Jean Améry
Der ehrbare Antisemitismus (1969)
De Gaulle fiel. Manch einem war trüb zumut wie einem Heineschen Grenadier;
mir auch, mir auch. Nur leider, dass in New York dem franzoesischen UNO-Delegierten
Armand Bérard nichts besseres einfiel, als verzweifelt auszurufen (laut "Nouvel
Observateur" vom 5.Mai): "C'est l'or juif!" Und kein Dementi. Rechter
Hand, linker Handalles vertauscht. Der Antisemitismus schafft's und, wie es einst
bei Stefan George hieß: "... er reißt in den Ring."
Das klassische Phänomen des Antisemitismuus nimmt aktuelle Gestalt an. Der
alte besteht weiter, das nenn ich mir Koexistenz. Was war, das blieb und wird bleiben:
der krummnasige, krummbeinige Jude, der vor irgendwas - was sag ich? - der vor allem
davonläuft. So ist er auch zu sehen auf den Affichen und in den Pamphleten
der arabischen Propaganda, an der angeblich braune Herren deutscher Muttersprache
von einst, wohlkaschiert hinter arabischen Namen, mitkassieren sollen. Die neuen
Vorstellungen aber taten auf die Szene gleich nach dem Sechs-Tage-Krieg und setzen
langsamerhand sich durch: der israelische Unterdrücker, die mit dem ehernen
Tritt römischer Legionen friedliches palästinensisches Land zerstampft.
Anti-Israelismus, Anti-Zionismus in reinstem Vernehmen mit dem Antisemitismus von
dazumal. Der ehern tretende Unterdrücker- Legionäer und der krummbeinige
Davonläufer stören einander nicht. Wie sich endlich die Bilder gleichen!
Doch neu ist in der Tat die Ansiedlung des als Anti-Israelismus sich gerierenden
Antisemitismus auf der Linken. Einst war das der Sozialismus der dummen Kerle. Heute
steht er im Begriff, ein integrierender Bestandteil des Sozialismus schlechthin
zu werden, und so macht jeder Sozialist sich selber freien Willens zum dummen Kerl.
Den Prozeß kann man nutzbrigend nachlesen in dem schon vor mehr als einem
Jahr in Frankreich bei Pauvert erschienenen Buch "La Gauche contre Israel"
von Givet. Es genügt aber auch, gewisse Wegmarken zu erkennen, beispielsweise
eine in der Zeitschrift "konkret" erschienene Reportage zu lesen: "Die
dritte Front". "Ist Israel ein Polizeistaat?" heisst da ein Zwischentitel.
Die Frage ist nur rhetorisch. Natürlich ist Israel das. Und Napalm und gesprengte
Häuser friedlicher arabischer Bauern und Araber-Pogrome in den Straßen
von Jerusalem. Man kennt sich aus. Es ist wie in Vietnam oder wie es einstens in
Algerien war. Der krummbeinige Davonläufer nimmt sich ganz natürlich aus
als Schrecken verbreitender Goliath.
Es ist von der Linken die Rede und keineswegs nur von den noch mehr oder minder
orthodoxen kommunistischen Parteien im Westen oder gar von der Politik der Staaten
des Sozialistischen Lagers. Für diese gehört der Anti-Israelismus, aufgepfropft
auf den traditionellen Antisemitismus der slawischen Voelker, ganz einfach zur Strategie
und Taktik einer so und so gegebenen politischen Konstellation. Die Sterne lügen
nicht, die Gomulkas wissen, worauf sie rechnen dürfen. *C'est de bonneguerre!*
Darueber ist kein Wort zu verlieren.
Schlimmer ist, daß die intellektuelle Linke, die sich frei weiß von
Parteibindungen, das Bild übernimmt. Jahrelang hat man - um einmal von Deutschland
zu reden - den israelischen Wehrbauern gefeiert und die feschen Mädchen in
Uniform. In schlechter Währung wurden gewisse Schuldgefühle abgetragen.
Das mußte langweilig werden. Ein Glück, daß für einmal der
Jude nicht verbrannt wurde, sondern als herrischer Sieger dastand, als Besatzer.
Napalm und so weiter. Ein Aufatmen ging durchs Land. Jedermann konnte reden wie
die "Deutsche National- unf Soldatenzeitung"; wer links stand, war befähigt,
noch den Jargon des Engagements routinemäßig zu exekutieren.
Fest steht: Der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus
wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar. Er kann ordinär reden,
dann heißt das "Verbrecherstaat Israel". Er kann es auf manierliche
Art machen und vom "Brückenkopf des Imperialismus" sprechen, dabei
so nebstbei allenfalls in bedauerndem Tonfall hinweisen auf die mißverstandene
Solidarität, die so ziemlich alle Juden, von einigen löblichen Ausnahmen
abgesehen, an den Zwergstaat bindet, und kann es empörend finden, daß
der Pariser Baron Rothschild die Israel-Spenden der französischen Bevölkerung
Frankreichs als eine Steuer einfordert.
Der Antisemitismus hat es leicht allerwegen. Die emotionelle Infrastruktur ist da,
und das keineswegs nur in Polen oder Ungarn. Der Antisemit "demystifiziert"
den Pionierstaat mit Wohlbehagen. Es fällt ihm ein, daß hinter dieser
staatlichen Schöpfung immer schon der Kapitalismus stand in Form der jüdischen
Plutokratie: Auf diese letztgenannte geht er nicht ausdrücklich ein, das wäre
ein ideologischer *lapsus linguae,* jedoch - *c'est l'or juif!* - niemand wird sich
täuschen über die tatsächliche Bestelltheit eines Landes, das aus
einer schlechten Idee geboren, am schlechten Orte errichtet, einen oder mehrere
schlechte Kriege geführt und Siege erfochten hat.
Mißverständnisse sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Ich weiss so
gut wie irgendwer und jedermann, daß Israel objektiv die unerfreuliche Rolle
der Besatzungsmacht trägt. Alles zu justifizieren, was die diversen Regierungen
Israels unternehmen, fällt mir nicht ein. Meine persönlichen Beziehungen
zu diesem Land, von dem Thomas Mann in der Josefs-Tetralogie gesagt hat, es sei
ein "Mittelmeer-Land, nicht gerade heimatlich, etwas staubig und steinig",
sind quasi null: Ich habe es niemals besucht, spreche seine Sprache nicht, seine
Kultur ist mir auf geradezu schmähliche Weise fremd, seine Religion ist nicht
die meine. Dennoch ist das Bestehen dieses Staatswesens mir wichtiger als irgendeines
anderen.
Und hiermit gelangen wir an den Punkt, wo es ein Ende hat mit jeder berichtenden
oder analysierenden Objektivitaet und wo das Engagement keine freiwillig eingegangene
Verbindlichkeit ist, sondern eine Sache der Existenz, das Wort in mancherlei Bedeutung
verstanden.
Über Israel, den modischen Anti-Israelismus, den altmodischen, aber stets in
jegliche Mode sich wieder einschleichenden Antisemitismus spricht existentiell subjektiv,
wer irgendwie "dazugehört" ("Juden, Personen, die im Sinne des
Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935 als Juden gelten") - und erreicht
am Ende vielleicht gerade darum eine Objektivität annähernd naturrechtlichen
Charakters. Denn schließlich mündet noch die geistesschlichteste - genauso
wie die gründlichste und gescheiteste - Überlegung in die Erkenntnis,
daß dieses Pionierland, und mag es hundertmal nach einer sich pervertierenden
pseudomarxistischen Theologie im Sündenstande technischer Hochentwicklung sich
befinden, unter allen Staaten dieses geopolitischen Raumes das gefährdetste
ist. Sieg, Sieg und nochmals Sieg: Es droht die Katastrophe, und ihr weicht man
auch nicht aus, indem man direkt in sie hineinrennt und Israel zum Teilgebiet einer
palästinensischen Föderation macht.
Die arabischen Staaten, denen ich Glück und Frieden wünsche, werden den
israelischen Entwicklungsvorsprung einholen, irgendeinmal. Ihr demographischer Überdruck
wird das übrige tun. Es geht unter allen Umständen darum, den Staat Israel
zu erhalten, so lange, bis Frieden, wirtschaftlicher und technischer Vorausgang
der Araber in einen allgemeinen Gemütszustand versetzen, der ihnen die Anerkennung
Israels innerhalb gesicherter Grenzen gestattet.
Es geht darm. Wem? Die subjektive Verfassung, die zur geschichtlichen Objektivität
werden will, hat hier ihre Dreinrede. Israels Bestand ist unerläßlich
für alle Juden ("Juden, Personen, die im Sinne ..." und so weiter),
wo immer sie wohnen mögen. "Wird man mich zwingen, Johnson hochleben zu
lassen? Ich bin bereit dazu", rief am Vorabend des Sechs-Tage-Krieges der linksradikale
französische Publizist und Sartre-Schüler Claude Lanzmann. Der wußte,
was er meinte und wollte. Denn jeder Jude ist der "Katastrophen-Jude",
einem katastrophalen Schicksal ausgeliefert, ob er es erfaßt oder nicht. "Lauf,
blasser Jude" schreiben die Black-Panther-Männer an die Geschäfte
und Häuser jüdischer Händler in Harlem und vergessen leichten Herzens
die alte Allianz, die in den USA den Juden an den Neger kettete und die noch der
mieseste bürgerlich-jüdische Händler nicht verriet.
Wer garantiert, daß nicht einmal eine Regierung in den Vereinigten Staaten
zum grossen Versöhnungsfest den Juden dem Neger zum Frass hinwirft? Wer verbürgt
den einflußreichen und zum Teil reichen Juden Frankreichs, daß nicht
eines Tages das Erbe der Drumont, Maurras, Xavier Vallat zu neuer Virulenz gelangt?
Wer steht ein dafür, daß nicht Herrn Strauß, an die Macht gekommen,
irgendwas einfällt, worauf dann auch ein gewisser Zeitungs-Tycoon sich hüten
würde, weitere schnöde Spenden einer schnöde zur Annahme bereiten
israelischen Regierung zu geben? Niemand garantiert nichts. Das ist keine paranoide
Phantasie und ist mehr als die menschliche Grundverfassung der Gefahr. Die Vergangenheit,
die allerjüngste, brennt.
Und nun wird jeder Freund von der Linken mir sagen, auch ich reihte mich ein in
die große Armee derer, die mit sechs Millionen (oder meinetwegen fünfen
oder vieren) Ermordeter Meinungserpressung treiben. Das Risiko ist einzugehen: Es
ist geringer als das andere, welches die Freunde mir proponieren, wenn sie für
die Selbstaufgabe des "zionistischen" Israel plädieren.
Die Forderung der praktisch-politischen Vernunft geht dahin, daß die Solidarität
einer Linken, die sich nicht preisgeben will (ohne daß sie dabei das unerträgliche
Schicksal der arabischen Flüchtlinge ignorieren muss), sich auf Israel zu erstrecken,
ja, sich um Israel zu konzentrieren hat. Das Gebot hat für den nichtjüdischen
Mann der Linken nicht die gleiche Verbindlichkeit wie für Juden, stehe dieser
politisch links, mittwegs, rechts oder nirgendwo. Aus der Linken kann man austreten;
das Sosein als Jude entläßt niemand, das wußte schon ein Früh-Antisemit
wie Lanz-Liebenfels. Freilich hat die Linke ihre ungeschriebenen moralischen Gesetze,
die sie nicht beugen darf. "Wo es Stärkere gibt, immer auf der Seite des
Schwächeren", welch unüberschreitbar wahre Trivialität! Und
stärker - wer wagte Widerrede? - das sind die Araber; stärker an Zahl,
stärker an Öl, stärker an Dollars, man frage doch bei der Aramco
und in Kuwait nach, stärker, ganz gewiß, an Zukunftspotential.
Die Linke aber ganz offensichtlich schaut wie gebannt auf die tapferen palästinensischen
Partisanen, die freilich ärmer sind als die Männer Moshe Dayans. Sie sieht
nicht, daß trotz Rothschild und einem wohlhabenden amerikanisch-jüdischen
Mittelstand der Jude immer noch schlechter dran ist als Frantz Fanons Kolonisierter,
sieht das so wenig wie das Phänomen des anti-imperialistischen jüdischen
Freiheitskampfes, der gegen England ausgefochten wurde. Am Ende ist es auch nicht
die Schuld der Israelis, wenn die Sowjetunion vergaß, was 1948 vor der UNO
Gromyko mit schönem Vibrato vorgetragen hat: "Was den jüdischen Staat
betrifft, so ist seine Existenz bereits ein Faktum, das gefalle oder nicht (...)
Die Delegation der UdSSR kann sich nicht enthalten, ihr Erstaunen über die
Einstellung der arabischen Staaten in der palästinensischen Frage auszudrücken.
Ganz besonders sind wir überrascht zu sehen, daß diese Staaten oder zumindest
einige von ihnen sich entschlossen haben, militärische Maßnahmen zu ergreifen
mit dem Ziele, die nationale Befreiungsbewegung der Juden zu vernichten. Wir können
die vitalen Interessen der Völker des Nahen Ostens nicht identifizieren mit
den Erklärungen gewisser arabischer Politiker und arabischer Regierungen, deren
Zeugen wir jetzt sind."
So sprach, wie schon gesagt, die Sowjetunion, eine Grossmacht, die Grossmachtpolitik
treibt und die wohl à la longue nicht absehen konnte von dem offenbaren Faktum,
daß es mehr Araber gibt als Juden, mehr arabisches Öl als jüdisches,
daß militärische Stützpunkte in den arabischen Staaten einen höheren
strategischen Wert haben als in Israel. Die Linke im weiteren und weitesten Sinne
aber, und ganz besonders die protestierende äußerste Linke, der ich mich
auf weiten Stecken verbunden weiß, hat diese Großmacht-Ausflucht nicht.
Sie ist, nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten, zur Einsicht verpflichtet; zur
Einsicht in die tragische Schwäche des jüdischen Staates und jedes einzelnen
Juden in der Diaspora, zur Einsicht in das, was hinter den Kulissen eines jüdisch-bürgerlichen
Mittelstandes, hinter dem Mythos des Geld- und Gold-Juden (vom Jud Süß
bis zu den kontemporären Rothschilds und ein paar jüdischen Hollywood-Größen)
sich verbirgt. Die Juden manipulieren zeitweilig Kapitalien: Sie beherrschen sie
niemals. Sie haben heute in Wall Street so wenig zu sagen wie einst im wilhelminischen
Deutschland in der Schwerindustrie.
Der Staat Israel ist heute so wenig ein Bollwerk des Kapitalismus, wie er es war,
als die ersten Pioniere dort den Boden umgruben, so wenig wie die arabischen Staaten
vernünftigerweise als progressiv angesehen werden können. Die Linke macht,
das ist der Jammer, die Augen zu. Der Zufall spielte mir gerade einen Text von Hans
Blüher zu: "Eine wirkliche Geschichte Europas dürfte nicht so geschrieben
werden, wie das bisher geschah, dass nämlich ein Jude einmal hie und da anekdotenhaft
vorkommt ..., vielmehr müßte die Darstellung so sein, daß dauernd
die geschichtliche Macht des Judentums als eines latenten und ständig mitspielenden
Reiches sichtbar wird." Der Text könnte wörtlich in einer der zahlreichen
pseudointellektuellen arabischen Veröffentlichungen stehen, mit denen die Presse
überschwemmt wird. Und von Blüher - aber auch von Streicher, denn allerwegen
ebnet der Antisemitismus die intellektuellen Höhenunterschiede ein - könnte
stammen, was der Unterrichtsminister des progressiven Staates Syrien an den Generaldirektor
der UNESCO schrieb: "Der Haß, den wir unseren Kindern einprägen,
ist ein heiliger Haß." Es wäre das alles kaum der Aufnotierung wert,
und der närrische Blüher könnte im Frieden des Vergessens schlafen,
hätte nicht die intellektuelle Linke Westeuropas (einschließlich übrigens
einiger vom Selbsthaß verstümmelter Juden wie Maxim Rodinson) sich dieses
Vokabulars bemächtigt und das vom Wortschatz vermittelte Normensystem angenommen.
Wenn aus dem geschichtlichen Verhängnis der Juden- beziehungsweise Antisemitenfrage,
zu dem durchaus auch die Stiftung des nun einmal bestehenden Staates Israel gehören
mag, wiederum die Idee einer jüdischen Schuld konstruiert wird, dann trägt
hierfür die Verantwortung eine Linke, die sich selber vergißt. "Der
Antizionismus ist ein von Grund auf reaktionaeres Phänomen, das von den revolutionären
progressistischen antikolonialistischen Phrasen über Israel verschleiert wird",
sagte neulich Robert Misrahi, ein französischer Philosoph, der, gleich dem
vorhin zitierten Claude Lanzmann, zur weiteren Sartre-Familie gehört.
Der Augenblick einer Revision und neuen geistigen Selbstbestreitung der Linken ist
gekommen; denn sie ist es, die dem Antisemitismus eine ehrlose dialektische Ehrbarkeit
zurückgibt. Die Allianz des antisemitischen Spießer-Stammtisches mit
den Barrikaden ist wider die Natur, Sünde wider den Geist, um in der vom Thema
erzwungenen Terminologie zu bleiben. Leute wie der polnische General Moczar können
sich die Umfälschung des kruden Antisemitismus zum aktuellen Anti-Israelismus
gestatten: Die Linke muß redlicher sein. Es gibt keinen ehrbaren Antisemitismus.
Wie sagte Sartre vor Jahr und Tag in seinen "Überlegungen zur Judenfrage":
"Was der Antisemit wünscht und vorbereitet, ist der Tod des Juden."
aus: Die Zeit, 25.7.1969
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Most recent revision: April 07, 1998
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