"Weltjudentum" und "jüdische Weltverschwörung"
Die jahrhundertelange religiöse und soziale Ausgrenzung im christlichen Kulturkreis,
die mit Unterdrückung und Verfolgung verbundene Einengung ihres Lebensbereiches
hahen die Juden - wie auch andere Kulturgememschaften in ähnlicher Situation
- dazu gebracht, alte Traditionen religiöse Bindungen und kulturelle Eigenarten
in besonderem Maße zu pflegen und den Zusammenhalt untereinander zu wahren.
Die Andersartigkeit der jüdischen Geisteswelt ließ sie als fremd und
geheimnisvoll erscheinen. Seit alters her wurden die Juden von der christlichen
Kirche mit dem Antichrist, dem Teufel, in Verbindung gebracht und ihnen unheimliche,
verderbliche Kräfte zugeschrieben. Der Selbsterhaltungstrieb der in der Diaspora
lebenden jüdischen Gemeinden verstärkte ihr Bestreben, untereinander in
enger Verbindung zu bleiben. Man bekam dadurch den (falschen) Eindruck, alle Juden
auf der Welt bildeten eine große Gemeinschaft, und es entstand die Vorstellung
von einem zusammenhängenden, zentral geleiteten "Weltjudentum". Nachdem
die Juden in der Konsequenz der Aufklärung und Revolution in West- und Mitteleuropa
die Bürgerrechte erhalten hatten, entstand als Reaktion auf diese Emanzipation
ein moderner, nicht auf religiösen sondern rassistischen Vorstellungen basierender
Antisemitismus, der sich sehr bald die fixe Idee zu eigen machte die Juden strebten
die Weltherrschaft an. Insbesondere deutsche antisemitische Autoren verstiegen sich
zu Horrorgeschichten vom "Sieg des Judentums über das Germanentum"
(Wilhelm Marr 1879) und schrieben vom "Verzweiflungskampf der arischen Völker
mit dem Judentum" (Hermann Ahlwardt 1890).
Großen Auftrieb erhielten diese pseudowissenschaftlichen Wahnvorstellungen,
als zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine Schrift mit dem Titel "Die Protokolle
der Weisen von Zion" (siehe dort) auftauchte, mit der eine jüdische "Weltverschwörung"
bewiesen werden sollte. Nachdem 1919 die erste deutsche Ubersetzung der "Protokolle"
erschienen war, fanden sie in deutschen antisemitischen Kreisen rasch weite Verbreitung
und enthusiastischen Glauben.
Dieser Mythos von einer jüdischen Weltverschwörung war jedoch nichts anderes
als eine moderne, durch soziale Ängste und Ressentiments genährte Fassung
der alten dämonologischen Vorstellungen vom Judentum. Ihm zufolge gab es eine
geheime jüdische Regierung, die ein weltweites Netz getarnter Agenturen und
Organisationen unterhielt mit deren Hilfe sie politische Parteien und Regierungen,
die Presse und die öffentliche Meinung, die Banken und das Wirtschaftsleben
lenkte. Sie verfolgte einen uralten Plan, über die ganze Welt eine jüdische
Herrschaft zu errichten.
Solche Vorstellungen können bei Unkenntnis, Ablehnung und Haß fremdartig
erscheinender Kulturgemeinschaften entstehen, besonders, wenn diese in einer Diaspora
leben. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der in protestantischen Kreisen entstandenen
und verbreiteten Idee einer jesuitischen Weltverschwörung. Mathilde Ludendorff
verband beides in der Propagierung einer jüdisch-freimaurerischjesuitischen
Weltverschwörung.
Die Wahnidee einer jüdischen Weltverschwörung mit dem Ziel der Errichtung
einer jüdischen oder vielfach auch "jüdisch- bolschewistischen"
Weltherrschaft war eines der Hauptargumente des nationalsozialistischen Antisemitismus
und wird in rechtsextremistischen Kreisen vielfach heute noch vertreten. Obwohl
die Fälschung der "Protokolle der Weisen von Zion" längst erwiesen
war, haben Hitler, sein Ideologe Alfred Rosenberg und zahlreiche andere NS-Größen
ihren Inhalt weiterverbreitet und die Behauptung propagiert, die Juden hätten
systematisch an der Vernichtung Deutschlands und an der Aufrichtung ihrer Weltherrschaft
gearbeitet - deshalb müsse man sie bekämpfen und vernichten. Die nationalsozialistischen
Zeitungen, allen voran der "Völkische Beobachter" und der "Stürmer",
brachten tagtäglich Berichte von angeblichen "Machenschaften Alljudas".
Im Zeitalter des Nationalismus waren nichtstaatliche internationale Organisationen
Verdächtigungen ausgesetzt. Das galt in besonderem Maße für jüdische
Organisationen, die sich- die Staaten übergreifend - im Laufe des 19. Jahrhunderts
bildeten. Sie mußten vielfach als Beweismittel für die These von der
"Weltverschwörung" herhalten. So etwa die 1843 in den USA gegründete
Vereinigung Bnai Brith (oder Bne Briss = Bundesbrüder), eine Art Orden rein
humanitären Charakters, dessen als "Logen" beze~chnete Bünde
mit Freimaurerlogen nichts gemeinsam hatten, aber häufig als solche angesehen
wurden. Bnai Brith hatte in Deutschland um 1932 etwa 13000 Mitglieder, 1970 gehörten
ihm weltweit ca. 500000 Personen an. Noch mehr verdächtigt wurde die Alliance
Israelite Universelle, ein 1860 in Paris gegründeter internationaler Hilfsverein,
der die rechtliche Seellung und das kulturelle Niveau der Juden in den einzelnen
Staaten heben und den Antisemitismus bekämpfen wollte. Die Alliance unterhielt
zahlreiche jüdische Schulen. In Deutschland entstand 1X93 der Centralverein
deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der die staatsbürgerliche
und gesellschaftliche Gleichstellung der Juden verfocht und eine betont deutsche
Gesinnung zeigte. Ihm gehörten 1927 über 70 000 Personen an, 1936 nur
noch 40000. Sowohl die Alliance wie der Centralverein vertraten die Auffassung,
die Juden bildeten eine Religionsgemeinschaft innerhalb der Nationen, in denen sie
leben, seien aber keine eigene Nation. Demgegenüber betrachtet der Zionismus
die Juden als ein Volk, das ein eigenes Territorium beansprucht. Die Zionistische
Weltorganisation, die 1897 gegründet wurde, hatte 1933 640000 Mitglieder, 1939
über eine Million (also nur etwas mehr als 6 Prozent aller Juden) und 1946
mehr als zwei Millionensicherlich eine Auswirkung der Verfolgungen in Europa. Die
Gesamtzahl der Juden auf der Erde betrug 1938 16,34 Millionen (= 0,8 Prozent der
Gesamtbevölkerung). 1954 waren es nur noch 11,68 Millionen, 1964 13.2 Millionen
(= 0,41 Prozent). In Europa lebten 1933 10,3 Millionen Menschen jüdischen Glaubens
(2 Prozent der Gesamtbevölkerung), 1966 nur noch 3,78 Millionen (0,7 Prozent).
In Deutschland waren es 1933 etwa 500000 (0,78 Prozent), 1939 215000 (0,31 Prozent),
1989 noch 27700 (0,045 Prozent).
Helmuth Auerbach
Literatur: Alex Bein, Die Judenfrage. Biographie eines Weltprohlems. 2 Bände,
Stuttgart 1980; Hermann Greive, Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland.
Darmstadt 1983; J.F. Oppenheimer (Hrsg.), Lexikon des Judentums. Gütersloh
1967.
aus: W.Benz, Legenden, Lügen, Vorurteile
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Most recent revision: April 07, 1998
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