbild gefährdet. Wir haben unser Selbstbild durch ein Bündel von Vorurteilen gesichert, und ein tiefgestaffeltes System von Selektionsmechanismen und Wahrnehmungshemmungen verhindert die Aufnahme von äußerer Realität, die unsere Vorstellungen von uns selbst stören oder korrigieren und damit unsere Selbstsicherheit bedrohen könnten.
Dies freilich ist nur die individuelle Seite. Es muß angemerkt werden, daß der Erfolg solcher Bemühungen nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Zusammenhang gesehen werden kann. Wenn Vorurteile gesellschaftliche Deformationen der Lebenspraxis der Menschen spiegeln, dann verlangt die Befreiung von Vorurteilen die Änderung dieses Lebenszusammenhangs. Wenn nach Max Horkheimer "die Zustände des gesellschaftlichen Lebens ... von selbst zum starren Vorurteil" treiben, dann hängt die Authebung der Blindheit der Menschen im Vorurteil letztlich ab von der Aufhebung des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs, der diese Blindheit produziert."(20)
Wie steht es um die Chancen der Änderung solcher individueller und gesellschaftlicher Strukturen? Die Situation ist freilich entmutigend: die Gewaltstrukturen im internationalen System, in den GeseIlschaften und in den Köpfen der Menschen sind so stabil, daß es schon einer Art neurotischen Starrsinns bedarf, an der Hoffnung, die Wahnwelten der Vorurteile und Feindbilder könnten abgebaut werden, festzuhalten. Sigmund Freud hat einmal die Schwäche der Vemunft dem Aberwitz, der Unvemunft und der Übermacht der Triebe gegenüber beschrieben. Aber es sei doch etwas Besonderes um diese Schwäche:
"die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich nicht Gehör geschafft hat. Am Ende nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf."(21)
Auf diese leise Stimme der Vemunft sollten wir vertrauen.

Anmerkungen
1) Der vorliegende Text stellt eine überarbeitete Fassung eines Vortrages dar, den der Verfasser am 18.11.1977 in Loccum im Rahmen der Tagung der Evangelischen Akademie "Vorurteil ohne Ende" hielt.
2) Zu dem Begriff "soziales Vorurteil" vergleiche die Untersuchung von Peter Heintz, Soziale Vorurteile, Ein Problem der Persönlichkeit, der Kultur und der Gesellschaft, Köln 1957.
3) Freud hat einmal darauf hingewiesen, daß offensichtlich solche kollektiven Wahnsysteme das Individuum davor bewahren, individuelle Wahnsysteme entwickeln zu müssen. Freilich sah er darin keine Rechtfertigung für kollektiven Wahn. Vgl. S. Freud, Gesammelte Werke, Bd. XIII, S. 159f
4) Vgl. Earl E. Davis, Zum gegenwärtigen Stand der Vorurteilsforschung, in: Vorurteile, ihre Erforschung und ihre Bekämpfung. Politische Psychologie, Bd. 3, Frankfurt/M. 1964, S. 51 ff.
5) Vgl. Gordon W. Allport, Die Natur des Vorurteils, Köln 1971, S. 20.
6) A. a. 0., S. 28 f
7) Der Verfasser hat zusammen mit Änne Ostermann den Versuch unternommen, die Vorurteilsproblematik für die politische Bildung darzustellen und Material für den Unterricht zusammenzustellen: Änne Ostermann/Hans Nicklas, Vorurteile und Feindbilder, Materialien, Argumente und Strategien zum Ver- ständnis der Mechanismen, die Menschen dazu bringen, einander mißzuverstehen und zu hassen. Zugleich eine Einftihrung in die politische Psychologie. München 1976 (Verlag Urban u. Schwarzenberg).
8) Zu dem Freudschen Begriff der Realitätsprüfuungen vergleiche: J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1972, S. 431 ff.
9) Vgl. zu dem Begriff der Instrumentalisierung die unter Leitung des Verfassers in der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschuungen entstandenen Arbeiten zur Aggressionsproblematik, besonders: Ute Volmerg, Gewalt im Produktionsprozeß, und Birgit Volmerg, Zur Sozialisation struktureller Feindseligkeit" in: Friedensanalysen, Bd. 6, Frankfurt/M. 1977. Femer Ute Volinerg, Identität und Arbeitserfahrung. Eine theoretische Konzeption zu einer Sozial- psychologie der Arbeit, Frankfurt/M. 1978.
10) Margarete Mitscherlich, Müssen wir hassen? Über den Konflikt zwischen innerer und äußerer Realität, München 1972, S. 64.
11) Talcott Parsons, Über wesentliche Ursachen und Forrnen der Aggressivität in der Sozialstruktur westlicher Industriegesellschaften, in: Talcott Parsons, Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied 1964, S. 223-255. 12 Alexander Mitscherlich, Revision der Vorurteile, in: Der Monat 1962 Nr. 165, S. 12. 13 Bernd Tichatschek-Marin wies in der Diskussion darauf hin, daß für das vorurteilshafte Verhalten ebenso das Aufspüren des nicht ohne weiteres erkennbaren Vorurteilsobjektes charakteristisch sei. Dieser wichtige Hinweis findet seine Bestätigung in der Untersuchuug zum "Autoritären Charakter,", vgl. Anmer kung 14 und 17.
14) Leo Löwenthal, Norbert Gutermann, Agitation und Ohnmacht. Auf den Spuren Hitlers im Vorkriegsamerika, Neuwied 1966, S. 46 f.
15) Goethe, Maximen und Reflexionen, 293.
16) Die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung versucht in einem Forschungsprojekt den Zusammenhang von Alltagserfahrung, Angst und Politikverständnis zu erhellen. Vgl. dazu: Hans Nicklas, Birgit Volmerg, Ute Volmerg, Thomas Leithäuser, Sicherheitsbedürfnis und Konfliktverarbeitung. Eine soziologisch- psychologische Untersuchung zum Ost-West-Konflikt. Eine Projektskizze (Manuskript). Femer. Thomas Leithäuser, Birgit Volmerg, Gunther Salje, Ute Volmerg, Bemhard Wutka, Entwurf zu einer Empirie des Alltagsbewußtseins, Frankfurt/M. 1977.
17) Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1973.
18) Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?, in: Eingriffe, Neun kritische Modelle, Fmnkfurt/M. 1963, S. 144.
19) Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. XV, S. 53.
20) Max Horkheimer, Über das Vorurteil (Arbeitsgemeinschaft für Forschuug des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften Heft 108), Köln 1963, S. 7
21) Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 377.
Hans Nicklas, Die politische Dimension von Vorurteilen aus: M.Bosch, Antisemitismus, Nationalsozialismus und Neonazismus S. 13f

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Most recent revision: April 07, 1998

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