Die Linke hat stets sich gegen die staatskapitalistischen Illusionen gewandt,
die in Stalins Regime mündeten. Die "Revolutionen" des 20.Jh. waren
letztlich keine, bzw. sie waren nationalistische Erhebungen. Horkheimer schrieb
1953 an Adorno:
"Revolutionstheorie, vernünftig aufgefaßt, bezieht sich heute auf
die zurückgebliebenen Länder, die mittels einer Art von nationalem Sozialismus
oder Staatskapitalismus die Industrialisierung beschleunigen wollen, die mit liberalistischen
Wirtschaftsmethoden so rasch nicht nachzuholen ist. Die Welt ist voll von Revolutionen,
und mittels ihrer breitet der Schrecken sich aus."(Horkheimer GS Bd. 18 erscheint
demnächst, der Brief ist in KONKRET 9/96 vorveröffentlicht)
Nachdem der kalte Krieg vorbei ist, muß man sich besinnen darauf, was die
Versuche im Osten und der Dritten Welt in Wahrheit gewesen sind, sozialnationalistische
Erhebungen, die staatskapitalistisch die Modernisierung vorantreiben wollten. Spätestens
seit dem Hitler-Stalin-Pakt war es der Linken deutlich, daß man die staatskapitalistischen
Staaten nicht als links durchgehen lassen konnte. Waren schon Sozialismus und Staat
zwei unvereinbare Dinge, so erst recht Sozialismus und Nation. Zu der Zeit schrieb
Manès Sperber den folgenden Text:
Manès Sperber
Der totalitäre Staat
"Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft
auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft
-, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat... An die Stelle der
Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von
Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht 'abgeschafft', er stirbt ab." Friedrich
Engels
Wir haben deutlich zu machen versucht, daß es sich bei dem Bündnis zwischen
Hitler und Stalin nicht nur um ein außenpolitisches Ereignis von außerordentlicher
Bedeutung handelt, sondern daß durch diesen Pakt neue Probleme für die
sozialistische Bewegung geschaffen worden sind, daß es nun darum geht, Begriffe
zu bereinigen und Meinungen zu revidieren.
Wenn in diesen Tagen deutsche Flugzeuge Flugzettel mit dem Text der Molotow-Reden
streuen, wenn Nazi-Sender in französischer Sprache sich an die französischen
Arbeiter im Namen des "sozialistischen" Deutschland wenden, wenn französische
Stalinisten in ihrer mündlichen Propaganda von einem Deutschland sprechen,
das nun fast schon kommunistisch sei, so handelt es sich um mehr als um taktische
Tricks: Zwei totalitäre Staaten haben zueinander gefunden. Es geht nun darum,
das Verhältnis zwischen Staat und Sozialismus wieder einmal klarzustellen.
Mit dieser Darstellung beginnen wir die Abwehr der schändlichen Versuche, den
wissenschaftlichen Sozialismus zu nazifizieren.
1.
Innerhalb der Arbeiterbewegung sind drei verschiedene Auffassungen über den
Staat entstanden. Die Auffassung der Marxisten war stets die, daß der Staat
ein Instrument zur Aufrechterhaltung einer bestimmten Ordnung innerhalb einer klassengespaltenen
Gesellschaft ist, daß die Beseitigung der Klassen die Beseitigung des Staates
in einem Prozesse in sich schließe, daß es somit keinen klassenlosen,
keinen sozialistischen Staat geben könne. In dem Ausmaße, als die Expropriation
der Expropriateure und die Herstellung einer Planwirtschaft auf der Basis der gesellschaftlichen
Aneignung sich vollendet, in dem gleichem Maße stirbt der Staat ab. Zu dieser
Auffassung bekannten sich auch die Kommunisten.
Die Auffassung der Reformisten, besonders der deutschen Sozialdemokratie, die niemals
wirklich aufgeben hatte, lassalleanisch zu sein, war, daß der Staat sehr wohl
das Instrument zur Sozialisierung der kapitalistischen Wirtschaft werden könne,
sie sahen in ihm nicht ein Klasseninstrument. Hatte Lassalle sich mit Bismarck zu
verständigen gesucht, so sah die deutsche Sozialdemokratie während des
letzten Krieges in den Maßnahmen der Kriegswirtschaft den Sozialismus. Sie
glaubte, daß je stärker der Staat würde, umso schwächer die
herrchende Klasse werden müßte. Es erwies sich nach dem Kriege, daß
die Sozialisierung des Elends keineswegs ein Schritt zum Sozialismus ist. Die dritte
Auffassung ist die der Anarchisten, die den Staat von heute auf morgen abgeschafft
wissen wollen, gleichviel welche gesellschaftlichen, welche Klassenbedingungen gegeben
seien.
2.
Die schwierigste Frage, die der Marxist sich zu stellen hatte, blickte er in die
Zukunft, war: "Welche Organisationsform hat an die Stelle der zerschlagenen
Staatsmaschine zu treten?" Die Oktoberrevolution antwortete darauf: Die Diktatur
der Mehrheit in Gestalt der Rätedemokratie, das heißt, es soll an die
Stelle jeder Art von Bürokratie die bestimmende Teilnahme aller Werktätigen
an allen Staatsgeschäften treten. Es war klar und einleuchtend, daß,
je mehr Menschen Staat würden, umso mehr der Staat seine spezifischen Funktionen
verlieren, absterben würde.
Der Krieg, in dem diese Revolution geboren wurde und den sie sehr lange fortsetzen
mußte, erzwang eine bedeutende Zentralisierung der Gewalten. Doch war dies
als Übergangsperiode angesehen, wie ja überhaupt die Phase der Diktatur
des Proletariats nur als Übergang aufzufassen sein sollte. Die Entwicklung
in Rußland führte in der Tat zur Abschaffung der Klassen - bei Beginn
der Periode des zweiten Fünfjahrplans sagte Molotow, man sei bereits in die
Phase der Klassenlosigkeit eingetreten -, doch der Staat, anstatt abzusterben, wurde
immer stärker, die Freiheit des einzelnen immer geringer. Die Rätedemokratie
vollendete sich nicht, sondern verschwand praktisch vollkommen. Es gab nicht die
Bestimmung von unten nach oben, und die Verantwortung von oben nach unten, sondenn
im Gegenteil begann eine "Staatsräson" - unter dem Pseudonym Stalin
- alles von oben nach unten zu bestimmen. Das Volk bekam, genau wie im Hitlerreich,
das Ja-Recht, das Gegenteil des Veto-Rechts. Hundertsiebzig Millionen wurde Ja-Sager,
alle jene wurden beseitigt, die es nicht waren oder unter Umständen hätten
aufhören können, es zu sein.
Was da geschah, hat seine Gründe und könnte teilweise gerechtfertigt werden.
Es wird aber zur Gefahr für den Sozialismus, wenn solch ein Zustand, wie er
in Rußland besteht, beansprucht, Sozialismus zu sein. Eine freie sozialistische
Revolution in Deutschland hätte den russischen Zustand desavouiert, und zwar
in positivster Weise. Das Bündnis mit Hitler und dessen weitere Folgen sollten
solche Desavouierung verhindern. "Höchste Entwicklung der Staatsmacht
zur Vorbereitung der Bedingungen des Absterbens der Staatsmacht", so lautet
die marxistische Fonmel? Nein, so lautet die Fonmel des georgischen Priesterseminaristen,
des Witzboldes, den der kluge Try Churchill eine "fonnidable Persönlichkeit"
nennt, aus genau den gleichen Gründen, aus denen der Marxist ihn den Totengräber
der Arbeiterbewegung nennen muß, den Verderber der Oktoberrevolution: Stalin.
3.
Daß die Planwirtschaft auf monopolkapitalistischer Basis dank einem entsprechenden
Eingreifen des Staates möglich sei, hatte bereits Engels erkannt, das ist nicht
neu. Daß das Hitlerreich die höchste Entwicklung der Organisation des
Kapitals bedeutet, unterliegt keinem Zweife]. Auch ist es durchaus denkbar daß
dieses Regime die wichtigsten Vertreter des Monopolkapitals erschießt oder
sonstwie von ihrem Eigentum befreit. Wäre dies dann Sozialismus? Im Sinne der
etatistischen Auffassung Stalins: Ja! Im Sinne des Marxismus: eine Wegbereitung
für den Sozialismus nicht mehr und nicht weniger als es die gesamte Entwicklung
der bürgerlichen Gesellschaft ist. Andererseits aber ist die Verabsolutierung
des Staats die Herrschaft der Wenigen über alle anderen das genaue Gegenteil
des Sozialismus - und Hitler hat dies durch ungezählte Arbeitermorde durch
die ganze barbarische Unterdrückung all dessen was den Namen Freiheit verdienen
könnte deutlich gemacht.
Sagen wir es in der kürzesten Formel: Der Etatismus ist keine Form des Sozialismus
so wenig wie Metternich ein Sozialist war, weil er das Tabakmonopol eingeführt
hat. Die Entwicklung in Rußland führte nicht von der Diktatur des Proletariats
zum Absterben des Staates sondern zu der Verabsolutierung eines Staates einer Staatsräson
die machiavellistisch das heißt ohne Berücksichtigung irgendeines Willens
außer dem einer kleinen Gruppe verantwortungslos bestimmt. Die volonte geneMIe
hat aufgebört irgendwelche bestimunende Kraft zu sein sie ist nur dazu da das
Rhabarber-Geräusch der Komparserie zu machen: hundertprozentige Abstimmungen
zu ergeben. Somit ist der Weg den Stalin beschritten hat nicht ein Weg zur sozialistischen
Gesellschaft ohne Staat sondenn zum absoluten brutalen Staat auf einer ökonomischen
Basis allerdings auf der nach einer neuerlichen Revolution der Sozialismus aufgebaut
werden -' kann. In diesem Sozialismus um den allein es uns geht "treten die
objektiven fremden Mächte in die bisher die Geschichte beherrschten unter die
Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte
mit vollem Bewußtsein selbst machen... Es ist der Sprung der Menschheit aus
dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit" (Engels). Stalin gelang
der Sprung zurück: aus dem Reich der Freiheit in das Reich der Polizeinotwendigkeiten;
er landete bei Hitler.
4.
Das Grundproblem der sinnvollen Ordnung der menschlichen Verhältnisse war stets
das Problem der Freiheit. Der wissenschaftliche Sozialismus hat dieses Problem konkreter
formuliert, indem er auf die ökonomische Wurzel aller bisherigen Unfreiheiten
hingewiesen hat. Doch hat er niemals den Kampf um das Brot in den Vordergrund gestellt
um des Brotes willen, sondern weil es ihm gewiß war, daß erst mit dem
Verschwinden dieser Frage, mit ihrer sozialistischen Lösung, die Grundlagen
einer menschheitlichlen Geschichte geschaffen werden könnten. Dann erst wird
es möglich werden, die Menschen vom Druck aller Autoritäten zu befreien,
die Menschlichkeit freizusetzen. Dann sollte es möglich sein, - mit Kant -
die Freiheit des einzelnen in der Freiheit aller zu begründen, und in der 'Deutschen
Ideologie' schrieben die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus von der
Notwendigkeit, durch die Revolution nicht nur den Unrat einer überalterten
Ordnung, sondern auch den inneren Unrat im Menschen selbst revolutionär zu
beseitigen. Wir haben in Rußland erlebt, daß der Unrat einer überalterten
Ordnung ökonomisch beseitigt wurde, aber menschlich so gigantisch geworden
ist, daß in dieser Sintflut alles, was das Leben wertvoll macht, unterzugehen
droht. Darum ist es notwendig, deutlich festzustellen: Rußland ist nicht das
Beispiel des durchgeführten sozialistischen Experiments. Dieses Beispiel gilt
es erst zu schaffen Der Marxist hat keinen Grund, daran zu verzweifeln. Bis zur
Nacht des 23. Augusts - der kalendarische Witz der Weltgeschichte wollte, daß
der Hitler-Stalin-Pakt in der Bartholomäusnacht abgeschlossen wurde -, bis
zu dieser Nacht durfte der deutsche Marxist hoffen, Deutschland würde berufen
sein, das große gültige Beispiel zu liefern und damit die Oktoberevolution
zu retten. Die Hoffnung ist bis auf weiteres dahin. Der Kampf, in den er jetzt gestellt
ist, kann nur ein Teilkampf sein: gegen Hitler und für die Wiedererringung
der verlorenen Rechte und Freiheiten. Doch für die Zukunft und die großen
Kämpfe muß er sich seine theoretischen Waffen schmieden. Die Reaktionäre
und die Stalinisten stimmen darin überein, daß das heutige Rußland
und seine Führer den wahren Marxismus repräsentieren und anwenden. Hitler
und Stalin stimmen darin überein, daß der der starke Staat Sozialismus
sei. So haben wir den Weg zur Freiheit die wir meinen zu säubern. Es ist nicht
zu früh. Wir haben schweigend und leidend die Beschmutzung, die Schändung
des Sozialismus mit angesehen. Es ist Zeit, eine große Aufklärungsaktion,
vor allem in Deutschland, einzuleiten.
Doch damit wir gehört werden, wo hitlerisch-stalinistische Stimmen so laut
sind, müssen wir uns über das Wesen, über die psychologischen Voraussetzungen
ihrer und unserer Propaganda klar sein. Wie erzieht man Ja-Sager und wie gibt man
Ja-Sagern wieder den Mut zum Denken? Das sind die nächsten Fragen, mit denen
man sich zu beschäftigen hat.
(aus: Die Zukunft (Paris). 14. November 1939, zit. Manès Sperber. Die Tyrannis
und andere Essays aus der Zeit der Verachtung 147f)
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Most recent revision: April 07, 1998
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