Morgenthau-Plan
Im August 1944 veranlaßte der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau
jr. die Ausarbeitung eines Planes zur Behandlung Deutschlands nach dessen Niederlage.
Morgenthau stand unter dem Eindruck, sowohl die in den USA für die Deutschlandpolitik
zuständigen Stellen als auch die maßgeblichen britischen Politiker verfolgten
eine zu wenig harte Linie. In der Denkschrift, die Morgenthau Anfang September 1944
vorlegte, wurde die Zerstückelung Deutschlands propagiert. Nach umfangreichen
Gebietsabtretungen sollten drei deutsche Staaten entstehen, die Wirtschaftsregionen
an Rhein und Ruhr sowie die Nordseeküste internationalisiert werden. Außer
der völligen Entwaffnung und Abrüstung Deutschlands und großen Reparationsleistungen
(auch durch Zwangsarbeit) sollten nach dem Morgenthau-Plan die Industriebetriebe
völlig demontiert, die Bergwerke stillgelegt und zerstört werden. Bei
Kontrolle der ganzen Wirtschaft auf 20 Jahre würde Deutschland ein Agrarstaat
sein, der keine Möglichkeit zu aggressiver Politik mehr haben würde.
Der Plan enthielt, in der jeweils radikalsten Form, alle Vorschläge und Maßnahmen,
die in der Kriegszieldebatte der Alliierten bis dahin schon einmal aufgetaucht waren.
Morgenthaus Vorschläge sollten die gemäßigten Deutschlandpläne
des alliierten Oberkommandos unter Eisenhower, der interalliierten European Advisory
Commission und der Fachressorts in Washington und London korrigieren.
Morgenthau, mit dem US-Präsidenten Roosevelt befreundet, schien Erfolg zu haben,
als bei der britisch-amerikanischen Konferenz in Quebec am 15. September 1944 Premierminister
Churchill und Präsident Roosevelt eine (schon abgemilderte) Version des Morgenthau-Plans
paraphierten. Cordell Hull, der amerikanische Außenminister, protestierte
ebenso wie sein britischer Kollege Anthony Eden aber bereits am folgenden Tag gegen
den Plan, der amerikanische Kriegsminister Stimson nannte das Programm "ein
Verbrechen gegen die Zivilisation". Als der Morgenthau-Plan durch eine gezielte
Indiskretion am 21. September 1944 in die Öffentlichkeit kam, war die Reaktion
so negativ, daß auch Präsident Roosevelt sich distanzierte. Der Morgenthau-Plan
verschwand bereits Ende September 1944 in der Versenkung, ohne von den zuständigen
Gremien jemals formell diskutiert worden zu sein.
Für die spätere Besatzungs- und Deutschlandpolitik blieb der Morgenthau-Plan
ohne jede Bedeutung. Aber Goebbels und Hitler hatten den "jüdischen Mordplan"
zur "Versklavung Deutschlands" mit so großem Erfolg für ihre
Durchhaltepropaganda benutzt, daß bei vielen der Glaube entstand, das Programm
sei 1945 realisiert worden. In der rechtsextremen Publizistik spielt der Morgenthau-Plan
diese Rolle bis zum heutigen Tag.
Übrigens war Morgenthau ein Anhänger agrarromantischer Ideen. Die von
ihm propagierte Entindustrialisierung Deutschlands wäre unter diesem Gesichtspunkt
nicht nur eine Maßnahme der Strafe und zur Verhinderung eines weiteren Weltkriegs
gewesen.
Wolfgang Benz
Literatur: Henry Morgenthau, Germany is our Problem. New York 1945; John Morton
Blum, Deutschland ein Ackerland? Düsseldorf 1968; H.G. Gelber, Der Morgenthau-Plan.
In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 13 (1965), Seite 372-402.
aus: Wolfgang Benz (Hrg.), Legenden Lügen Vorurteile
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt