Michael Hagemeister

Sergej Nilus und die "Protokolle der Weisen von Zion"
Überlegungen zur Forschungslage *

I.

Eigentlich hatte Danilo Kis Anfang der achtziger Jahre einen Essay schreiben wollen über die Entstehungsgeschichte der "Protokolle der Weisen von Zion" und ihrem Herausgeber und Kommentator Sergej Nilus. Doch dann zeigte sich, daß zu viele "Teile dieser trüben Geschichte [...] im Schatten verblieben waren". Da entschloß sich der serbisch-jüdische Schriftsteller, jene Teile, die, wie er meinte, "wohl nie erklärbar sein" würden, aus der Phantasie zu ergänzen, und es entstand eine Erzählung - "Das Buch der Könige und Narren" ("Knjiga kraljeva i budala", 1983). (1) Sergej Nilus erscheint darin als ein "seltsame[r] Einsiedler", "für Eingeweihte einfach Vater Sergius".(2)
    In Umberto Ecos Erfolgsroman "Das Foucaultsche Pendel" ("Il pendolo di Foucault", 1988), den man auch als eine literarisch verbrämte Enzyklopädie okkulter Lehren und Weltverschwörungstheorien benutzen kann, hat der Herausgeber der "Protokolle" seinen Auftritt im 92. Kapitel. Beschrieben wird Nilus als "ein wandernder Mönch, der in talarähnlichen Gewändern durch die Wälder zog."(3) In einem eigens zu Ecos Roman erstellten Lexikon, in dem die historischen Daten und Fakten nachgewiesen werden, heißt es dazu erklärend: "Sergej Nilus" sei "ein Pseudonym, das vom - bis heute unbekannt gebliebenen - Autor eines 1905 in Rußland erschienenen, antisemitischen Buches verwandt wurde."(4)
    Fünf Jahre später läßt Eco Nilus noch immer als Mönch nun allerdings durch den "Wald der Fiktionen" wandern, und zwar in der sechsten seiner Harvard-Vorlesungen über Erzähltheorie.(5) Dort rekonstruiert der Literaturprofessor den Stammbaum der "Protokolle der Weisen von Zion", wobei er zu den bislang bekannten Quellen zwei weitere aus der französischen Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts beisteuern zu können glaubt. Das ließ den Rezensenten der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der "die Genese des falschen Dokuments [...] gut zu kennen" meinte, von einem "spektakulären Fund" und einer "philologischen Bombe" schwärmen;(6) doch finden sich die Hinweise auf die Romane von Eugène Sue und Alexandre Dumas schon im "Foucaultschen Pendel"(7) und in der neueren einschlägigen Literatur. (8)
    Eco geht es freilich nicht so sehr um Quellenforschung als vielmehr darum, den Weg von der literarischen Fiktion in die Wirklichkeit nachzuzeichnen. Seit langem fasziniert den Semiotiker und Schriftsteller der Grenzbereich zwischen Text und Welt, Fiktion und Faktizität, Wahn und Wirklichkeit. So handelt es sich etwa beim "Foucaultschen Pendel" um einen Roman, der das Umschlagen von Fiktion in Wirklichkeit schildert und der selbst wieder von einigen Lesern nicht als Roman, als Fiktion, gedeutet wurde, sondern als ernstgemeinte Enthüllung einer tatsächlichen Weltverschwörung.(9)
    "Das Foucaultsche Pendel" hatte einen Vorläufer, wenn nicht sogar ein Vorbild, in dem 1982 erschienenen und ebenfalls zum internationalen Bestseller avancierten Buch "The Holy Blood and the Holy Grail" (dt. Der Heilige Gral und seine Erben. Ursprung und Gegenwart eines geheimen Ordens), verfaßt von dem auf sensationelle "Enthüllungen" spezialisierten Autorentrio Michael Baigent, Richard Leigh und Henry Lincoln. In diesem Buch, das offenbar ernst genommen werden will, da es sich wissenschaftsförmig präsentiert und keine Fiktionsmerkmale aufweist, wird ein jahrhundertealter Geheimbund, die "Prieuré de Sion", entlarvt, dessen prominente Mitglieder auf konspirative Weise die Restauration der Dynastie der Merowinger betreiben. Auch hier erscheint "a rather contemptible individual known to posterity under the pseudonym of Sergei Nilus"(10) - diesmal als Herausgeber der Protokolle einer weltumspannenden Merowingerverschwörung!


II.

Sergej Nilus (1862-1929) und die "Protokolle der Weisen von Zion" sind seit längerem schon zum Gegenstand literarischer und pseudowissenschaftlicher Bearbeitung geworden.(11) Der Schriftsteller Kis begründete das damit, "daß man mit der Erforschung dieses Themas auf der Ebene der Tatsachen nicht mehr weitergehen [könne]".(12) Eine Ansicht, die offenbar auch von den Historikern geteilt wird; denn wie wäre sonst zu erklären, daß über die "Protokolle" nach wie vor zwar viel geschrieben, über ihre Herkunft und ihren Herausgeber Nilus jedoch nicht mehr geforscht wird. Die Zeit scheint vorbei zu sein, da - so Walter Laqueur - "viel kritische Intelligenz [...] aufgewendet [wurde], um das Rätsel dieses größten literaturpolitischen Betruges der modernen Geschichte zu lösen". (13)
    Was man heute dazu liest, geht auf eine Reihe mittlerweile klassischer Darstellungen zurück, von denen die jüngste, Norman Cohns berühmtes und in zahlreiche Sprachen übersetztes Werk "Warrant for Genocide", im Jahre 1967 erschienen ist.(14) Neuere Untersuchungen, wie etwa das von der Kritik als "ouvrage magistral" gerühmte, 1200 Seiten umfassende Werk des französischen Politologen Pierre-André Taguieff (15) oder die Monographien des polnischen Renaissance-Spezialisten Janusz Tazbir(16) und des italienischen Zeitgeschichtsforschers Sergio Romano(17), haben weiteres Material und neue Erkenntnisse nur noch bezüglich der späteren Verbreitung und Wirkung der "Protokolle" (z.B. in Polen und im faschistischen Italien) erbracht; was hingegen die Umstände ihrer Entstehung und ihre Frühgeschichte betrifft und - damit zusammenhängend - die Biographie ihres Herausgebers Sergej Nilus, so wurde der von Cohn vor nunmehr fast drei Jahrzehnten beschriebene Kenntnisstand nicht mehr überschritten.(18)
    Seitdem wird nur noch abgeschrieben und kompiliert,i und nicht einmal das geschieht sorgfältig, wovon die mehr oder weniger fehlerhaften Darstellungen aus jüngster Zeit zeugen. Die Frühgeschichte der "Protokolle" ist - auch ohne Zutun der Dichter - längst zu einer "Erzählung" (im Sinne Ecos) geworden, die, scheinbar geschlossen und überschaubar, nurmehr tradiert, nicht aber überprüft wird. Dabei müßten allein schon die offensichtlichen Widersprüche irritieren. Zwei Beispiele mögen dies belegen: In Veröffentlichungen aus jüngster Zeit heißt es über Sergej Nilus,(19) er sei ein "Mystiker", ein "mystischer Schriftsteller", ein "mystischer Theologe" ("teologo mistico"), ein "orthodoxer Mönch", ein "Priester der griechisch-orthodoxen Kirche", ein "(russischer) Professor" (ältere Darstellungen präzisieren: "Orientalist", "Doktor der hebräischen und chaldäischen Sprache"), ein "Adliger bei Hof" ("a court nobleman"), ein "Journalist", ein "fanatischer russischer Wanderprediger", ein "Halbverrückter" ("un demi-fou") oder - so Walter Laqueur - ein "ehemaliger Playboy"(20) gewesen. Wiederholt wird sein Name mit "Nilius" wiedergegeben, (21) und gelegentlich wird er sogar als "Autor und Fälscher" der "Protokolle" bezeichnet.(22) - Nichts von alledem trifft zu. Wer Nilus wirklich war, ist anscheinend unbekannt.(23)
    Ebenso widersprüchlich sind auch die Angaben über die frühen Veröffentlichungen der "Protokolle" durch Sergej Nilus im Anhang seines Buches "Das Große im Kleinen" ("Velikoe v malom"). Einige Autoren datieren die erste Ausgabe, die bereits die "Protokolle" enthalten soll, in das Jahr 1901 (24) oder 1902 (25). Andere schreiben, die Erstausgabe (noch ohne die "Protokolle") sei 1901 erschienen und die zweite Ausgabe (mit den "Protokollen") 1902 (26) oder 1905 (27). Cohn und die ihm folgende Mehrzahl der Autoren datieren die Erstausgabe von "Das Große im Kleinen" (ohne die "Protokolle") ebenfalls in das Jahr 1901, doch kennen sie die Ausgabe von 1903 (ohne die "Protokolle"), die damit zur zweiten und die von 1905 (mit den "Protokollen"), die zur dritten wird.(28) Schließlich findet sich auch noch die Angabe, die erste Bearbeitung der "Protokolle" durch Nilus sei 1903 erschienen.(29) Was die übrigen Ausgaben der "Protokolle" durch Krusevan und Butmi (seit 1903) betrifft, so sind die Angaben dazu noch verwirrender.(30)
    Offensichtlich hat es bislang niemand unternommen, alle zwischen 1903 und 1917 in Rußland erschienenen Ausgaben der "Protokolle" einzusehen und bibliographisch aufzunehmen, (31) geschweige denn die verschiedenen Redaktionen textkritisch zu untersuchen und zueinander in Beziehung zu setzen - ein angesichts der Bedeutung dieses Textes erstaunliches Versäumnis.(32) Durch eine genaue philologische Untersuchung der wichtigsten Quelle - nämlich der "Protokolle" selbst - könnte es immerhin möglich sein, die Textvarianten zu datieren und zu lokalisieren (die Ausgabe von 1903 enthält auffallend viele Ukrainismen) (33), ursprüngliche von späteren Intentionen zu unterscheiden und so die allmähliche Genese - denn um eine solche handelt es sich - dieses Textes zu rekonstruieren.
    Statt dessen werden abenteuerliche Geschichten kolportiert: vom Pariser Ochrana-Chef und seiner Fälscherwerkstatt, in der die "Protokolle" fabriziert worden seien, von einer theosophischen Geheimagentin, die sie dann nach Rußland gebracht habe, von einer Intrige gegen einen Wunderheiler am Zarenhof, die zur ersten Publikation der "Protokolle" durch Sergej Nilus geführt haben soll, und von einem "französischen Manuskript" der "Protokolle", das als Beweis für die Fälschung dient, jedoch verschwunden ist. Kaum eine Darstellung, die auf solche Geschichten - die Beispiele ließen sich vermehren - verzichtet. Aber halten sie einer Überprüfung stand?
    Die Herkunft der "Protokolle" ist bis heute ungeklärt - das sollte klar gesagt werden. Zwar deutet vieles darauf hin, daß russische Agenten und Angehörige der zaristischen Geheimpolizei in Frankreich - namentlich der in Paris residierende Chef der Auslandsabteilung Petr Rackovskij - an ihrer Entstehung beteiligt waren, doch konnten Art und Umfang dieser Beteiligung nie erhellt, geschweige denn nachgewiesen werden. Nur wenige Forscher haben allerdings versucht, in das Dickicht aus Lügen, Intrigen und geheimen Machenschaften, das die Herkunft der "Protokolle" umgibt, einzudringen, und keiner ist dabei über die Formulierung von Hypothesen hinausgelangt. Cohn hat denn auch resignierend festgestellt: "Bei dem Versuch, die Frühgeschichte der 'Protokolle' zu rekonstruieren, stößt man immer wieder auf Zweideutigkeiten, Unklarheiten und Rätsel."(34) Und: "Wir müssen diese Fragen auf sich beruhen lassen - bis vielleicht eines Tages ein Spezialist für die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts Zeit und Kraft findet, sie wieder aufzunehmen."(35) Daß diese Fragen noch immer offen sind und weiterer Forschung bedürfen, wird freilich unterschlagen, wenn - wie noch jüngst - behauptet wird, die "Protokolle" seien "ein Produkt der zaristischen Geheimpolizei"(36) oder: "Verfaßt hatte sie der Chef des zaristischen Geheimdienstes in Frankreich, Raschkowskij [sic!], in Zusammenarbeit mit einigen Agenten und Sympathisanten" (37) oder: "In Wirklichkeit hatte der in Paris stationierte Auslandschef der russischen Geheimpolizei sie [...] zusammengeschrieben."(38)
    Ebenso ungeklärt wie die Umstände ihrer Entstehung ist auch der angebliche Weg der "Protokolle" von Frankreich nach Rußland und zu Sergej Nilus. Es gibt mehrere Versionen. Am häufigsten wird die genannt, wonach eine gewisse Juliana (alias Justina) Glinka, eine Theosophin und Geheimagentin, die "Protokolle" aus Frankreich nach Rußland gebracht habe. Erstmals wurde diese Geschichte Anfang der dreißiger Jahre von einer Antisemitin und Verteidigerin der "Protokolle" in die Welt gesetzt.(39) Die jüngste Variante stammt von dem israelischen Forscher Dudakov: Danach habe Glinka die "Protokolle" von ihrem Chef Rackovskij erhalten und sie direkt an Nilus weitergegeben; Glinka und Nilus hätten sich, so Dudakov, um 1890 in Paris (ein andermal nennt er Biarritz) kennengelernt und seien 1900 gemeinsam nach Rußland zurückgekehrt.(40) Scheinbar einfach und überzeugend, hat diese Geschichte - wie auch alle anderen - den Nachteil, daß es keinerlei Belege für sie gibt.
    Was die Intrige gegen den Wunderheiler "le Maître Philippe" (Nizier Anthelme Philippe[-Vachod], 1849-1905)(41) betrifft, bei der Nilus und die "Protokolle" von konservativen Hofkreisen eingesetzt worden seien, so ist auch diese erstmals 1921 verbreitete und seitdem immer weiter ausgeschmückte Geschichte fragwürdig.(42) Die Intrige gegen Philippe, an der auch Rackovskij beteiligt gewesen sein soll, fällt in die Jahre 1901 bis 1902, als der Wunderheiler aus Lyon zweimal nach Rußland kam und den Zarenhof besuchte. Nilus, so heißt es, sei bereits im Jahre 1901 durch sein Buch "Das Große im Kleinen" den Gegnern Philippes aufgefallen, die ihn daraufhin an den Hof geholt und die Veröffentlichung der "Protokolle" im Jahre 1902 veranlaßt hätten. Ziel sei es gewesen, den französischen Martinisten zu diskreditieren und durch Nilus zuersetzen. In jenen Jahren aber weilte Nilus fern von Petersburg in russischen Klöstern, "Das Große im Kleinen" erschien erst 1903, und als die zweite Ausgabe, die erstmals die "Protokolle" enthielt, im Dezember 1905 herauskam, war "Maître Philippe" längst nach Frankreich zurückgekehrt (November 1902) und dort gestorben (August 1905).
    Immer wieder ist die Rede von einemi "französischen Manuskript" der "Protokolle", das auch als Beweis für ihre Herkunft dient. Dieses Manuskript war einer Zeugin angeblich 1904 oder 1905 von einem russischen Geheimagenten und Mitarbeiter Rackovskijs in Paris gezeigt worden. In mehreren Zeitungsartikeln, die zwischen Februar und April 1921 erschienen, gab diese Zeugin eine genaue Beschreibung des Manuskripts.(43) Ein anderer Zeuge, der im Mai 1921 an die Öffentlichkeit trat, wollte dasselbe Manuskript im Jahre 1909 bei Sergej Nilus gesehen haben.(44) Da beider Beschreibungen in allen Details übereinstimmten, sah man darin den Beweis, daß das in Nilus' Besitz befindliche Manuskript der "Protokolle" aus der Fälscherwerkstatt Rackovskijs stamme.(45) Daß der zweite Zeuge alle von ihm gemachten Angaben den vorausgegangenen Presseberichten (u.a. in denselben Zeitungen, in denen auch er publizierte) entnommen haben könnte, ist nie erwogen worden. Natürlich ist das mysteriöse Manuskript - für einige Autoren sogar das "Original der Protokolle" (was immer das heißen mag) - seitdem verschollen, doch hält sich in Moskau das Gerücht, es habe später dem berühmten Philosophen und Priester Pavel Florenskij (1882-1937) gehört und werde bis heute in dessen Privatarchiv aufbewahrt.(46)
    Mit beinahe jeder neuen Darstellung wächst die Zahl der Widersprüche und Fragen: Stand Nilus "in hoher Gunst beim kaiserlichen Hofe"(47), oder war er nur ein verarmter Gutsbesitzer und "kleinerer Beamter in der Kanzlei des Heiligen Synods"? (48) Wurden die "Protokolle" in Rußland von der zaristischen Geheimpolizei "zur antisemit[ischen] Hetze" benutzt, "die in blutigen Pogromen endete"(49), oder hatten sie keine nachweisbare Wirkung, ja wurden nicht einmal von rechtsextremen Kreisen im berüchtigten Bejlis-Prozeß eingesetzt?(50) Erschienen die "Protokolle" in Rußland "in Massenauflage"(51) und waren sie "weitverbreitet"(52), oder waren Auflage und Verbreitung eher gering?(53)


III.

Verfolgt man - was selten geschieht - die Angaben zur Frühgeschichte der "Protokolle" bis an ihre Ursprünge, geht man also "zu den Quellen", so stellt man fest, daß diese spärlich fließen und zumeist trübe sind. Vage, ungesichert und widersprüchlich sind die Nachrichten über Sergej Nilus und seine Rolle bei der Veröffentlichung und Verbreitung der "Protokolle". Insbesondere divergieren die Angaben darüber, wann, durch wen und zu welchem Zweck er in den Besitz der "Protokolle" gelangt ist - hier sind ganz offensichtlich Spuren verwischt und falsche Fährten gelegt worden.
    Wesentliche Angaben über die Herkunft der "Protokolle", ihre "originale" Fassung und ursprüngliche Funktion sowie über ihren Herausgeber und Kommentator Sergej Nilus stammen von einem einzigen Zeugen - dem französischen Grafen und orthodoxen Konvertiten Alexandre du Chayla. Dabei handelt es sich um "Erinnerungen", die du Chayla im Jahre 1921 verfaßt und in russischen Emigrantenzeitungen in Paris veröffentlicht hat,(54) sowie um seine Aussagen im Prozeß um die "Protokolle" vor dem Berner Gericht im Jahre 1934.(55)
    Du Chayla war als junger Mann Anfang 1909 nach Rußland gereist und hatte sich im Kloster Optina Pustyn' niedergelassen, wo zu jener Zeit auch Nilus lebte. Im Verlauf fast eines Jahres hatte er den Herausgeber der "Protokolle", wie es scheint, gut kennengelernt und dessen Vertrauen gewonnen. Das bis heute in der Literatur vorherrschende Bild von Nilus, seiner äußeren Erscheinung, seiner Persönlichkeit und seiner Lebensweise, beruht fast ausschließlich auf du Chaylas Schilderung.(56) Du Chayla gab auch eine Beschreibung des "französischen Manuskripts" der "Protokolle", das sich in Nilus' Besitz befunden haben soll. Und er bot eine ausführliche Erklärung für die Herkunft und die Funktion der "Protokolle" sowie für die Rolle, die Nilus dabei gespielt hat - nämlich die Geschichte von Rackovskij und der Intrige um "Maître Philippe" -, die so plausibel klingt, daß sie von fast allen Autoren übernommen wurde. Da sich du Chayla in seinen "Erinnerungen" und vor dem Berner Gericht kritisch distanziert über Nilus und ablehnend über die "Protokolle" äußerte wurden seine Angaben stets als besonders zuverlässig angesehen(57) und ausführlich zitiert.(58)
    Angesichts dieser herausragenden Bedeutung als Zeuge wie auch als Interpret ist es erstaunlich, daß der Person du Chaylas in der wissenschaftlichen Literatur zu keiner Zeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Man begnügte sich, die knappen biographischen Daten ungeprüft wiederzugeben, die du Chayla selbst der Veröffentlichung seiner "Erinnerungen" im Jahre 1921 vorangestellt hatte. Wer aber war dieser geheimnisvolle Graf,(59) der zwölf Jahre in Rußland gelebt hat und den man als den "Kronzeugen" im Falle Nilus' und der "Protokolle" bezeichnen kann? Keiner der Forscher hat diese Frage zu beantworten versucht.
    Graf Armand Alexandre de Blanquet du Chayla wurde als Abkömmling einer alten katholischen Lyoneser Adelsfamilie 1885 in St. Légier bei Vevey geboren. Sein Todesdatum ist unbekannt; das letzte Zeugnis, eine Korrespondenz mit Vladimir Burcev, stammt aus den Jahren 1938/39. (60) Dazwischen liegt ein bewegtes Leben, das zahlreiche, wenn auch sehr weit verstreute Spuren hinterlassen hat. (61) Trägt man sie zusammen, so entsteht das Bild einer schillernden und widersprüchlichen Persönlichkeit.(62) Schon früh hatte du Chayla sich für Rußland interessiert; er lernte Russisch und soll um das Jahr 1905 zur Orthodoxie übergetreten sein. Über seine Motive ist nichts bekannt. Anfang 1909 reiste er nach Rußland, um sich, wie er angab, mit Sprache und Sitten des Landes vertraut zu machen. Von Januar bis November 1909 lebte er im Kloster Optina Pustyn',(63) wo er mit Sergej Nilus zusammenkam. Anschließend studierte er an der Geistlichen Akademie in Petersburg, unternahm Reisen und verkehrte in der Petersburger Gesellschaft. Während des Krieges diente er als Freiwilliger in der russischen Armee; im Bürgerkrieg leitete er die Politische Abteilung der Donkosaken-Armee unter Krasnov, Denikin und Wrangel. Nach dem Fall der Krim wurde er im November 1920 aus Sevastopol' evakuiert und kehrte über Konstantinopel in seine Heimatstadt Lyon zurück.
    Es gibt zahlreiche Hinweise, daß du Chayla während seines Aufenthaltes in Rußland das Milieu prominenter rechter und rechtsextremer Politiker und Kirchenleute frequentierte. Wiederholt wurde er als eifernder Orthodoxer und Monarchist, ja sogar als Antisemit und Anhänger der Verschwörungstheorien Edouard Drumonts geschildert.(64) Einige dieser Zeugnisse mögen fragwürdig sein, da sie erst nach du Chaylas aufsehenerregenden Äußerungen über Nilus und die "Protokolle" veröffentlicht wurden und möglicherweise die Absicht verfolgten, den "Kronzeugen" zu diskreditieren. Doch gibt es auch Hinweise aus früherer Zeit. So wird die Behauptung, du Chayla sei in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als Agent für den panslavistischen Politiker Graf Bobrinskij in geheimer Mission in Galizien tätig gewesen,(65) durch die Meldung einer rechtsextremen Petersburger Zeitung vom Juli 1911 gestützt, wonach du Chayla in Czernowitz verhaftet und von den österreichisch-ungarischen Behörden ausgewiesen worden sei. (66)
    Auch für du Chaylas antijüdische und antifreimaurerische Haltung gibt es ein bemerkenswertes Zeugnis. So berichtet Sergej Nilus in seinen bislang unbeachtet gebliebenen Aufzeichnungen aus dem Jahre 1909, die bereits Ende 1915 - also lange vor der Diskussion um die "Protokolle" - veröffentlicht worden sind, von seinen Begegnungen mit dem "französischen Vicomte" und schildert diesen als geistesverwandt, ja als erklärten Antisemiten und Gegner der Freimaurer. Der Graf wird mit den Worten zitiert, daß in Frankreich "die Regierung und die Creme der republikanischen Gesellschaft völlig von Freimaurern durchsetzt und verjudet" seien.(67)
    Undurchsichtig ist die Rolle, die du Chayla während des Bürgerkriegs im Süden Rußlands und später in Bulgarien gespielt hat. Im April 1920 ließ Wrangel ihn unter dem Vorwurf des Hochverrats verhaften. Er sollte erschossen werden, doch kam er unter dramatischen Umständen wieder frei, nachdem er sich bei einem Selbstmordversuch schwer verletzt hatte.(68) Immer wieder wurde in der Folge der Vorwurf gegen ihn erhoben, ein "bolschewistischer Agent" gewesen zu sein; auch später habe er, so hieß es, für die Sowjetunion gearbeitet. Letzteres bezog sich auf die Repatriierung von Angehörigen der ehemaligen Wrangel-Armee aus Bulgarien nach Sowjet-Rußland in den Jahren 1922 und 1923, bei der du Chayla maßgeblich auf seiten des Sowjetischen Roten Kreuzes tätig war.(69) Du Chayla, der nach seiner Rückkehr aus Rußland zurückgezogen lebte, hat sich zu diesen Vorwürfen nie geäußert.
    Der weltweit beachtete Berner Prozeß der Jahre 1934 und 1935 brachte du Chayla noch einmal in die Öffentlichkeit.(70) Nachdem im Juni 1933 der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die Berner Kultusgemeinde Strafanzeige gegen die Verbreitung der "Protokolle" als Schundliteratur gestellt hatten, fand im November 1933 die erste Hauptverhandlung vor dem Richteramt V. in Bern statt. Sie endete mit der Verfügung des Gerichtspräsidenten, über die "Protokolle" eine Expertise zu veranstalten. Die Kläger wandten sich daraufhin an du Chayla, der zu jener Zeit in Suresnes bei Paris lebte, um ihn als Experten und Zeugen zu gewinnen. Federführend in dieser Angelegenheit war der in Paris lebende Historiker Ilja Cerikover (Elias Tscherikower, 1881-1943), dessen Lebenswerk der Erforschung des Antisemitismus in der Ukraine galt.(71) Du Chayla willigte ein und erstellte bis Juli 1934 ein Manuskript mit dem Titel "Souvenirs sur S.A. Nilus et les origines des 'Protocoles des Sages de Sion' (1909-1920)" (72), für das er von Cerikover ein Honorar von 7500 frs erhielt.(73) Der Text des Manuskripts ist weitgehend identisch mit den "Erinnerungen" von 1921, nur an unwesentlichen Stellen finden sich kleine Ergänzungen und Präzisierungen. Am 29. Oktober 1934 trat du Chayla als Zeuge vor dem Berner Amtsgericht auf; seine Aussagen wurden später von den Verteidigern der "Protokolle" veröffentlicht.(74)
    Du Chaylas vielzitiertes Zeugnis, soviel läßt sich sagen, sollte mit Skepsis aufgenommen werden. Nicht nur, weil viele seiner Angaben falsch sind und in die Irre führen. Auch seine eigene Rolle bleibt unklar - die Frage, ob er als Privatmann in Rußland war oder ob er einen politischen (geheimdienstlichen?) Auftrag hatte, im Hinblick etwa auf eine französisch-russische Allianz (Graf Bobrinskij, in dessen Machenschaften auch du Chayla involviert gewesen zu sein scheint, galt als Verfechter einer solchen Allianz). Du Chayla verkehrte, das ist sicher, mit rechtsgerichteten Politikern und Kirchenleuten und scheint deren Ansichten geteilt zu haben. Möglicherweise war er Antisemit, und vielleicht war er es sogar, der Nilus mit antisemitischer und okkultistischer Literatur aus Frankreich versorgte, die dieser in seinen späteren Ausgaben der "Protokolle" so reichlich zitierte (allerdings ist dieser Verdacht durch keinerlei Beweise zu erhärten). Mit der Februar-Revolution, deren Ziele du Chayla übernahm, trat offenbar ein Wandel in seinen Anschauungen ein; fortan galt er als "Radikaldemokrat". In den zwanziger und dreißiger Jahren äußerte er sich gegen Faschismus und Antisemitismus, wobei er einen christlichen Standpunkt vertrat; in den dreißiger Jahren war er Mitglied einer Freimaurerloge.(75)


IV.

Zu den vielen ungeklärten Fragen gehört auch die nach dem Weg, auf dem die "Protokolle" nach Deutschland gelangten, von wo aus sie dann ihren Siegeszug um die Welt antraten. Zwar kennt man die Namen einiger russischer Emigranten und ihrer deutsch-völkischen Gesinnungsgenossen, bei denen die "Protokolle" um 1919/20 auftauchen, doch bleiben die Zusammenhänge unklar. Die von Konrad Heiden ohne Quellenangabe mitgeteilte Geschichte, wonach der Architekturstudent Alfred Rosenberg die "Protokolle" im Dezember 1918 nach Deutschland gebracht habe, nachdem sie ihm in Moskau von einem Unbekannten wortlos auf den Tisch gelegt worden seien, gehört wohl ins Reich der Legenden.(76)
    Wenig wußte man bislang auch über das Leben von Sergej Nilus, seine Herkunft, seine Aufenthaltsorte und seine Tätigkeit. Besonders spärlich sind die Nachrichten über seine letzten Lebensjahre sowie den Zeitpunkt und die Umstände seines Todes. Bekannt war lediglich, daß Nilus nach der Revolution in der Ukraine und in Rußland gelebt hat, man wußte auch von mehreren Verhaftungen und daß er immer wieder freigekommen war. 1930 sei Nilus in einer Moskauer Vorstadt gestorben. So liest man es bei Cohn und Laqueur und weiß es seitdem nicht besser.(77)
    Noch aber leben Menschen, die Nilus selbst und seine Angehörigen gekannt haben, die Andenken an ihn besitzen und Auskunft über ihn geben können. Und es gibt bislang unbeachtet gebliebene Quellen - Briefe, Manuskripte, Photos und Zeichnungen aus seinem Nachlaß. Ein Teil davon befindet sich in russischen Archiven; der größere Teil ist in Privatbesitz. Der Wandel in Rußland hat bewirkt, daß lange verborgene Materialien und zurückgehaltene Informationen, darunter auch Ergebnisse diskreter Recherchen von Sympathisanten, allmählich weitergegeben werden - wenn auch oft nur an Gleichgesinnte oder solche, die man dafür hält. (78) Dank dieser Materialien ist es möglich, den wechselvollen Weg von Sergej Nilus und seiner Frau durch das nachrevolutionäre Rußland zu verfolgen und ein Bild ihrer Lebensumstände zu gewinnen. In jenen Jahren, in denen schon der Besitz der "Protokolle" streng bestraft wurde, lebte Nilus, ihr prominentester Herausgeber, offen unter seinem Namen; er fuhr fort zu schreiben und zu publizieren und korrespondierte mit Freunden und Verwandten auch im Ausland. Nilus wußte, daß seine Ausgabe der "Protokolle" im Westen übersetzt und verbreitet wurde; von einem ihrer einflußreichsten Propagandisten, dem Industriellen Henry Ford, hatte er sogar ein Paket bekommen. Mehrmals wurde Nilus verhaftet, eine Zeitlang saß er in der Lubjanka, doch kam er immer wieder frei. (79) Bemühungen um eine Ausreise nach Deutschland scheiterten, doch gelang es, Bücher und Manuskripte nach Berlin zu schaffen, wo sie von einer Nichte von Nilus übernommen wurden. Diese Nichte, von der die Forschung nie etwas erfuhr, dürfte eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung der "Protokolle" gespielt haben, und sie ist zweifellos eine der bestinformierten Zeuginnen gewesen. In all den Jahren, in denen die Auseinandersetzungen um Nilus und die "Protokolle" weltweites Aufsehen erregten und eine Flut von Publikationen hervorriefen, lebte sie still und unerkannt zunächst in Deutschland, dann in Frankreich und schließlich in den USA. Dort ist sie 1989 im Alter von fast 96 Jahren gestorben.
    Elena Jur'evna Karcova wurde 1893 geboren.(80) Ihr Vater war der russische Diplomat Jurij Karcov, ein weltgewandter und gebildeter Mann. Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahre 1901 wurde Elena Karcova von ihrer Tante, der Hofdame Elena Aleksandrovna Ozerova (1855-1938), erzogen. Diese heiratete 1906 Sergej Nilus. Eine Zeitlang lebte Elena Karcova bei dem Ehepaar, später kam sie häufig zu Besuch, und nachdem sie Rußland verlassen hatte, hielt sie brieflichen Kontakt. Im Spätherbst 1918 war Elena Karcova nach Berlin gegangen. Dort hatte sie Anschluß gefunden an einen Kreis rechtsextremer russischer Emigranten um Petr Sabel'skij-Bork und Fedor Vinberg.(81) In enger Verbindung mit diesem Kreis stand Ludwig Müller von Hausen, der Herausgeber der ersten deutschen Fassung der "Protokolle". In Müllers Umgebung tauchte 1920 ein "Leutnant Karzoff" auf, möglicherweise ein Verwandter von Elena Karcova. Er gab an, Nilus persönlich gekannt zu haben und wußte, wo dieser sich im Jahre 1918 aufgehalten hatte. (82) Auch Nilus' Sohn Sergej fand Kontakt zu diesem Kreis; er war 1918 nach Deutschland geflohen und hatte sich an Müller gewandt, um, wie er später sagte, seinen Vater "aus Rußland zu retten".(83)
    Elena Karcova wußte von den Versuchen, Nilus und seine Frau aus Rußland herauszuholen. In diesem Zusammenhang nannte sie den Ernst Graf zu Reventlow, einen einflußreichen Protektor der russischen rechten Emigranten und unermüdlichen Propagandisten der "Protokolle". Reventlow habe sich voller Anteilnahme für das Schicksal von Sergej Nilus interessiert und seine Hilfe angeboten.(84) Ein Weg schien sich zu öffnen, als man entdeckte, daß ein Verwandter von Nilus' Frau an der deutschen Botschaft in Moskau tätig war. Botschaftsrat von Radowitz, (85) der seit Juli 1922 als Geschäftsträger in Moskau amtierte, erklärte sich bereit, Elena Aleksandrovna und ihrem Mann die Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen. Auch Botschafter Graf Brockdorff-Rantzau soll sich für das Ehepaar eingesetzt haben.(86) Das Vorhaben scheiterte. Doch benutzte Elena Aleksandrovna die Verbindung, um Teile des Archivs von Sergej Nilus (Bücher und unveröffentlichte Manuskripte) nach Moskau zu schicken, von wo aus sie im Diplomatengepäck nach Berlin geschafft wurden und an Elena Karcova gelangten.(87) Möglicherweise nahm diesen Weg auch die Korrespondenz, die Elena Karcova in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren mit Nilus und dessen Frau führte. Karcova hatte Verbindung zu mehreren in der Emigration lebenden Verwandten und Bekannten von Nilus, deren Nachrichten sie nach Rußland weiterleitete. Bei ihr liefen offenbar alle Fäden zusammen.
    Noch im Laufe der zwanziger Jahre war Elena Karcova nach Frankreich gegangen und hatte den religiösen Schriftsteller und Laientheologen Ivan Koncevic geheiratet, einen ehemaligen Angehörigen der Wrangel-Armee. In den dreißiger Jahren arbeitete Elena Koncevic von Paris aus für den antisemitischen "Welt-Dienst" des Oberstleutnants a.D. Fleischhauer in Erfurt. Sie stellte diesem angeblich weltweit operierenden Propaganda- und Nachrichtendienst, der die Verbreitung der "Protokolle" betrieb und auch beim Berner Prozeß hervortrat, "authentisches Material", darunter Briefe von Sergej Nilus, zur Verfügung.(88) 1952 übersiedelte sie mit ihrem Mann in die USA; seit 1961 lebte das Ehepaar in Berkeley. In ihrem Besitz befand sich die umfangreiche Korrespondenz mit Sergej Nilus und dessen Frau, Autorexemplare von Nilus' Werken, Photos und Zeichnungen sowie eine Anzahl unveröffentlichter Schriften. Ein Teil der Materialien erscheint - von allen antijüdischen und antitreimaurerischen Äußerungen sorgfältig gereinigt- seit 1969 im Verlag einer kleinen orthodoxen Bruderschaft im Norden Kaliforniens. (89)
    Über das Ende von Sergej Nilus, über Zeit und Ort seines Todes, gab es bislang nur Vermutungen und ungesicherte Angaben. Noch immer ist zu lesen, Nilus sei "in der Nähe von Moskau" oder "in Südrußland" gestorben, und noch immer gibt der amerikanische National Union Catalog sein Todesjahr mit 1930 an. Dabei war schon Anfang der achtziger Jahre im Moskauer Samizdat ein Manuskript aufgetaucht, das die letzten Monate im Leben des Sergej Nilus und die Umstande seines Todes genau beschrieb. Es handelte sich um die Erinnerungen der Marija Orlova-Smirnova, Tochter des Priesters Vasilij Smirnov, in dessen Haus im Dorf Krutec nahe der Stadt Aleksandrov (Gebiet Vladimir) Nilus und seine Frau Ende April 1928 Aufnahme gefunden hatten. Dort ist Sergej Nilus am 14. Januar 1929 an einem Herzanfall gestorben.(90) Die Erinnerungen dieser Augenzeugin, in den späten siebziger Jahren verfaßt, wurden zuerst 1986 im Westen veröffentlicht und sind seitdem auch in Rußland mehrmals erschienen.(91) Die Verfasserin lebt heute hochbetagt in Moskau.(92)


V.

Mit seiner Erzahlung über die "bis zur Unglaublichkeit phantastische Entstehungsgeschichte der Protokolle der Weisen von Zion" wollte Danilo Kis "die Lücken [...] füllen", die die historische Forschung offengelassen hatte, und so beschloß er, "auch jene Figuren zu beleben, die im dunkeln geblieben waren."(93) Das galt vor allem für jenen Unbekannten, der im August 1921 in Konstantinopel ein Exemplar des Buches von Maurice Joly dem Korrespondenten der "Times" übergeben hatte, das dann zum Nachweis der Fälschung führte.(94) Bei Kis wird dieser geheimnisvolle "Mr. X", "dessen Rolle [...] für die Lösung des Mysteriums der 'Protokolle' von hervorragender Bedeutung war,"(95) belebt und ausgemalt. Inzwischen aber wissen wir, um wen es sich gehandelt hat. Es war der Dichter und Übersetzer Michail Raslovlev, ein russischer Adliger und Monarchist, der 1987 in Frankreich gestorben ist.(96)
    Entdeckungen und Funde - das zeigen die genannten Fälle - sind noch immer möglich. Vielleicht ist es noch zu früh, die Geschichte von Sergej Nilus und den "Protokollen der Weisen von Zion" allein den Schriftstellern zu überlassen.


* Überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 14. Dezember 1994 am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin gehalten wurde.


Anmerkungen

1 In dem Erzählungsband Danilo Kis, Enzyklopädie der Toten, Frankfurt a.M. 1988, S. 141-189; die Zitate im Post scriptum, ebenda, S. 213f
2 Ebenda, S. 142, 144.
3 Umberto Eco, Das Foucaultsche Pendel, München 1989, S. 565.
4 L. Bauco, F. Milloca, Das Geheimnis des Pendels - entschlüsselt, München 1990, S. 238.
5 Umberto Eco, Fiktive Protokolle, in: ders., Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 1994, S. 155-184. Vorabdruck unter dem Titel: Eine Fiktion, die zum Albtraum wird. Die Protokolle der Weisen von Zion und ihre Entstehung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.7.1994.
6 Gustav Seibt, Unterschiedenes ist gut. Wahn wird Wirklichkeit: Entdeckungen von Umberto Eco, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.5.1994.
7 Siehe Eco, Pendel, S. 570-574.
8 Siehe Janusz Tazbir, Protokoly medrców Syjonu. Autentyk czy falsyfikat, Warszawa 1992, S. 7-16. Vgl. auch ders., Spiskowa teoria dziejów w literackim zwierciadle, in: ders., Od Haura do Isaury. Szkice o literaturze, Warszawa 1989, S. 210-232, 253-257. Zu den zahlreichen Vorläufem und möglichen Quellen der "Protokolle" im Bereich der russischen antisemitischen und antifreimaurerischen Belletristik ausführlich Savelij Dudakov, Istorija odnogo mifa. Ocerki russkoj literatury XIX-XX vv., Moskva 1993. - Leider gilt für die genannten Werke "Slavica non leguntur".
9 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, wie aus Dichtung Dokumente werden, bietet (worauf auch Eco wiederholt verweist) der 1868 unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe veröffentlichte Roman "Biarritz" von Hermann Goedsche, dessen Kapitel "Auf dem Judenkirchhof in Prag" in der Folgezeit immer wieder separat veröffentlicht, bearbeitet und in mehrere Sprachen übersetzt, schließlich unter dem Titel "Die Rede des Rabbiners" als authentisches Dokument einer jüdischen Weltverschwörung angesehen und zu einer der Vorlagen fur die "Protokolle" wurde. Ausführlich Volker Neuhaus, Der zeitgeschichtliche Sensationsroman in Deutschland 1855-1878. 'Sir John Retcliffe' und seine Schule, Berlin 1980, bes. S. 192-195. Zur Rezeption in Rußland zuletzt John Doyle Klier, Imperial Russia's Jewish Question, 1855-1881, Cambridge 1995, S. 440f.
10 Michael Baigent, Richard Leigh, Henry Lincoln, The Holy Blood and the Holy Grail, London (16) 1990, S. 198 f. - Das Werk ist inzwischen auch ins Russische übersetzt und wird von russischen Joumalisten, Politologen und Historikem ernsthaft diskutiert!
11 Zu letzterem Genre wird man auch Trevor Ravenscrofts okkulte Verschwörergeschichte "The Spear of Destiny" (1972) zählen können, ein Bestseller, der, inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt, immer wieder neu aufgelegt wird. Auch dort findet sich ein Kapitel über Sergej Nilus und die "Protokolle".
12 Kis, Enzyklopädie, S. 214.
13 Walter Laqueur, Deutschland und Rußland, Berlin 1965, S. 112.
14 Norman Cohn, Warrant for Genocide: The Myth of the Jewish World-Conspiracy and the Protocols of the Elders of Zion, London, New York 1967; danach zahlreiche Ausgaben und Übersetzungen, zuletzt ins Russische (Moskau 1990). Im folgenden zitiert nach der deutschen Ausgabe: Die Protokolle der Weisen von Zion. Der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung, Köin, Berlin 1969. - Zu den klassischen Darstellungen zählen ferner: Ju. Delevskij [d.i. Ja. Judelevskij], Protokoly Sionskich Mudrecov. (Istorija odnogo podloga), Berlin 1923; B[enjamin] Segel, Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet. Eine Erledigung, Berlin 1924; Hermann Bernstein, The Truth about "The Protocols of Zion", New York 1935 (Nachdruck ebenda 1971); Vladimir Burcev, "Protokoly sionskich mudrecov". Dokazannyj podlog, Paris 1938 (Neuausg. Moskau 1991); Henri Rollin, L'Apocalypse de notre temps. Les dessous de la propagande allemande d'après des documents inédits, Paris o.J. [1939] (Neuausg. ebenda 1991); John S. Curtiss, An Apprisal of the Protocols of Zion, New York 1942.
15 Pierre-André Taguieff, Les Protocoles des Sages de Sion, Bd. 1: Introduction a l'étude des Protocoles, un faux et ses usages dans le siècle, Bd. 2: Etudes et documents, Paris 1992. Vgl. die Rezensionen von Michel de Pracontal, Cette obsession qui a taché le siècle, in: Le Nouvel Observateur vom 16.-22.4.1992, S. 119-121, und Emile Poulat, in: Politica hermetica 6(1992), S. 129 f.
16 Tazbir, Protokoly.
17 Sergio Romano, I falsi protocolli. ll "complotto ebraico" dalla Russia di Nicola 11 a oggi, Milano 1992.
18 Eine Ausnahme bildet die originelle, jedoch kaum rezipierte Deutung des englischen Occulta-Spezialisten James Webb aus dem Jahre 1976 (siehe unten Anm. 40).
19 Siehe z.B. Alex Bein, Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, Bd. 1, Stuttgart 1980, S. 329; Yaakov Tsigelman, "The Universal Jewish Conspiracy" in Soviet Anti-Semitic Propaganda, in: Theodore Freedman (Hrsg.), Anti-Semitism in the Soviet Union: Its Roots and Consequences, New York 1984, S. 394; Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 183; Hans Sarkowicz, Die Protokolle der Weisen von Zion, in: Karl Corino (Hrsg.), Gefälscht! Betrug in Literatur, Kunst, Musik, Wissenschaft und Politik, Nördlingen 1988, S. 61; Friedrich Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, Darmstadt 1990, Teilbd. 2, S. 235; Monus Sominskij, Antisemitizm i antisemity, Jerusalem 1991, S. 73; Alice S. Nakhimovsky, Russian-Jewish Literature and Identity, Baltimore 1992, S. 217; Romano, Protocolli, S. 18; Seibt, Unterschiedenes. - Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.
20 Walter Laqueur, Der Schoß ist fruchtbar noch. Der militante Nationalismus der russischen Rechten. München 1993, S. 63. Zu einem differenzierteren Urteil über Nilus war Laqueur in Deutschland und Rußland, S. 116 f., gelangt.
21 So z.B. bei Hans Magnus Enzensberger, Kurze Geschichte eines Plagiats, Nachwort zu: Maurice Joly, Ein Streit in der Hölle. Gespräche zwischen Machiavelli und Montesquieu über Macht und Recht, Frankfurt a.M. 1990, S. 353; Ernst Piper, Die jüdische Weltverschwörung, in: Julius H. Schoeps, Joachim Schlör (Hrsg.), Antisemitismus. Vorurteil und Mythen. München, Zürich 1995, S. 130. Beide Darstellungen sind sehr oberflächlich und fehlerhaft.
22 So Martin George, Die Fälschung der Wahrheit und des Guten. Gestalt und Wesen des Antichrist im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 1(1991), S. 101; und an anderer Stelle: "Sergej Nilus berief sich in seinem Kommentar der von ihm erdachten 'Protokolle'.", ebenda, S. 102. Nilus als "Autor" der "Protokolle" auch in dem bekannten Werk von Friedrich Heer, Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum. München, Esslingen 1967, S. 200. Auch Berding, Moderner Antisemitismus, S. 183, scheint den "russischen Professor namens Nilus" zumindest teilweise für den Verfasser bzw. Kompilator der "Protokolle" zu halten. Stricker schließlich vermutet, Nilus habe den "Dialogue aux Enfers" von Maurice Joly "im Auftrag der Geheimpolizei speziell gegen die Juden umgeschrieben". Gerd Stricker, Geschichte des Antisemitismus in Rußland, in: Glaube in der 2. Welt 7/8(1993), S. 36.
23 Daran hat auch mein bescheidener Versuch offenbar nichts ändern können: Michael Hagemeister, Wer war Sergej Nilus? Versuch einer bio-bibliographischen Skizze, in: Ostkirchliche Studien 1(1991), S. 49-63; demnächst erweitert unter dem Titel: Qui était Serguei Nilus?, in: Politica hermetica 9(1995).
24 Z.B. Stricker, Geschichte, S. 35 f.
25 Z.B. Delevskij, Protokoly, S. 13.
26 Z.B. Alexandre du Chayla (siehe unten Anm. 44).
27 Z.B. Rollin, Apocalypse (1991), S. 33; Bein, Judenfrage, S. 329; Taguieff, Les Protocoles, Bd. 1, S. 47, 59, 61.
28 Cohn, Protokolle, S. 84, 109. Diese Version zuletzt bei B[ernhard] V[ogt], Protokolle der Weisen von Zion, in: Neues Lexikon des Judentums, Gütersloh, München 1992, S. 378. - Die Erstausgabe des Buches "Das Große im Kleinen" (ohne die "Protokolle") erschien im Jahre 1903; das Buch ist in der Universitätsbibliothek Helsinki vorhanden und über Fernleihe zugänglich. Die zweite Ausgabe (mit den "Protokollen") erschien 1905; ein Exemplar befindet sich in der Bibliothek des Britischen Museums London. Es existieren keine Ausgaben von 1901 und 1902.
29 In dem ausführlichen nicht gezeichneten Artikel "Protokoly Sionskich mudrecov", in: Kratkaja evrejskaja enciklopedija, Bd. 6, Jerusalem 1992, Sp. 840, 845. Verf. ist wahrscheinlich Savelij Dudakov.
30 Noch unlängst findet sich die falsche Angabe: "Die erste russische Ausgabe [der "Protokolle"] wurde von [...] Butmi [...] und Kruschewan in Kischinjow herausgebracht." Laqueur, Schoß, S. 63. An anderer Stelle schreibt Laqueur, die "Protokolle" seien zwischen 1903 und 1907 fabriziert worden. Walter Laqueur, The Long Road to Freedom: Russia and Glasnost, Vancouver, Toronto, 1990, S. 127. Richard Pipes geht in seiner großen Geschichte der Russischen Revolution ausführlich auch auf die "Protokolle" ein; dort heißt es, sie seien "erstmals im Jahr 1902 in einer St. Petersburger Zeitschrift abgedruckt" worden. Richard Pipes, Die Russische Revolution, Bd. 3, Berlin 1993, S. 416.
31 Ich habe elf Ausgaben der "Protokolle" aus den Jahren 1903 bis 1917 eingesehen; von weiteren fünf liegen mir bibliographische Angaben vor. Ein erster Versuch, alle Veröffentlichungen von Nilus bibliographisch zu erfassen, bei Hagemeister, Nilus, S. 62f. Inzwischen konnte die Bibliographie auf 74 Titel erweitert werden; alle Angaben wurden durch Autopsie überprüft.
32 Rollin erwähnt 1939 einen Vergleich der verschiedenen Ausgaben der "Protokolle" durch lI'ja Cerikover, doch ist dessen Studie ("une remarquable étude") nie erschienen. Rollin, Apocalypse (1991), S. 35. f. Zu Cerikover unten Anm. 71, 73.
33 Diese Beobachtung stammt von Cesare G. de Michelis, Rom, dem ich auch genauere Mitteilungen dazu verdanke.
34 Cohn, Protokolle, S. 136.
35 Ebenda. Vgl. auch die Feststellung des Historikers Katz, die Fragen nach dem Wer?, Wann? und Warum? der Abfassung der "Protokolle" seien nie beantwortet worden. Jacob Katz, Jews and Freemasons in Europe, 1723-1939, Cambridge, Mass. 1970, S. 171.
36 Robert Wistrich, Der antisemitische Wahn. Von Hitler bis zum Heiligen Krieg gegen Israel, Ismaning 1987, S.368, vgl. auch ebenda, S. 166 f.
37 Laqueur, Schoß, S. 63.
38 Piper, Weltverschwörung, S. 130.
39 L. Fry in ihrem Buch Waters Flowing Eastward, 1931; hier nach der dritten Auflage Chatou 1934, S. 87 ff. Von Fry stammt auch die weit verbreitete Behauptung, der Verfasser der "Protokolle" sei Ascher Ginzberg (Achad Haam) gewesen. Zur Person von Leslie (Lesly, Lesley, Lydia) Fry (alias Paquita de Shishmareff, P.A. Sismareva, Lidija Svecina, Fürstin Golicyna), die in den zwanziger und dreißiger Jahren eine der einflußreichsten Propagandistinnen der "Protokolle" war, gibt es nur sehr wenige und zudem widersprüchliche Angaben. Sicher ist, daß es sich um eine Betrügerin und Hochstaplerin gehandelt hat. 1920 hatte sie dem Generalsekretär von Henry Ford das "Original" der "Protokolle", das sich im Schließfach einer Bank in Schanghai befinden sollte, für 25 000 $ zum Kauf angeboten! Siehe Robert Singermann, The American Career of the "Protocols of the Elders of Zion", in: American Jewish History 71(1981/82), S. 72.
40 Vgl. Rollin, Apocalypse, S. 356, 364, 371, 424; Cohn, Protokolle, S. 127 ff., 133 f, 136; am ausführlichsten James Webb, The Occult Establishment, La Salle 1976, S. 213-273. Webb nimmt Glinkas Kontakte zu Elena Blavatskaja zum Anlaß, den Ursprung der "Protokolle" im russisch-französischen Okkultistenmilieu zu suchen.
41 Savelij Dudakov, Vladimir Solov'ev i Sergej Nilus, in: Russian Literature and History. In Honour of Professor Ilya Serman, Jerusalem 1989, S. 165; ders., O "Protokolach sionskich mudrecov", in: Daugava 3/4(1991), S. 132, 134; ders., Istorija, S. 147, 172 f.
42 Zuerst bei Alexandre du Chayla in seinen zahlreichen Artikeln, die 1921 und 1922 in der Pariser Emigrantenpresse erschienen. Später z.B. bei Rollin, Apocalypse, bes. S. 429-480, Cohn, Protokolle, S. 104-109, 125; Webb, Occult Establishment, S. 167-171, 240-243, 248-255. - Auch Eco läßt diese effektvolle Geschichte in seinem "Foucaultschen Pendel" nicht aus.
43 Die als sensationell gewerteten Aussagen der Fürstin Catherine Radziwill, einer schillernden Persönlichkeit, die ihre Einblicke in europäische Hof- und Adelskreise schriftstellerisch vermarktete, erschienen zwischen dem 25.2. und 16.4.1921 in den Zeitungen The American Hebrew and Jewish Messenger (New York), La Revue Mondiale, Evrejskaja tribuna und Poslednie novosti (alle Paris).
44 Die ebenfalls als sensationell gewerteten "Erinnerungen" des Grafen Alexandre du Chayla (zu seiner Person unten) erschienen - mit bemerkenswerten Varianten! - erstmals vom 12. bis 14.5.1921 in den Pariser Zeitungen Poslednie novosti und Evrejskaja tribuna.
45 Siehe die Artikel von Solomon Poljakov-Litovcev, Sergej Svatikov u.a., die 1921 in der Pariser Emigrantenpresse erschienen. Siehe auch Taguieff, Les Protocoles, Bd. 1, S. 44 f.
46 Ein Gerücht, das auch durch die 1990/91 erfolgte Veröffentlichung von offenbar von Nilus stammenden Aufzeichnungen aus dem Archiv von Pavel Florenskij genährt wird. Wahrscheinlich waren Florenskij und Nilus persönlich miteinander bekannt; jedenfalls kannte Florenskij Nilus' Werke, von denen er drei in seinem berühmten theologischen Hauptwerk "Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit" von 1914 zitiert.
47 Cohn, Protokolle, S. 84.
48 Heer, Gottes erste Liebe, S. 200.
49 Vogt, Protokolle, S. 378; ebenso Gerd Koenen, Mythus des 21. Jahrhunderts?, in: ders., Karla Hielscher, Die schwarze Front. Der neue Antisemitismus in der Sowjetunion, Reinbek 1991, S. 124.
50 So z.B. Burcev, Protokoly (Ausg. 1991), S. 270 f.; Dudakov, Istorija, S. 266; Laqueur, Schoß, S. 63.
51 Koenen, Mythus, S. 127.
52 Robert Rozett, Protocols of the Elders of Zion, in: Israel Gutman u.a. (Hrsg.), Encyclopedia of the Holocaust, Bd. 3, New York, London 1990, S. 1197. Die deutsche Fassung dieses Artikels in: Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 2, Berlin 1993, S. 1169-1171, ist überaus fehlerhaft!
53 Dafür könnte sprechen, daß sich russische Ausgaben der "Protokolle" aus vorrevolutionärer Zeit nur in ganz wenigen Bibliotheken finden; insbesondere die Ausgaben durch Sergej Nilus zählen zu den großen bibliographischen Raritäten. Von Anhängern der "Protokolle" wurde freilich immer wieder behauptet, die Auflagen seien von jüdischen Kreisen aufgekauft und vernichtet worden.
54 Siehe Anm. 44. Von der Forschung wurden allerdings nur du Chaylas "Erinnerungen" vom Mai 1921 beachtet, nicht aber die folgenden zahlreichen Artikel, die 1921 und 1922 in der Pariser Emigrantenpresse erschienen.
55 Du Chaylas Aussagen in: Hans Jonak von Freyenwald (Hrsg.), Der Berner Prozeß um die Protokolle der Weisen von Zion. Ahen und Gutachten, Bd. 1, Erfurt 1939, S. 54-67.
56 Die Angaben des Nilus-Verehrers Fürst Nikolaj Zevachov, die gelegentlich zitiert werden (z.B. Cohn, Protokolle, S. 122 f.; Laqueur, Deutschland, S. 116 f.) sind demgegenüber äußerst spärlich und mitunter erkennbar phantastisch. Über Zevachov selbst, der eine bedeutende Rolle als Publizist und Organisator im rechtsextremen russischen Emigrantenmilieu der zwanziger und dreißiger Jahre spielte (u.a. hatte er Kontakt zu Ludendorff, Scheubner-Richter und Müller von Hausen), ist bislang nicht geforscht worden.
57 "Le témoignage du comte Alexandre du Chayla sur S.A. Nilus et l'origine des 'Protocoles' est certainement le plus important et le plus digne de foi (en dépit de certaines erreurs et imprecisions), parmi ceux qui ont été rendus publics au cours du long débat de la première moitié des années 1920." Taguieff, Les Protocoles, Bd. 1, S. 45. Vgl. auch Cohn, Protokolle, S. 109.
58 Siehe z.B. Cohn, Protokolle, S. 107 ff., 111-118; Taguieff, Les Protocoles, Bd. 1, S. 44-65.
59 Romano, Protocolli, S. 12, nannte ihn noch unlängst "un personaggio avventuroso e misterioso".
60 Archiv von V.L. Burcev, GARF (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii) Moskau, f. 5802, op. 1, d. 682.
61 Ein persönliches Archiv von Alexandre du Chayla befindet sich unter den "Beutebeständen" deutscher Provenienz im ehemaligen "Sonderarchiv" in Moskau; jetzt CChIDK (Centr Chranenija Istoriko-Dokumental'nych Kollekcij), f. 130, op. 1, d. 1-6. Dabei handelt es sich um Materialien, die während des Krieges von der Gestapo und dem SD bei politischen und weltanschaulichen Gegnern des Nationalsozialismus in den besetzten Gebieten beschlagnahmt worden waren. Gegen Ende des Krieges wurden diese Akten nach Niederschlesien ausgelagert, wo sie 1945 von der Roten Armee erbeutet und zur geheimdienstlichen Auswertung nach Moskau verbracht wurden. Die Existenz des Moskauer Sonderarchivs wurde erst Anfang 1990 öffentlich bekannt. In den inzwischen veröffentlichten noch sehr lückenhaften Beschreibungen und Bestandsverzeichnissen wird das Archiv von du Chayla nicht aufgeführt. Es ist nicht bekannt, wann, wo und unter welchen Umständen es in die Hände der Deutschen fiel.
62 Im folgenden sehr verkürzt wiedergegeben; eine ausführlichere Darstellung wird vorbereitet.
63 Zeugnisse darüber im Archiv des Klosters, das sich in der Handschriftenabteilung der Russischen Staatsbibliothek in Moskau (OR RGB, f. 213) befindet; dort auch Briefe und Aufzeichnungen von Sergej Nilus. - Erwähnt sei, daß in dem vor einigen Jahren wiedereröffneten Kloster Optina Pustyn' gegenwärtig das Andenken an Sergej Nilus und an die "Protokolle" gepflegt wird. Dem Besucher wird das Haus gezeigt, in dem Nilus von 1907 bis 1912 gelebt hat, und die Johannes-Einsiedelei, wo die "Protokolle" eine Zeitlang aufbewahrt worden sind.
64 Vgl. den Brief der Tat'jana Fermor vom 9.6.1921, in: Fry, Waters, S. 108-111; Georgij Nemirovic-Dancenko, V Krymu pri Vrangele. Fakty i itogi, Berlin 1922, S. 14 f.; Ivan Kalinin, Pod znamenem Vrangelja. Zametki byvsego voennogo prokurora, Leningrad 1925, S. 23.
65 Fermor in: Fry, Waters, S. 110.
66 Russkoe znamja vom 23.7.1911; es handelt sich um das Organ des "Bundes des russischen Volkes". Den Hinweis darauf verdanke ich Michail Zolotonosov, St. Petersburg.
67 Sergej Nilus, Na beregu Boz'ej reki. Zapiski pravoslavnogo, Sergiev Posad 1916, S. 282. Zu du Chayla ebenda, S. 109, 278-281, 315, 317, 321. Vgl. auch die du Chayla zugeschriebenen scharf antisemitischen Äußerungen bei Fermor in: Fry, Waters, S. 109 f.
68 Daraber zahlreiche Berichte in der umfangreichen Memoirenliteratur des russischen Bürgerkriegs. Besonders ausführlich Grigorij Rakovskij, Konec belych. Ot Dnepra do Bosfora, Prag 1921, S. 41-59.
69 Zu diesem Komplex liegen inzwischen zahlreiche Untersuchungen von russischen und bulgarischen Historikern vor. Siehe z.B. Ljudmil Spasov, Sajuzat za zavrascane v rodinata (1922-1923 g.), in: Istoriceski pregled 11(1987), S. 87-99; du Chayla, so Spasov, "nahm in der Emigration ganz und gar den sowjetischen Standpunkt ein und wurde einer der führenden Betreiber der Repatriierung der russischen Weißemigranten in Europa" (ebenda, S. 88, Anm. 9).
70 Zum Bemer Prozeß zuletzt Urs Lüthi, Der Mythos von der Weltverschwörung, Basel, Frankfurt a.M. 1992. Noch immer fehlt eine umfassende, aus den Archiven gearbeitete Darstellung der Vorgeschichte, des Verlaufs und v.a. der Hintergründe dieses spektakulären Prozesses. Umfangreiches Material hierzu befindet sich in den Beständen der Wiener Library, London und Tel Aviv, der Boris 1. Nicolaevsky Collection der Hoover Institution, Stanford, sowie - weitgehend unbearbeitet - im Archiv des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes in Zürich; selbst in Moskauer Archiven wird man fündig, z.B. CChIDK, 500-1-147, Gestapo-Akten, "Welt-Dienst"; GARF, 5802-1-2235, Materialien zum Berner Prozeß von B.I. Nikolaevskij.
71 CChIDK, 130-1-2, umfangreicher Briefwechsel zwischen Cerikover und du Chayla. Cerikovers Buch "Antisemitism i pogromy na Ukraine v 1917-1918 gg." erschien 1923 in Berlin, sein Hauptwerk über die Pogrome des Jahres 1919 wurde nur postum auszugsweise und in Jiddisch veröffentlicht. Cerikovers Archiv wurde 1940 aus Frankreich in die USA gerettet und befindet sich heute im Yiddish Scientific Institute (YIVO) in New York.
72 CChIDK, 130-1-2, 20-53, Titelblatt und 34 paginierte Seiten, datiert: "Suresnes, le 5 juillet 1934".
73 CChIDK, 130-1-2, Cerikover an du Chayla, Paris, 4.7.1934. Cerikover erwarb auch die Publikations- und Übersetzungsrechte. Beim Berner Prozeß trat Cerikover selbst nicht in Erscheinung, weder als Experte, noch wurde sein Name genannt. Nach dem Zeugnis von Semen Dubnov schloß Cerikover 1935 eine ausführliche Untersuchung mit dem Titel "Les 'Protocoles', leur origine et leur diffusion" ab, die jedoch unveröffentlicht blieb. Siehe Semen Dubnov, Novejsaja istorija evrejskogo naroda ot francuzskoj revoljucii do nasich dnej, Bd.3, Riga 1938, S. 469; vgl. auch Anm. 32.
74 Siehe Anm.55.
75 Grand Prieuré Indépendant d'Helvétie vme Province; die betreffende Korrespondenz in CChIDK, 130-1-2.
76 Konrad Heiden, Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit. Eine Biographie, Zürich 1936, S. 369. Vgl. auch Alexander Stein [d.i. Rubinstein], Adolf Hitler. Schüler der "Weisen von Zion", Karlsbad 1936, S. 13; Günter Schubert, Anfänge nationalsozialistischer Außenpolitik, Köln 1963, S. 111 f. - Die frühe Verbreitung der "Protokolle" in Deutschland und ihre Bedeutung für den Antisemitismus Hitlers und der (NS)DAP werden zwar in den Arbeiten von Stein, Rollin, Schubert, Laqueur u.a. diskutiert, doch sind die Einzelheiten noch immer nicht genau erforscht; siehe zuletzt Wolfram Meyer zu Uptrup, Wann wurde Hitler zum Antisemiten?,xi in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8(1995), S. 687-697.
77 Vgl. Cohn, Protokolle, S. 123 f.; Laqueur, Deutschland, S. 118.
78 In den letzten Jahren ist Nilus in "patriotischen" bis rechtsextremen Kreisen in Rußland zu einer Kultfigur geworden. Siehe dazu Michael Hagemeister, Die "Protokolle der Weisen von Zion". Einige Bemerkungen zur Herkunft und zur aktuellen Rezeption, in: Rußland und Europa. Historische und kulturelle Aspekte eines Jahrhundertproblems, Leipzig 1995, S. 200-206.
79 Eine umfangreiche Akte, die auch Verhörprotokolle enthält, ist - internen Angaben zufolge - im ehemaligen zentralen KGB-Archiv (heute Zentralarchiv des FSB) erhalten, doch war sie mir bislang nicht zugänglich.
80 Angaben zur Biographie von Elena Karcova bei Abbot Herman [d.i. Gleb Podmosenskij], in: Ivan Kontzevitch, The Acquisition of the Holy Spirit in Ancient Russia, Platina, Cal., 1988 [recte 1989], S. 323-346.
81 Sabel'skij-Bork und Vinberg waren um die Jahreswende 1918/19, also etwa zur selben Zeit wie Elena Karcova, mit deutscher Hilfe aus der Ukraine nach Deutschland gelangt. Von Januar 1919 bis zum Kapp-Putsch im März 1920 lebten sie zusammen in Berlin, dann in München. - Die rechtsextreme russische Emigrantenszene in Deutschland und ihre vielfältigen Verbindungen zu deutschen Gesinnungsgenossen sind - da gründlich überwacht - gut dokumentiert, jedoch nur unzulänglich erforscht. Noch immer grundlegend Robert C. Williams, Culture in Exile. Russian Emigrés in Germany, 1881-1941, Ithaca, London 1972. Ergänzend neuerdings Bettina Dodenhoeft, Laßt mich nach Rußland heim. Russische Emigranten in Deutschland von 1918 bis 1945, Frankfurt a.M. 1993, bes. S. 168-205 sowie die Beiträge von Matthias Vetter, Michael Hagemeister und Bettina Dodenhoeft, in: Karl Schlögel (Hrsg.), Russische Emigration in Deutschland 19181941, Berlin 1995.
82 Archiv Ludwig Müller von Hausen, CChIDK, 577-2-9, 36, "Bericht des russischen Leutnants Karzoff", 30.4.1920. Der Name "Karzoff" fndet sich auch auf einer Liste weißrussischer rechter Emigranten, mit denen Müller in Verbindung stand. Karcov gehörte der rechtsextremen Berliner "Monarchistischen Vereinigung" an (mehrerer Hinweise darauf in CChIDK, 772-1-96/97).
83 Jonak von Freyenwald, Prozeß, Bd. 1, S. 66 f. - Sergej Sergeevic Nilus, 1883 in Dieppe geboren, war bis zur Revolution im russischen Staatsdienst tätig. 1918 floh er nach Deutschland und ging in den zwanziger Jahren nach Polen. In den dreißiger Jahren war er Mitarbeiter des antisemitischen "Welt-Dienstes" und des "Fichte-Bundes". In einem Brief, den er am 9.3.1940 aus Warschau an Alfred Rosenberg schrieb, versicherte er, er habe alles getan, um sich das Recht "der aktiven Teilnahme in Liquidierung der judischen Gift in General-Gouvernement zu erwerben [sic!]", und er bat, ihm die Möglichkeit zu geben, "meines Vaterswerk weiter [zu] führen [sic!]". Archiv Alfred Rosenberg, C.D.J.C., Paris, CXXXIX-21. Er starb am 11.1.1941 als Gutsverwalter in Kuzmy bei Glowno. Siehe auch den Nachruf in: Welt-Dienst, Internationale Korrespondenz zur Aufklärung über die Judenfrage 11(1941). S. 2.
84 Elena Koncevic [Karcova], Predislovie, in: Sergej Nilus, Svjatynja pod spudom, Forestville, Cal., 1977, S.1.
85 Otto von Radowitz (1880-1941) war der Sohn des Joseph Maria von Radowitz und der Nadezda (Nadine) Ivanovna Ozerova, einer Cousine von Elena Aleksandrovna Ozerova-Nilus.
86 Siehe Jonak von Freyenwald, Prozeß, Bd. 1, S. 67.
87 Koncevic, Predislovie, S. 1 f. Dies soll im Jahre 1925 geschehen sein.
88 BA Koblenz, R 58-988, 269, Finke an Staf, 16.3.1937. - Eine gründliche, aus den Archiven gearbeitete Darstellung des "Welt-Dienstes" und des damit verbundenen U. Bodung-Verlags in Erfurt bleibt ein Desiderat der Forschung. Noch immer unentbehrlich Louis W. Bondy, Racketeers of Hatred. Julius Streicher and the Jew-Baiter's International, London o.J. [1946]. Siehe auch die Angaben bei Helmut Neuberger, Freimaurerei und Nationalsozialismus. Die Verfolgung der deutschen Freimaurerei durch völkische Bewegung und Nationalsozialismus 1918-1945, Bd. 2, Hamburg 1980, S. 38, 56 f., 176 f. Oberflächlich und fehlerhaft hingegen hier und durchgehend Armin Pfahl-Traughber, Der antisemitisch-antifreimaurerische Verschwörungsmythos in der Weimarer Republik und im NS-Staat, Wien 1993.
89 Zu den Materialien und ihrer Publikation vgl. die Angaben bei Koncevic, Predislovie, S. 1-111; Igumen German, [d.i. Gleb Podmosenskij], in: Russkij palomnik 2(1990), S. 93; Monk Damascene Christensen, Not of this World. The Life and Teaching of Fr. Seraphim Rose, Forestville, Cal., 1993, bes. S. 205 ff., 302 f., 386 f.
90 Im Mai 1992 habe ich das Dorf Krutec aufgesucht. Eine alte Einwohnerin gab an, sich an Nilus erinnern zu können, zeigte den Ort, an dem das Pfarrhaus gestanden hatte, und die Stelle auf dem Gelände der ehemaligen Uspenskij-Kirche, an der Nilus begraben wurde.
91 Marija Orlova-Smirnova, Pamjati Sergeja Aleksandrovica i Eleny Aleksandrovny Nilus. (Iz materialov Samizdata), in: Pravoslavnyj put'za 1985 god, [Jordanville] 1986, S. 54-69; dies., Poslednie dni Nilusa, in: Domostroj [Moskva] vom 19.11.1991, S. 8 f.; dies., Pamjati Sergeja Aleksandrovica Nilusa i Eleny Aleksandrovny Nilus, in: K svetu [Moskvaj 3/4(1993), S. 50-59.
92 Bei meinem Besuch im März 1995 gewährte sie mir auch Einblick in das von ihr gehütete Archiv mit Briefen, Photos, Zeichnungen und Aquarellen von Sergej Nilus und dessen Frau.
93 Kis, Enzyklopädie, S. 213 f.
94 Die berühmten Artikel von Philip Graves erschienen in der Times vom 16., 17. und 18.8.1921.
95 Kis, Enzyklopädie, S. 214.
96 Siehe dazu Colin Holmes, New light on the "Protocols of Zion", in: Patterns of prejudice 6(1977), S. 13-21; Clifford Longley, Russian in "Elders of Zion" exposé identified, in: The Times vom 17.2.1978; Jean-François Moisan, Les "Protocoles des Sages de Sion" en Grande-Bretagne et aux U.S.A., in: Taguieff, Les Protocoles, Bd. 2, S. 194 ff.

aus: W.Benz (Hrg.) Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5, S. 127-147.

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Most recent revision: June 7, 2001

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