_Stoff für die Lichterketten_
_Diedrich Diederichsen und die politischen Korrektheiten_
Politisch korrekte Rede bestimmt darüber, auf welche Weise Themen in
den Massenmedien und in privater Kommunikation abzuhandeln sind:
politisch korrekt (amerikanisch kurzgefaßt: PC) nämlich so, daß die
vermuteten oder unterstellten Gefühle Schwächerer und politisch
unterdrückter Gruppen nicht verletzt werden - was äußerste
semantisch-symbolpolitische Vorsicht bei überhaupt allen Äußerungen
angezeigt sein läßt.
Die Schwierigkeit besteht nun darin, daß wir auch von der
Medienstrategie PC nur aus den Medien wissen. Sie taucht da vor allem
als Bestandteil einer Empörungsgeste auf. Jemand betont, er wolle
sich durch PC an einer Äußerung, an einer öffentlich angestellten
Überlegung nicht hindern lassen. Es hat deshalb für den aufgeklärten
Medienkonsumenten zunächst viel Überzeugendes, daß Diedrich
Diederichsen in seinem neuen Buch Politische Korrekturen (Kiepenheuer
und Witsch, Köln 1996,18,80 Mark) mit medienkritischen und
diskurstechnischen Argumenten anzweifelt, daß es den amerikanischen
Import PC in Deutschland wirklich gibt. Diederichsen bestreitet, daß
PC einflußreich ist, daß man den Diskurs PC einer bestimmten Gruppe
von Personen und Medien zurechnen kann.
Eindeutig zurechnen dagegen könne man, so Diederichsen, vor allem den
Anti-PC-Diskurs: Jemand verbittet sich, mit politisch korrekten Tabus
an dieser oder jener öffentlich angestellten - meistens irgendwie als
reaktionär verstehbaren - Überlegung gehindert zu werden. Und
Anti-PC, so Diederichsen weiter, sei vor allem eine Strategie zur
Abwehr linker Ansprüche auf Redezeit und zur Begründung
tabubrecherischer Redezeitansprüche vor allem ehemaliger Linker, die
sich auf Kosten ihrer Vergangenheit profilieren wollen.
Diederichsen zeichnet in informativer Ausführlichkeit nach, wie das
Medienthema PC in den USA entstanden ist und wie Anti-PC im deutschen
Kontext als Selbstgeißelungs-Geste ehemaliger Linker verwendbar
wurde. Verdienstvoll ist sein Hinweis, daß Anti-PC ein der Realität
gegenüber hilfloses und arrogantes Sprachspiel darstellen kann
genauso wie PC; wozu ihm vor allem der akademische Altherrenhumor des
vor einiger Zeit unverständlicherweise ziemlich erfolgreichen Romans
Der Campus von Dietrich Schwanitz als Beispiel dient - aber auch die
eine oder andere Wortmeldung aus der (besonders aktiven) Frankfurter
Anti-PC-Regenbogenkoalition von Titanic bis FAZ.
Interessant an Diederichsens Buch ist zudem, daß er die
sprachphilosophische Voraussetzung politisch korrekter Rede
instruktiv diskutiert. Man gewinnt die Erkenntnis, daß PC - besonders
im akademischen Milieu - deshalb jener schnelldenkerischen
Schwurbelmelange aus Foucault, Derrida, Lacan und philosophischem
Ethno-Pop a la Edward Said zugeneigt ist, weil das politisch korrekte
Sprachspiel unterstellen muß, Realität entstehe aus Sprache,
sprachliche Mißachtung sei unmittelbar und in jedem Fall politische
Unterdrückung.
Wie kann man es dann aber erklären, daß marginalisierte Gruppen die
politisch verächtliche Bezeichnuna ihrer Feinde als nom de guerre
annehmen und in diesem Zeichen siegen? Das Wort "schwul" zum
Beispiel, heute geradezu eine Grundvokabel des Rita-Süßmuthismus, war
noch vor 20 Jahren ein ganz schlimmes, böses, unterdrückerisches
Altmännerwort. Überhaupt wird man, sobald man sich von dem Eindruck
der stilistischen und argumentativen Eleganz Diederichsens freimacht,
seiner Zentralthese nicht zustimmen können: Politisch korrekte Rede
gibt es.
"Ein Thema ist nicht ein Eigenprodukt der Massenmedien. Es wird von
ihnen nur aufgegriffen, dann aber in einer Weise behandelt und einer
Themenkarriere ausgesetzt, die sich aus Befunden nicht erklären
läßt." Vom 14. Oktober des Jahres stammen Meldungen der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und der
Tageszeitung, daß auf der indonesischen Insel Java, wo es eine große
christliche Gemeinde zu geben scheint, ein muslimischer Mob 18
Kirchen niedergebrannt und fünf Menschen vermutlich christlicher
Religionsangehörigkeit ermordet hat. "Nach Angaben aus Kirchenkreisen
waren die Muslime in der Stadt Situbondo über ein Urteil gegen den
Führer einer Moslemsekte empört"(SZ); ŻAuslöser der Unruhen: Ein
muslimischer Prediger war wegen 'ketzerischer' Äußerungen von einem
Gericht verurteilt worden. Er soll sich in einer christlichen Kirche
versteckt haben"(taz).
Das ist der Stoff, aus dem die Lichterketten sind: eine aufgrund
ihrer Religion und Kultur marginalisierte Bevölkerungsgruppe, ein
fernes Land, eine verhetzte Volksmenge, Opfer, Asylsuche,
Brandschatzung. Die kümmerliche Themenkarriere dieser politischen
Morde - zum Opfer fielen ihnen Menschen, die das Pech hatten, der
Religion der toten weißen Männer anzugehören, die Täter dagegen waren
Muslime, eine Menschengruppe, die man bei Strafe schwerster
PC-Verdammung derzeit um keinen Preis "zum Feindbild erklären darf" -
die Weise, wie über diese Morde vor zwei Wochen hierzulande
öffentlich verhandelt worden ist, zeigt politisch korrekte Rede als
durchaus wirksames Sprachspiel; und als eine mindestens so
bedenkliche moralische Lähmungserscheinung wie die Gefühlskälte, die
von politisch korrekten Sprechern den Konservativen und ehemals
linken Renegaten angelastet wird. Die "sophisticated PC-Strategie"
linker Subkulturen, die Diederichsen auf den letzten Seiten seines
Buchs entwirft und die funktionieren soll, "wenn sie auf die
Institutionen zielt und der Angriff auf deren Sprachakte zu
'Verhaltensänderungen' führt - sie wird im Sumpf der Diskurspolitik
steckenbleiben". Wer zur Moral greift, kommt durch Moral um. Wie wäre
es, zur Abwechslung und einstweilen, mit genauen Beschreibungen
politischer Gewalt und Unterdrückung, ob sie uns ins Konzept passen
oder nicht? Wahrscheinlich sind die Reportagen Joan Didions, Ryszard
Kapuscinskis oder - um ein auf deutsch gerade erschienenes Beispiel
zu nennen - das großartige Buch Room Service von Richard Swartz
wirksamere politische Interventionen als das diskurstechnisch noch so
ausgepichte deutsche Moralfeuilleton.
STEPHAN WACKWITZ in: SZ 28.10.1996
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Most recent revision: September 07, 1998
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Martin Blumentritt