Vorurteile gegenüber Juden
Von Antisemitismus soll jetzt nicht die Rede sein, obgleich die Vorurteile gegenüber
Juden eine Quelle für Antisemitismus darstellt.
Man versucht hin und wieder die Judenheit als Religion zu bestimmen. Das ist nur
unter Vorbehalt so zu denken. Die hebräische Sprache hat gar kein Wort für
Religion, das heute dafür verwendete Wort dat ist ein Lehnwort aus dem Persischen
und hat die ursprüngliche Bedeutung von Gesetz oder Anordnung. Das Judentum
als Religion zu bestimmen, ist eine christliche Sicht. Das Christentum unterscheidet
nämlich die religiösen und profanen Bereiche des Lebens. Im jüdischen
Leben ist nichts profan oder auch alles Profane "religiös".
"Staatsbürger jüdischen Glaubens" war eine Erfindung der Aufklärung.
Der Laizismus war allerdings mehr auf die christliche Religion gemünzt und
traf so nicht ganz. Trotzdem war dieser Laizismus, die Trennung von Staat und Kirche,
ein Ergebnis von Toleranz und Emanzipation, sollte allerdings auch das Religiöse
in den privaten Raum abschieben.
Und auch das ist noch nicht alles an Schwierigkeiten mit der Judenheit. *Das* Judentum
existiert nicht. Das Fehlen einer zentralen Lehrautorität ermöglichte
schon in der Antike und im Mittelalter die Entfaltung eines heterogenen, bis zum
Gegensatz verschiedenen jüdischen Lebens und Denkens. Wenn Nazis von jüdischer
oder zionistischer Weltverschwörung schwadronieren, so projizieren sie alte
katholische Strukturen auf die Judenheit, sie gehen von einem Zentralismus aus,
den es gar nicht gibt. Wenn man unbedingt von einer Verschwörung der Juden
ausgehen will, in der Tat gibt es sie, dann kann man sie leicht erkennen, man lese
die Gebote, die Moses gebracht hat. Das ist dann auch schon die ganze Verschwörung.
"Du sollst nicht morden!" ist eines der Gebote der jüdischen Weltverschwörung.
Es ist kein Wunder, daß sich die Judenheit im Mittelalter - abhängig
von ihrem Lebenskontext - verschieden entwickelt hat, als bekannte Beispiele kann
man das aschkenasische (Mittel- und Osteuropa, später Nordamerika) und das
sefardische (spanische und im Bereich des Islam lebende) Judentum erwähnen.
Durch verschiedene Bräuche und Rituale sind beide bis heute unterschieden,
auch in Israel haben beide verschiedene Oberrabbiner. Durch die Reformbestrebungen
des 18.Jh. haben sich allerdings noch tiefergehende Unterschiede entwickelt, die
allerdings nach außen in Europa durch Einheitsgemeinden verschleiert sind
und selbst in Israel durch ein gewisses Dominanz der Orthodoxie. In den USA werden
die Strömungen deutlicher, man kann orthodoxe, konservative und reformierte
Richtungen unterscheiden neben vielen kleinere Strömungen wie die Rekonstruktivisten
und vielen die gar keiner Strömung angehören und dennoch sich als Juden
verstehen.
Zu den Besonderheiten jüdischer Geschichte gehört es, daß das Jüdischsein
nicht vorgegeben ist, obgleich die Traditionen in sie eingehen, daß die Identifikation
von der Umwelt stets beeinflußt war und ist, stabilisierend oder neurotisierend,
je nachdem wie diskriminiert oder akzeptiert die Juden waren. Das Jüdische
war somit immer Problem, mußte immer wieder definiert, behauptet und bestritten
werden. Und das meistens in deiner dezidiert antijüdischen Umgebung. Der folgende
Text ist ein Auszug, der über die multikulturelle Kultur des Judentums kurz
informiert.
Es ist zu bedenken in der BRD stehen 78 Millionen Deutschen etwa 50.000 Juden gegenüber.
Das sind nur 0,06 Prozent. 1933 hatten noch ca. 600.000 Juden in Deutschland gelebt.
In einer kleinen Stadt wie Bad Hersfeld, könnte heute alle bequem untergebracht
werden. Aber sie leben über die ganze BRD vertreut, sind eine sehr sehr kleine
Minderheit. Selbst, daß das sog. Alte Testament als gemeinsame Buch von Juden
und Christen bezeichnet wird, ist im Grunde eine Lüge oder wenigstens eine
Fiktion. Das Buch ist alles nur kein einheitliches Werk, sondern eine Bibliothek
aus vielen Büchern und es werden von Christen und Juden verschiedene Bücher
gelesen. Die für das Judentum konstitutiven Bücher (Moses 3 bis 5) werden
von Christen so gut wie nie gelesen. Und wenn Bücher gleich intensiv gelesen
werden, dann unter verschiedenen hermeneutischen Voraussetzungen. Die Christen suchen
im alten Testament, "was Christum treibet" (Luther).
Wenn der Glaube an Jesus, den ein Jude nicht teilen kann, von den Christen als heilsnotwendig,
als geoffenbartes Gotteswort gedeutet wird, kann es per definitionem von christlicher
Seite aus gesehen kein Dialog zwischen Juden und Christen geben, sondern nur Mission.
Oder sie müßten ihr Christsein aufgeben. Sofern ist es nicht bloß
Auschwitz, sondern die essentielle Intoleranz des Christentums, die ein Dialog verhindert.
Und so sind "Begegnungen" in der Regel Ausdruck von Peinlichkeit, von
Befangenheit, Beklemmung, Verlegenheit und Scham. An den Juden liegt es mit Gewißheit
nicht, sie haben Interesse daran, nachdem zwei Jahrtausende lang falsche Vorstellungen
über Juden Gewalt und Tod gebracht haben, diese behoben werden.
Wer begreift schon, daß Zitate wie "Auge um Auge, Zahn um Zahn"
das Gegenteil von Rache, den Übergang zum Gesetz bedeuten und daß Rache
den Juden vom Gesetz her verboten ist.
Angesichts der kleinen Anzahl in Deutschland ist es doch merkwürdig, daß
alle über Juden reden. Mit ihnen zu reden, dürfte schon mit der Schwierigkeit
verbunden sein, einen aufzutreiben, der bereit ist, mit den Leuten, die ihre Mörder
waren oder die Nachkommen ihrer Mörder sind, ein Dialog zu führen. Das
ist ja schwierig, weil die Deutschen den Juden Auschwitz immer noch nicht verziehen
haben.
Fremde werden immer als solche empfunden, die anregen oder aufregen und es liegt
nicht an ihnen, welche Variante dominiert. Wenn die Einheimischen sich ihrer Sache
sicher wären - was angesichts zweier Diktaturen in Deutschland ein Wunder wären,
so daß man schon vorab Erbarmen mit den Deutschen hat - so hätten sie
nicht Angst, sich anregen zu lassen, Elemente einer ihnen fremden Kultur lernend
aufzunehmen, anstatt sich abzugrenzen.
Die moderne bürgerliche Gesellschaft ist ein prekäres zerissenes Gebilde,
das durch Waren- und Geldform zusammengehalten wird, das gilt für Deutschland
nicht anders als für andere Staaten, den künstlichen Gebilden, die eine
zerrissene Gesellschaft nicht kitten können, so daß die Definition sog.
nationaler Identität nur über die Ausgrenzung durch Rassismus und Antisemitismus
erfolgen kann. In Deutschland ist die sog. nationale Identität, auf deutsch:
der Nationalismus zuende gedacht worden: in Auschwitz. Wie in keinem Land der Welt
ist es unmöglich geworden sich über die Nation zu identifizieren, so war
es ja auch der Mercedesstern (das sog. Wirtschaftswunder) der das Hakenkreuz ablöste.
Der nun folgende Blick in israelische Geschichte bzw. der Geschichte der Juden zeigt,
daß es möglich ist, auch in der Diaspora eine bestimmte Identität
zu behalten. Der nationalen bedarf es nicht nur nicht, sondern sie ist stets ein
Hemmnis überhaupt eine zu haben. Denn ohne Fremdenhaß ist einen Nation
nicht zu haben, wenn man bedenkt, daß es auch Schlechtwetterzeiten gibt. Wo
eine Nation noch nicht formiert ist, oder wo sie durch das innere Bewegungsgesetz
unserer Welt, das Kapital, in Frage gestellt wird, ist der Fremdenhaß, Rassismus
und der Antisemitismus ausgeprägt. Das verleitet leicht zum falschen Urteil,
daß es an der Unsicherheit des nationalen Selbstbewußtseins lege und
es solle nur sicher genug sein, dann wäre alles gut. Das ist nicht nur eine
der gefährlichsten Illusionen, sondern auch ideologisches Mittel der Neonationalisten,
die oft - in Ablehnung Hitlers - die Prämissen der Hitlerei vollends wieder
Geltung verschaffen wollen.
Ich zitiere aus einer Schrift, in der sich der Autor über eine derartige jüdische
Identität ausläßt:
"Die Geschichte Israels beginnt, historisch gesprochen, irgendwann im Dunkel;
wir wissen nicht, wann und unter welchen Umständen der Auszug aus Ägypten
stattfand und wann die aus dem Exil ausgebrochenen Gruppen am Sinai die Tora empfingen
und damit zum Volk des Bundes, zu &hibar;Israel® wurden. Die Geschichte Israels
endet mit der Zerstörung des Ersten Tempels und der Deportation großer
Teile des Volkes ins babylonische Exil 586 v. u. Z. Damit beginnt zugleich die Geschichte
der Juden.
Das israelitische Volk war - nach einem langen, komplizierten Identifikationsprozeß
- schließlich konstituiert durch drei Faktoren: das gemeinsame Land, den gemeinsamen
Opferkult für den Einen Gott und die alle verpflichtende Tora, das Bundesgesetz
vom Sinai. In Israels Geschichte hatte es, wie überall, Spannungen gegeben:
neben den stets vorhandenen zwischen gesellschaftlichen Schichten mit ihren entgegengesetzten
Interessen auch spezifisch israelitische wie die zwischen Königtum und Prophetie,
zwischen Prophetie und Priestertum oder zwischen streng monotheistischen Israeliten
und kanaanitisch-polytheistischer Urbevölkerung sowie solchen Israeliten, die
sich mit dieser vermischt hatten. Und stets hatte es auch Spannungen mit den großen
Weltmächten im Norden und Süden gegeben, mit deren Politik, Kultur und
Kult. Aber es gab kein Problem mit einer israelitischen Identität, nicht einmal
nach der Teilung des Staates Israel in zwei Teilkönigreiche im 9. Jahrhundert
v. u. Z. Denn die Basis dieser Identität, eben die Dreiheit von Land, Kult
und Tora, blieb unerschüttert. Einzelne Gruppen im Volk konnten zwar von dem,
was &hibar;gut israelitisch® war, abweichen, wie etwa die Kritik aller Propheten
an den sozialen und religiösen Zuständen ihrer Zeit beweist. Aber diese
Kritik wäre ja ins Leere gegangen, wenn sie sich nicht auf ein prinzipiell
von allen anerkanntes Bild vom &hibar;wahren Israel® hätte berufen können:
&hibar;Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist ... ® (Micha 6, 8).
Es hat, mit Esra und Nehemia um 450 v. u. Z. beginnend und mit der Vernichtung des
Zweiten Tempels durch die Römer im Jahre 70 u. Z. endend, noch mehrere Versuche
gegeben, von ganz unterschiedlichen Ansätzen her die alten staatlichen und
kultischen Verhältnisse Israels zu restaurieren, also die Dreiheit von Land,
Kult und Tora. Aber die Bedingungen für eine solche Restauration waren schlecht,
weil das Land in dieser langen Periode fast immer unter fremder Herrschaft stand,
zuerst unter griechischer, dann unter römischer, und weil nicht nur der politische
Druck, den die Fremden ausübten, sondern mehr noch der wirtschaftliche und
der kulturelle das Jude-Sein fragwürdig machte. Jetzt wird zum ersten Male
jüdische Identität zum Problem, im Lande Israel selbst und unter den weit
verstreuten Juden in der Welt: Was ist jüdisch? Auf welches Bild hin muß
ich mich bewegen, um als Jude ich selbst zu bleiben? Es kommt im Lande Israel und
in Teilen der Diaspora zu massiven Polarisierungen zwischen den Vertretern bestimmter
Identifikationsprogramme. Hellenistische Assimilanten, weltflüchtige Asketen,
toralehrende Rabbis und fanatische Nationalisten bildeten nicht mehr, wie im alten
Israel, legitime Varianten, sondern unversöhnliche Gegensätze, die in
ein gemeinsames jüdisches Selbstbild nicht mehr zu integrieren waren. Nicht
nur an der römischen Übermacht, sondern vor allem an dieser Polarisierung
im damaligen Judentum Palästinas ist der Versuch einer Restaurierung Alt-Israels
schließlich gescheitert. Treffend hat es ein Talmudlehrer formuliert: &hibar;Solange
unsere Liebe noch stark war, konnten ivir uns auf der Kinge eines Roretts schlafen
legen.Jetzt aber, da unsere Liebe nicht mehr stark ist, reicht eine Bettstelle von
sechzig Ellen nicht mehrfür uns®.
Das jüdische Volk war von da an ohne Land (auch wenn immer weiter Juden im
jetzigen Palästina lebten!) und ohne Opferkultstätte; wichtige geistige
Zentren des Judentums lagen von nun an im Ausland. Nur die Tora war als identitätsstiftendes
Mittel übriggeblieben. Sie blieb das einzige fast 1800 Jahre lang.
Es ist das weltgeschichtliche Verdienst der Pharisäer, der Toralehrer jener
Tage, jüdische Identität und damit das jüdische Volk selbst vor der
Auflösung bewahrt zu haben. In jahrhundertelanger Arbeit, die schon lange vor
der Zerstörung des Tempels begonnen hatte, haben sie und ihre Nachfolger, die
Rabbinen, das am Sinai gegebene Lebensgesetz Israels ausgelegt, präzisiert,
aktualisiert, immer mehr verfeinert - so lange, bis kein einziger Bezirk privaten
und gesellschaftlichen Lebens mehr außerhalb der normativen Anweisungen der
Tora lag.
So entstand etwas in der Kulturgeschichte Einmaliges: ein unsichtbares Netz, das
alle Juden der Welt zusammenhielt. Tora begann das kleine Kind mit drei Jahren zu
leiten. Tora formte den heranwachsenden jungen Menschen zu einer unverwechselbar
jüdischen Persönlichkeit. Und Tora hielt den Erwachsenen in seinem Judentum
bis hinein in seine Sterbestunde. Tora: das war für das wandernde Minderheitsvolk
transportable Heimat, mitzunehmen in jedes Exil. Tora: das war aber auch die unsichtbare
Grenze gegen die anderen Völker, die nicht zuließ, daß Juden im
Meer fremder Kulturen untergingen und ihre Identität verloren. Tora: das war
zugleich der Lebensentwurf für den jüdischen Menschen und die Anleitung,
wie dieser ihm ähnlich werden konnte. Unter der Herrschaft der Tora war jüdische
Identität wieder, wie im alten Israel, eindeutig geworden; sie war, um mit
Brecht zu sprechen, &hibar;das Einfache, das schwer zu machen ist®. Aber auch
nicht zu schwer, weil ja niemand allein damit blieb; jeder einzelne Jude und jede
Jüdin wurde begleitet, ermutigt, korrigiert durch die Gemeinde am Ort, die
sich wiederum, ohne daß es eine festgelegte Organisation gab, als Teil des
ganzen jüdischen Volkes verstand, wo immer sie lebte.
Die vorchristliche Umwelt störte diesen ständigen jüdischen Identifikationsprozeß
unter Leitung der Toralehrer nicht. Babylonier, Perser, Griechen und Römer
hatten Platz für viele Religionen und Kulturen; sofern sie dem Staat nicht
gefährlich schienen. wurden alle toleriert.
Als aber der römische Staat christlich geworden war - vom 4. Jahrhundert u.
Z. an in einem kontinuierlichen Prozeß -, wurde jüdisch- Sein wieder
zum Problem. Diesmal von außen her; denn für Christen war Judentum ein
Skandalon von Anfang an. Antijüdisch zu sein gehörte zum klassischen katholischen
Christentum, weil Juden (Juden aller Generationen!) per definitionem dem Gekreuzigten
zugeordnet waren als dessen dunkler, dämonischer Gegenpart. Darum konnte die
Kirche, als sie zur politischen Macht geworden war, sich jüdisch identifizierende
Juden nicht zur geschlossenen christlichen Gesellschaft zulassen - es sei denn als
getaufte, also nicht mehr identische Juden. Allenfalls mußte die Kirche Juden
dulden, solange diese wirtschaftlich unentbehrlich waren; aber dann, wie Augustinus
gelehrt hatte, sie durch gesetzgeberische und pädagogische Maßnahmen
identisch machen mit den verächtlichsten und niedrigsten Menschenwesen, allen
Christen zur grausigen Abschreckung.
Von etwa 400 u. Z. an bis in die Reformationszeit übernimmt die christliche
Kirche die Sorge für die so verstandene jüdische Identifikation. Sie erläßt
Gesetze, immer wieder neue, die Juden demütigen und zu Parias machen. Sie zwingt
Juden wirtschaftliche Bedingungen und Positionen auf, in denen lebend sie Haß
und Abscheu erregen müssen. Denn Juden als Pfandleiher und Viehhändler
müssen, besonders in Notzeiten (und wann war für das einfache Volk, ihre
wichtigste Klientel, nicht Notzeit?) als Nutznießer von Verelendung Haß
erregen als Hausierer, Bettler und Räuber Verachtung und Abscheu. Sie sperrt
Juden in Wohnbezirke ein, in denen sonst niemand wohnen will, die nicht erweitert
werden dürfen, wenn ihre Bevölkerung wächst, wo dem Besucher, der
da hindurchgeht, übel wird vor so viel Dunkelheit, Gestank und Elend. Mit alledem
und anderem, so dem durch willkürliche Vertreibungen auferlegten Zwang zu ständiger
Wanderschaft, werden Juden dann noch lange nach Ende der Ghettozeit identifiziert
werden. Denn tief, fast unauslöschbar, prägen sich solche durch Jahrhunderte
wahrgenommene judenbilder dem kollektiven Volksbewußtsein ein. Solche Judenbilder
haben nicht nur entscheidend am Zustandekommen von Auschwitz mitgewirkt; sie haben
Auschwitz sogar überdauert.
Wie nun bleiben da die alten Torajuden aus antiker Zeit, stolz und frei und weitgehend
gleichberechtigt, noch mit sich selbst identisch? Wie übersteht ein Volk solche
viel- hundertjährige Schande, ohne Schaden zu nehmen an seiner Seele?
Wir wissen aus der erhalten gebliebenen jüdischen Literatur des Mittelalters,
daß die Juden sich unter solchem Druck um so fester an die Tora gebunden haben.
Der Sabbatfriede, die Wärme im Umgang zwischen Mann und Frau, die Hochschätzung
der Kinder, die Schönheit der Feste, aber auch die straffe Organisation der
einzelnen Gemeinde, die strenge Leitung durch das immer mächtiger werdende
Rabbinat, das Gebot unbedingter Solidarität und gegenseitigerverantwortung
(&hibar;In ganz Israel steht jeder für jeden ein® lehrt die rabbinische
Tradition) - das alles gab schon dem jüdischen Kind den Schutzraum, in dem
es Ich-Stärke aufbauen, und die Selbstbilder, auf die hin es reifen konnte.
Aber mit der Länge der Zeit mußte unvermeidlich unter dem ständigen
Überdruck christlicher Gewalt auch eine Beschädigung, eine Erosion jüdischer
Identität einsetzen. Ein solcher Außendruck hält zwar eine Gruppe
ganz gut zusammen. Aber er verhindert, was zur Gesundheit jeder Gruppe wie jedes
einzelnen Menschen immer auch gehört: das Ausleben von Spannungen, das freie
Austragen von Aggressionen, die Diskussion von gegensätzlichen Standpunkten,
ohne die das geistige Leben stagnieren muß, aus denen neue Synthesen erst
entstehen können. Gewiß ist der Talmud ein Buch voll tiefer Weisheit.
Aber über Jahrhunderte hinweg immer nur Talmud und Kommentare zum Talmud und
Kommentare der Kommentare studieren - das schärft zwar den Intellekt ganz außerordentlich.
Doch das so geschärfte Messer des Geistes hat nichts zum Schneiden; es fehlt
der Austausch mit der Umwelt, neue Anstöße kommen nicht hinzu, Sterilität
und Forrnalismus breiten sich aus. Ein jüdischer Typ wird geformt, der über
brillanten Verstand verfügt, aber auch über jenen bitteren Sarkasmus und
Zynismus des Eingesperrten, des Ghettomenschen, des Parias auf höchstem intellektuellem
Niveau, den Nichtjuden so oft &hibar;zersetzend® nannten, ohne sich darüber
klar zu werden, daß dies ein Produkt der den Juden jahrhundertelang aufgezwungenenen
Isolierung in einer geistigen Kunstwelt ohne Kontakt mit den kulturellen Entwicklungen
ringsumher war, genau wie die anderen vermeintlich &hibar;typisch jüdischen®
Identitätsmerkmale des geborenen Wucherers und des ewigen Wanderers.
Aber noch etwas anderes entsteht durch den lange anhaltenden Druck der feindlichen
christlichen Umwelt allmählich in vielen Juden Mitteleuropas, jedenfalls in
solchen aus der materiell und intellektuell gehobenen Schicht: eine schleichende
Erosion des Vertrauens auf den eigenen, jüdischen Gott und die Unlust an einer
mehr und mehr ritualisierten und formalisierten Tora. Im Reifungsprozeß vieler
solcher jungen Juden setzt eine tiefgreifende Störung ein, weil der alte Entwurf
des vollkommenen Torajuden unter dem Belagerungsdruck und seinen Erniedrigungen
und natürlich auch unter dem zunehmenden Einfluß einer sich allmählich
von der Herrschaft de Religion ablösenden, von der Aufklärung geprägten
Umwelt seine Leuchtkraft verliert.
Im 19. Jahrhundert nun fallen allmählich überall in West- und Mitteleuropa
die Trennungsmauern - soweit staatliche Reformgesetze dies bewirken können.
Die unsichtbaren Trennwände, die Vorurteile und Ressentiments, die jahrhundertealte
christliche Erziehung gegenüber Juden errichtet hat, bleiben allerdings bestehen.
Aber doch: Juden werden jetzt in gewissen Grenzen frei. Sie dürfen Wohnort,
Lebensweise und Beruf selbst wählen, dies Letztere in den deutschen Staaten
allerdings mit gravierenden Einschränkungen.
Mit dem, was sie im Ghetto eingeübt hatten, mit scharfem Verstand und wirtschaftlicher
Kompetenz, verbunden mit Überlebenskunst unter härtesten Bedingungen,
kommen sie rasch nach oben in der sich neu formierenden Gesellschaft von Besitz-
und Bildungsbürgern. Das aufkommende Maschinenzeitalter schafft neue Produkte
in Massen, neue Märkte und einen ungeheuren Kapitalbedarf; das gibt Juden große
Aufstiegschancen. Die bisher so übermäßig Eingegrenzten werden gewissermaßen
von einem Sog der neuen ökonomischen und kulturellen Freiheit erfaßt,
der sie aus mittelalterlichen Verhältnissen in das moderne Leben der Völker
hineinzieht, unter denen sie auch der Druck der alten Ghettoverhältnisse trieb
sie hinaus in die Weite neuer geistiger Möglichkeiten. Endlich dazugehören!
Die alten Kleider ausziehen! Die alten Folianten beiseite legen! Die alten Rabbis
vertauschen mit Kant, Fichte, Hegel! Enorme geistige und seelische Kräfte,
lange niedergehalten, strebten nach neuer Orientierung.
Aber: auf welchen Entwurf hin? Was bot sich jungen Juden statt des traditionellen,
suspekt gewordenen Judentums an, um Identität zu ermöglichen? Das Christentum,
immer noch Religion der Herrschenden, zog nur wenige an, auch wenn unter diesen
wenigen berühmte Namen sind. Die meisten westeuropäischen Juden haben
ihre Identität jetzt gar nicht mehr in einer Religion gesucht, sondern in den
Werten der bürgerlichen Gesellschaft, die sich ihnen eröffnen sollte und
deren sie sich wert zu erweisen suchten: tüchtig sein, vorwärts kommen,
Erfolg haben, ein anständiges Familienleben fuhren, die schönen Künste
pflegen, wohltätige Vereine fördem und - nicht zuletzt - verläßliche
Patrioten sein. Sie, die unter dem Druck des Mißtrauens ihrer Umgebung litten,
die sie, unbeeindruckt von allen jüdischen Anpassungsbemühungen, weiterhin
für unzuverlässige Fremde hielt, waren, um sich als zugehörig und
verläßlich zu beweisen, oft sogar patriotischer als die anderen, bis
hin zur nationalen Über-Identifikation. Die jüdischen Elemente wie Sabbat,
Festtage, Gebet, Speisegebote wurden in den von der Umwelt vorgegebenen Rahmen eingepaßt,
auch verändert oder sogar aufgegeben, soweit sie sich nicht ohne Nachteil für
die erstrebte Anerkennung durch die Umwelt einfügen ließen. Das Jüdische
zierte vielerorts noch das Leben, aber prägte es nicht mehr. Für die große
Mehrheit, besonders der mittel- und westeuropäischen Stadtjuden, war Judentum
nur noch eine abgespaltene, private, konfessionelle Provinz. Die jüdischen
Gemeinden waren, ähnlich wie auch die christlichen, zu Treffpunkten von Erbauung
und Geselligkeit Suchenden geworden, gaben aber dem einzelnen keine Impulse mehr
für sein alltägliches Jude-Sein, noch waren sie Zentren des Zusammenstehens
gegenüber einer nach wie vor reservierten bis feindseligen Umwelt.
Das war die Situation, in der ein mittel- oder westeuropäischer, verbürgerlichter
Jude mit dem Toren aus Rabbi Chanochs Geschichte hätte fragen können:
Alles hab ich - aber wo bin ich?
Im Ostjudentum, also in den jüdischen Gemeinden in Rußland und Polen,
war das anders. Denn dort war die Geschichte der Juden anders verlaufen als im Westen.
Dort hatten Juden, wiewohl zunehmend in vieler Hinsicht entrechtet, oft auch physisch
bedroht, doch immer einen Freiraum behalten, in dem sie sich selbst gemäß
jüdischer Tradition identifizieren konnten. Das Schtetl, so armselig das Leben
darin war, war keineswegs ein Ghetto. Und Juden waren nicht nur Händler, in
den Städten auch wohlhabende Kaufleute und in der Periode der spät einsetzenden
Industrialisierung Fabrikanten und Unternehmer. In der Masse waren sie Handwerker,
aber auch Pächter oder Verwalter, Schankwirte und Fuhrleute, im späten
18. und im 19. Jahrhundert auch bäuerliche Kolonisatoren. Der Typ des Ghettojuden
hat sich dort gar nicht herausbilden können. Die Gemeinden waren nach innen
autonom. Es gab eigene Erziehungseinrichtungen, streng auf Toratreue ausgerichtet
und jüdische Menschen formend wie vor tausend Jahren.
Dazu kam, daß Juden in Polen und Rußland niemals nur als religiöse,
sondem vor allem als ethnische Gruppe neben den vielen anderen, die dort zusammenlebten,
angesehen wurden, also als Nation, nicht als Konfession. Jude war man dort nicht,
weil man jüdisch betete, sondern weil man jüdisch geboren war, wie andere
polnisch, russisch oder ukrainisch. So blieb man auch dann jüdisch, wenn man
nicht merh zu beten vermochte.
All dies war anders als im Westen. Daher hatte das Judentum im Osten die Kraft und
auch den Freiraum, um enorme interne Spannungen zu integrieren: etwa im 18. Jahrhundert
zwischen Chassidim und Traditionalisten, im 19. zwischen Traditionalisten und Aufgeklärten,
am Ende des Jahrhunderts zwischen Zionisten und Sozialisten, Zionisten und Frommen,
Sozialisten und Frommen; sie alle blieben doch immer Juden. Ein jüdischer Proletarier
oder Bürgerlicher, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts Marxist wurde und Sozialdemokrat,
später Kommunist oder Mitglied der großen jüdischen Arbeiterpartei
in Polen und Rußland, des sogenannten &hibar;Bundes®, akzeptierte zwar
keine religiöse Begründung seines Jude-Seins mehr. Aber doch hatte er
eine jüdische Identität, auch wenn diese jetzt anders aussah als die anderer
Juden. Da er nicht selten aus der traditionellen jüdischen Erziehung seines
Elternhauses kam, aus dieser das ganze Leben durchdringenden Pädagogik im Geist
der Tora, trug er Elemente jüdischer Identität, manchmal sogar ganz bewußt,
in die neue, zur Veränderung der Welt bereite revolutionäre Gemeinschaft
ein, ohne einen Bruch zu empfinden.
Die Tora selbst kommt dem ja entgegen. Sie versteht sich als ein Instrument Gottes
zur Veränderung des Menschen und der Erde (in ihrer Sprache heißt das
&hibar;Heiligung®). Nichts soll bleiben, wie es ist; alles muß bereitet
werden auf das ausstehende messianische Heil hin. Man kann, so lehrt das Ostjudentum,
als Jude Gott verehren oder Gott verlassen oder auch Gott gar nicht erst kennenlernen
in einer religiös bereits entfremdeten Familie - und doch Jude bleiben, wenn
man nur den entscheidenden Impuls der Tora erfaßt hat, von ihm erfaßt
worden ist: Veränderung der Welt auf das kommende Reich hin. So sahen jüdische
Sozialisten ihre Identität als Juden in der erstrebten großen internationalen
Identität der Unterdrückten dieser Erde aufgehoben. aber nicht erledigt.
Aus dem Osjudentum ist auch das bisher letzte große Identifikationsprogramm
des europäischen Judentums hervorgegangen: der Zionismus. Auch wenn der Wiener
Journalist Theodor Herzl der bekannteste und einflußreichste Führer des
frühen Zionismus geworden ist, hat diese Bewegung ihren Ursprung und ihre stärksten
Kräfte im polnischen und russischen Judentum gewonnen. Zionismus meinte ursprünglich:
Selbsterneuerung des entstellten, durch Gewalt von außen verkrüppelten
Judentums vor allem durch Arbeit auf eigenem Boden im eigenen Land, Ablösung
der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen durch eine solidarische Gesellschaft
von Gleichen. Ein jüdischer Staat war damals nicht das wichtigste. Es kam auf
den Freiraum an, in dem Juden ihre eigene Identität ohne fremde Einmischung
ausformen konnten. Die meisten Westjuden vermochten diesem Entwurf, der ihre gerade
erst mühsam gewonnene bürgerliche Position wieder in Frage stellte, sie
wieder ins Ungewisse rief, nicht zu folgen. Die traditionell Frommen verwarfen ihn
ebenso entschieden: erst der Messias werde ganz Israel nach Hause bringen; so dürfe
niemand ihm vorgreifen. Die sozialistisch identifizierten Ostjuden wurden nur zu
einem Teil Zionisten. Die anderen, die internationalistisch dachten, konnten eine
auf die eigene Nation begrenzte Befreiung nicht erstrebenswert finden.
Somit gibt es, seit dem Ende des jüdischen Mittelalters im 19. Jahrhundert
und der Auflösung der klassischen jüdischen Gemeindestruktur, nicht mehr
die jüdische Identität. Es gibt jetzt eine Fülle möglicher jüdischer
Entwürfe, auf die hin jüdische Menschen sich orientieren können.
Keiner von ihnen kann den Anspruch erheben, für alle Juden verbindlich zu sein.
Daran hat auch Auschwitz nichts geändert. Auch nach Auschwitz gibt es weiterhin
alle diese jüdischen Identifikationsmodelle. Aber doch ist da seit Auschwitz
eine neue Erfahrung. Der größere Teil der Juden hat sie gemacht; sie
hat ihr Selbstverständnis verändert. Es ist die Erfahrung, daß wir
Juden zwar keinen gemeinsamen Gott, keine gemeinsame geistige Basis mehr, aber doch
ein gemeinsames Schicksal haben. Auschwitz hat alle Juden, Orthodoxe, Liberale,
Sozialisten, Zionisten, verbürgerlichte Ästheten und getaufte Nicht-mehr-Juden
mit dem gelben Stern markiert. Jeder dritte Jude ist ermordet worden. Die Überlebenden
sind gezeichnet davongekommen.
Wir Juden sind durch Auschwitz dreifach gezeichnet. Uns fehlt erstens eine ganze
jüdische Generation von Eltem, und auch von Großeltern, die uns Identifikationshelfer
hätten sein können. Wir sind zweitens lebenslang mit der Überwindung
eigener Auschwitz-Erfahrung beschäftigt. Diese war ja nicht nur Erfahrung von
Leid und Tod, wie auch andere sie durchgemacht haben. Vielmehr war, was Juden dort
erfuhren, eine Entmenschlichung und Entwürdigung, ein Zerbrechen von Selbstachtung,
so tief, daß wir noch viele Jahre später nicht mit dem vertrautesten
Menschen darüber sprechen konnten. Und drittens sind viele jüdische Töchter
und Söhne in der zweiten Generation durch Auschwitz in ihrer Suche nach eigener
Identität gehindert gewesen, weil sie sich mit derart beschädigten Eltern
nicht auseinanderzusetzen wagten, aber auch nicht identifizieren konnten.
Das ist die eine, negative Wirkung von Auschwitz, jüdische Identität betreffend.
Es gibt noch eine andere, positive. Juden, welcher jüdischen Identität
auch immer, und auch solche mit schon verlorener jüdischer Identität,
haben wieder gelernt, daß sie Juden sind. Wir alle haben gelernt, daß
wir, wie Emil Fackenheim gesagt hat, Hitler zu einem späten Sieg verhelfen
würden, wenn wir nicht endlich damit anfingen oder entschieden damit fortführen,
Juden zu sein. Wir würden unsere Toten verraten, wir wurden unser Überleben
zu einem ständigen, sinnlosen Leiden an einer offenen Wunde machen, wenn wir
Auschwitz nicht als Aufforderung verstünden (Fackenheim wagt einmal die Formulierung:
als 11. Gebot!), uns konsequent als Juden zu identifizieren.
Aber so richtig das ist - eine Rückkehr zu der verlorenen, allen gemeinsamen
Identität der vorchristlichen Torajuden kann es nicht geben, wie auch Fackenheim
weiß. Wer bis Auschwitz fromm war, wird es bleiben. Wer skeptisch zu sein
gelernt hat gegen jede Art von Gottesglauben, wird skeptisch bleiben. Wer seine
Identifizierung als Sozialist erfuhr, wird wegen Auschwitz - und wegen Stalin! -
nicht bürgerlich werden. Was aber jedem Juden geboten ist, ist die Arbeit an
einer neuen jüdischen Solidarität. Was wir weiterhin zu leisten haben,
von verschiedensten Ansatzpunkten her, ist eine neue, angestrengte Bemühung
um unsere gesamte jüdische Tradition, ein Transzendieren unserer Teilidentitäten,
denen wir ja nicht untreu werden, wenn wir sie relativieren, sie einordnen in ein
Ganzes, das größer ist als wir. Heute jüdisch sein, meint zugleich
Treue zum eigenen geschichtlichen Ort - und diese Relativierung des eigenen Standpunktes,
der nie ein absoluter, die anderen ausschließender Standpunkt sein kann. Wir
brauchen für unsere jüdische Identität Rosa Luxemburg, Ernst Bloch
und Erich Fromm - um nur Namen aus dem deutschen Sprachbereich zu nennen - genau
so wie Rabbi Akiwa und Maimonides, Mendelssohn, Baruch Spinoza wie Philo von Alexandria
und den Baal Schem Tow. Erst wenn des (in Generationen!) geglückt sein sollte,
die Gegensätze und Spannungen zu integrieren in eine neue Gesamkonzeption des
Judentums, werden wir wieder legitim von jüdischer Identität - im Singular!
- sprechen können."
Yaacov Ben-Chanan, Jüdische Identität im Spiegel der Literatur vor und
nach Auschwitz "Hofheismarer Protokolle" Nr. 265, 1989, überarbeitete
Fassung in: derselbe Jüdische Identität - heute Drei Essays S. 12ff)
[ Top | Zurück
]
Most recent revision: April 07, 1998
E-MAIL:
Martin Blumentritt