"Grenzzwischenfälle" am 31. August 1939
Hitler beauftragte etwa am 10. August 1939 den Reichsführer SS, Heinrich Himmler,
mit der Vorbereitung von angeblich polnischen Überfällen im oberschlesischen
Grenzgebiet. Er war der Überzeugung, die Regierungen Frankreichs und Englands
würden einen Krieg scheuen und jeden Anschein einer polnischen Schuld aufgreifen,
um sich im Falle eines deutsch-polnischen Krieges ihren Garantieversprechen und
Bündniszusagen zu entziehen. Himmler übertrug dem Chef der Sicherheitspolizei
und des SD, Reinhard Heydrich, Planung und Durchführung der Aktion. Heydrich
flog nach Oberschlesien, besichtigte zusammen mit dem örtlich zuständigen
Leiter der Gestapo-Stelle Oppeln das Grenzgebiet und zog Übergänge bei
Ratibor, Groß Rauden und Kreuzburg in nähere Erwägung, bei denen
seiner Meinung nach spektakuläre polnische Uberfälle im Rahmen eines Zangenangriffs
auf das oberschlesische Industrierevier ohne besondere Gefährdung vorgetäuscht
werden konnten. Himmler entschied sich nach einem Ortstermin für die beiden
letzteren Ubergänge.
Nun beauftragte Heydrich den Kommandeur der Führerschule der Sicherheitspolizei
in Berlin-Charlottenburg, Otto Hellwig, mit der Planung bei Groß Rauden und
den SS-Oberführer Otto Rasch mit der im Kreis Kreuzburg. SS-Standartenführer
Hans Trummler sollte mit seinen Schülern der Grenzpolizeischule Pretzsch die
angeblichen Verteidiger stellen. SS-Oberführer Herbert Mehlhorn hatte die Vorbereitungen
kritisch zu begleiten.
Der Chef des SS-Personalamts berief polnisch sprechende schlesische SS-Leute zur
Ausbildung als "polnische Soldaten" in die SS-Führerschule nach Bernau.
Heinz Jost, der Leiter der Auslandsabteilung des SD, verhandelte mit dem Amt des
Admirals Canaris (militärische Abwehr) wegen Freistellung dieser SS-Leute vom
Militärdienst, Uberlassung polnischer Uniformen und Räumung der betreffenden
Grenzabschnitte von Militär. Der Leiter der Fahrbereitschaft hielt Lastkraftwagen
zur ständigen Verfügung, und Gestapo-Chef Heinrich Müller wollte
sich um KZ-Häftlinge kümmern, die zum Tode verurteilt waren und als Opfer
angeblicher Kämpfe dienen sollten.
Die Bewohner des Grenzdorfs Hochlinden bei Groß Rauden hörten am Abend
des 31. August einige Schüsse an der Grenze, denen sie aber keine Bedeutung
beimaßen, und im Kreis Kreuzburg rief der Förster vom Forsthaus im Pitschener
Grenzwald etwa zur gleichen Zeit den Bürgermeister an und meldete, daß
sein Forsthaus von polnischen Soldaten und Zivilisten überfallen würde.
In Hochlinden fragte der Fahrer eines Lastwagens der Grenzpolizei nach einem Friedhof,
und in Pitschen sprach man später von einem Grab, in dem ein bei der Schießerei
mit der Grenzpolizei Getöteter beigesetzt worden sein soll. Kommandoführer
Rasch feierte in seinem Bereitschaftsquartier in der Gastwirtschaft Wyrwich noch
am selben Abend - in Gegenwart der Wirtsleute natürlich als angeblicher Verteidiger
- lautstark einen ersten Sieg über die Polen. Stunden später wurden diese
Ereignisse vom Vormarsch der deutschen Truppen regelrecht in den Schatten gerückt.
Die SS-Leute erhielten zum Teil schon am nächsten Tag im Rahmen der Einsatzgruppen
unter dem Decknamen "Unternehmen Tannenberg" Aufgaben in den von den deutschen
Truppen eroberten Gebieten. In der Presse erschien ein Bericht von schweren polnischen
Grenzverletzungen. Hitler vermied es, in seiner Reichstagsrede vom 1. September
1939 von Krieg zu sprechen. Goebbels wies die Presse an: "Keine Uberschriften,
in denen das Wort "Krieg" enthalten ist." Politiker versuchten vergeblich,
Kapital aus den Zwischenfällen zu schlagen. Reichsaußenminister von Ribbentrop
betonte den Vertretern der Westmächte gegenüber, die Polen hätten
zuerst Einfälle in deutsches Gebiet unternommen, und Botschafter Coulondre
meldete nach Paris, die deutsche Regierung versuche, "das Vorgehen der deutschen
Truppen eher als eine Polizeiaktion hinzustellen". Ansonsten schien man selbst
in Berlin nicht mehr sonderlich an den nächtlichen Ereignissen interessiert
gewesen zu sein. Nicht einmal das Auswärtige Amt war später in der Lage,
eine brauchbare Dokumentation für das deutsche Weißbuch aufzutreiben.
Jürgen Runzheimer
Literatur: Jürgen Runzheimer, Die Grenzzwischenfälle am Abend vor dem
Angriff auf Polen. In: Wolfgang Benz, Hermann Graml (Hrsg.) Sommer 1939. Die Großmächte
und der Europäische Kneg. Stuttgart 1979, Seite 107-147
aus: Wolfgang Benz (Hrg.), Legenden Lügen Vorurteile
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Most recent revision: April 07, 1998
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