8. Mai-Gruppe c/o Antinationales Büro, Hamburg

Vorläufige kritische anmerkungen zu Goldhagens Methode und seinem Antisemitismusbegriff
Wir haben im ersten referat des heutigen abends schon hervorgehoben, daß unserer meinung nach Goldhagens studie viele punkte, die für das verständnis des deutschen vernichtungspotentials zentral sind, prägnant, eindringlich und provokativ beschreibt wie bisher kaum eine wissenschaftliche studie, die eine größere aufmerksamkeit erreicht hat. Wir meinen aber auch, daß Goldhagen an methodische schranken stößt, durch die sein eigener anspruch, eine theorie des holocaust zu entwickeln, scheitert und die gleichzeitig dafür verantwortlich sind, daß er zu verharmlosenden und falschen einschätzungen über das heutige deutschland kommt. Wir wollen im folgenden zeigen, wo wir diese schranken sehen und die konsequenzen des unzureichenden kategoriensystems benennen.
ù Im ersten teil dieses vortrages stellen wir dar, von welcher richtigen und entscheidenden fragestellung Goldhagen im gegensatz zu vielen anderen traditionellen ansätzen, ob bürgerlich oder marxistisch, ausgeht.
ù Teil zwei beschäftigt sich mit der kritik, daß Goldhagen die von ihm postulierte deutsche spezifik des antisemitismus selbst auf der beschreibenden ebene nur unzureichend benennt, weil er die kategorie des völkischen und der völkischen nationsbildung vernachlässigt.
ù Teil drei geht auf das verhältnis von ideengeschichtlicher und materialistischer analyse ein. Goldhagen vertritt einen explizit idealistischen ansatz, und wir wollen ihm nicht vorwerfen, daß er kein marxist ist, wenn er dies definitiv auch nicht sein will. Es sollen aber einige grundzüge materialistischen verständnisses von antisemitismus eingeführt wenden, weil wir dies als die vorausetzung dafür ansehen, die von Goldhagen beschriebenen phänomene zu einer erklärung werden zu lassen.

Die entscheidende Ausgangsfrage: welche vorstellungen haben die Deutschen von den Juden?
Goldhagen schreibt: "in den umfangreichen Annalen menschlicher Barbarei nehmen die Grausamkeiten, die während der NS-Zeit an Juden verübt wurden, aufgrund ihres Umfangs, ihrer Vielfalt und des makabren Einfallsreichtums der Täter und nicht zuletzt durch die gezeigte Mutwilligkeit einen besonderen Rang ein (452)".
Goldhagen verweist hier auf eine zentrale Schlußfolgerung aus seinen Untersuchungen der Polizeibataillone, "Arbeits"lager und Todesmärsche. Erklärungsbedürftig sei eben nicht nur das Interesse der Deutschen an der Elimination der Juden. Erklärungsbedürftig sei auch, wie die deutschen jüdische oder von ihnen als Juden definierte Frauen, Kinder und Männer verfolgten und töteten. Dann stimmen wir ihm vollständig zu.
Warum traten die Deutschen den Juden nicht als normale Henker gegenüber ? So lautet Goldhagens banale Frage, ohne die der Holocaust aber in der Tat nicht zu begreifen ist. Woher kam diese vernichtende Energie der Deutschen, die sie nicht nur die Juden umbringen ließ, die ihnen begegneten, sondem die sie zu "mobilen Völkermordkohorten (machte), die als Weltanschauungskrieger von einer jüdischen Gemeinde zur nächsten zogen, um sie alle auszulöschen (321)"? Woher kam der Eifer mit dem die Deutschen ihre "Judenjagden (284)", wie sie ihre Einsätze selbst bezeichneten, durchführten? Woher rührte die Leidenschaft, die sie nach Exekutionen noch stundenlang durch die menschenleeren Dörfer, Ghettos und Wälder streifen ließ, um in ganz Europa auch die letzte jüdische Familie aufzuspüren, die sich hinter einer doppelten Wand oder in einem Erdloch versteckt hielt? Woher kam die symbolische List, die die Deutschen ihren Sport mit den Juden treiben, sie robben, bockspringen und spießrutenlaufen ließ oder sie anspornte, jüdische Kinder abzurichten, um zuzusehen. wie diese andere Juden und sogar die eigene Mutter erschießen?
Goldhagen betont, daß für das Verständnis dieser freiwilligen Handlungen die "Vorstellungen, die die Täter von den Opfern hatten" entscheidend waren. "Eine Erklärung des Holocaust muß also nicht nur verständlich machen, was an Handlungsweisen in vielen Einzelfällen dargestellt wurde, sie muß auch die besonderen Identitäten der Täter und der Opfer berücksichtigen (458)". Nur: inwiefem ist Goldhagen mit seiner Betrachtungsweise selber in der Lage, diese von ihrn zurecht eingefoderte Erklärunq zu liefern?

Warum gerade die Deutschen? - Goldhagen und die Spezifik des deutschen Verständnisses von Volk und Nation
Goldhagen sieht die Deutschen der NS-zeit dem "blanken Wahn (482)" verfallen und bringt die "Geistesverfassung der Deutschen (365)", die er immer wieder ungläubig bestaunt, mit dem Ggedanken der Rache in Verbindung: "Der deutsche Antisemitismus schrie nach Vergeltung, deren extremste Form die Vernichtung darstellte (465)".
Aber Rache wofür? Gibt es in den Vorstellungen, die die Deutschen sich von den Juden machten, etwas Spezifisches, das in der historischen Besonderheit der deutschen Entwicklung seine Ursache hat? Etwas, das mit dem Strukturmerkmal des modernen Antisemitismus, das Juden für alle realen oder eingebildeten Übel schlechthin verantwortlich zu machen pflegt, alleine nicht zu erklären ist? Was ist es, das nahezu die gesamte deutsche Gesellschaft annehmen ließ, "das Judentum sei in einen apokalyptischen Kampf mit allem Deutschen verwickelt (462)"?
Goldhagen streift dieses Thema durchaus. Beispielsweise zitiert er aus Bruno Malitz Buch Die Leibesübungen in der nationalsozialistischen Idee von 1933: "Sie sind schlimmer als die Cholera, die Lungenpest, die Syphilis, schlimmer als Feuersbnunst, Hungersnot, Deichbruch, große Dürre, schlimmste Heuschreckenplage, Giftgas - schlimmer als all dieses, weil diese Elemente nur deutsche Menschen vernichten, jene [die Juden] aber Deutschland selbst (466)".
Was sind die Grundlagen von Malitz' apokalyptischer Wahnvorstellung, die Juden würden nicht nur die deutschen Menschen, sondern noch etwas viel heiligeres und Grundsätzlicheres vernichten? Goldhagen schreibt selbst, auch die Identiäten der Täter seien zu berücksichtigen. Dieses Zitat fordert insofern geradezu dazu auf, sich zu fragen, was das Selbstverständnis nicht nur des Nationalen, sondern auch gerade des Deutschen ist und wie sich dies im Begriff der deutschen Nation verbindet. Goldhagen verfolgt diese Spur nicht weiter und fährt an dieser Stelle einfach damit fort, weitere Bilder aufzuzählen, die die Deutschen sich von den Juden gemacht haben. Deshalb wollen wir die Entwicklung der 'deutschen Identität' sowie die Herausbildung der Vorstellung von einem 'deutschen Volk' in einem Exkurs darstellen:
Die Kategorie 'deutsches Volk' ist unmittelbar mit den antinapoleonischen sogenannten 'Befreiungskriegen' verbunden. Eine kollektive Identitat der Deutschen, die sich unter einem eigenen Namen begreift, hat es im 18. Jahrhundert noch nicht gegeben. In der gewöhnlichen Bevölkerung war die Zentralgewalt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation eher schlecht angesehen und deshalb auch das Bedürfnis nach nationaler Identitat kaum ausgeprägt. Das änderte sich jedoch schlagartig, nachdem Napoleon die deutschen Staaten niedergerungen hatte, was u.a. die formaljuristische Emanzipation der Juden in den besetzten deutschen Staaten zur Folge hatte. Innerhalb kürzester Zeit wurde jetzt das 'deutsche Volk' zu einem Schlüsselbegriff der Publizistik, die sich gegen die französischen Besatzer wandte. Scharnhost schrieb 1798: "Wir werden erst siegen können, wenn wir gelernt haben, so wie die Jakobiner den Gemeingeist zu wecken, ... wenn man mit der selben Tatkraft und Rücksichtslosigkeit alle Hilfsquellen der Nation mobil machen wird, ihre Leiber, ihr Vermögen, ihren Erfindungsgeist, ihre Hingabe zu dem Heimatboden und nicht zuletzt ihre Liebe zu den Ideen." Nun ging es also darum, in Deutschland einen begriff von nation zu konstituieren, der dem begriff der französischen Nation analog und zugleich entgegengesetzt war. Es waren zunächst militärisch-strategische Interessen, die die Idee des 'deutschen Volkes' beflügelten und in den Mittelpunkt der Agitation rückten. Im Gegensatz zu Frankreich gab es aber keinen politischen Inhalt, keine historischen Gündungsakte wie die französische Revolution, auf die sich die Vorstellung von einem 'deutschen Volk' zurückführen ließe. Deshalb war es nur unter anderen prämissen denkbar: Erstens: das 'deutsche Volk' wurde als naturgegebene, schlicht und einfach seiende Einheit verstanden. Seine einzige Rechtfertigung ist seine Existenz. Das deutsche Volk verweist immer nur auf sich selbst. Es gibt also für die Deutschen kein anderes Kriterium, an dem sie sich auszurichten hatten, als das, was in der Tiefe ihres selbst immer schon angelegt ist. Da dies in Wirklichkeit nichts ist, konnte in der deutschen Ideologie nur alles daraus werden. Das deutsche 'Wesen' feierte seinen Triumph - vom 'Kulturvolk' bis zum 'Herrenvolk'. Die naturalistische Grundlage ist der Ausgangspunkt für den gefährlichsten Zug 'deutscher Identitat', nämlich die biologistisch-rassistische Komponente, ohne die das 'deutsche Volk' nicht mehr denkbar ist. Die Herausbildung der kollektiven Identität fand in der Phase der deutschen Romantik und mittels ihrer Kategorien statt. Das Schlüsselwort des romantischen Menschenbildes und Lebensgefühis war 'Organismus', was vor dem Hintergrund der Deutschen zustände und durch den Mystifizismus der Romantik nur zur Katastrophe tendieren konnte. Die Stigmatisierung der jJden als 'Krankheit am Volkskörper' war der 'deutschen Identität' spätestens seit der romantischen Prägung des Volksbegriffs eingeschrieben.
Zweitens: Die Inhaltslosigkeit des deutschen 'Volkes' machte die Suche nach dem 'Bedrohenden' zur Voraussetzung der Selbstdefinition. Erst indem das sogenannte 'Fremde' definiert wurde, konnte eine Selbstwahrnehmung der eigenen Wesenheit auf der Grundlage des Biologismus subjektiv gelingen. Sie funktioniert nur mittels periodisch wiederkehrender 'Feindmarkierung' und der Zuschreibung gegenüber diesem Feind, das 'eigene' organisch gewachsene wieder auseinandergenssen zu haben, so daß es sich angesichts dieser halluzinierten Bedrohung in den Augen der Deutschen aufs neue finden und bewähren muß. Der deutsche Opfermythos, das ewige Jammern über die unvollständige Volkswerdung, das Wehklagen über den wieder einmal gestörten Prozeß des "Zusammenwachsens" und die Transformation dieses Wahnzustandes in Aggression, ist seither Grundzug des pathologischen deutschen Glücks.
Der solcherart geprägten Abstammungsgemeinschaft war das Element des Volkshasses von Anfang an eingeschrieben: Der Haß auf die Franzosen, schrieb vor 150 jahren Arnold Ruge, "ist das Volksgefühl der Deutschen. Der Deutsche (könne) sich das Gefühl seiner Existenz nur von außen holen." Sein Selbstgefühl als Deutscher müsse "immer ein fremdes Volk sich gegenüber haben". Während sich der freie Mensch an die Arbeit mache, "den Fremden verstehen zu lernen", weiß der deutsche Patriot "mit der fremden Eigenthümlichkeit nichts anzufangen, als sie zu hassen und gelegentlich todzuschlagen. Die Vorstellung von einem 'deutschen Volk' wurde schon unmittelbar, nachdem sie in den 'Befreiungskriegen' geschichtsträchtig geworden war, auch zur tödlichen Realitat für Juden. Vier jahre nach den 'Befreiungskriegen' wurde Deutschland von einer Welle judenfeindlicher Gewalttaten überflutet. Dies war kein erneutes Aufflammen der sich über das Mittelalter bis in die Neuzeit hinziehenden christlich legitimierten Pogrome. Vielmehr zeichnete sich zum ersten mal eine Judenfeindschaft ab, die sich auf das 'deutsche Volk' und seine unverträglichkeit mit den Juden berief." Die Volkwerdung der Deutschen war im Gefolge der 'Befreiungskriege' noch labil. Es bedurfte einer mehrfachen Wiederholung der Konstellation der 'Befreiungskriege'. Erst in zwei weiteren Kriegen mit Frankreich eroberte der ursprünglich literarische Entwurf eines 'deutschen Volkes' zunehmend alle Schichten der deutschen Bevölkerung und ergriff Besitz von ihrem subjektiven Bewußtsein. In dem Maße, wie dies geschah, verschwanden die Bedrohungsszenarien nicht, sondern wurden generalisiert. Die beiden soeben beschriebenen Pfeiler der Konstruktion des 'deutschen Volkes' entfalteten nun erst ihre geschichtsträchtige fatale Wirkungskraft im Sinne der Umsetzung von Ideologie in politisches handeln. Je mehr sich die Deutschen als Volk begriffen, desto abstrakter, mächtiger und unfaßbarer definierten sie ihren Feind, der ihnen nun nur noch in der Figur 'des Juden' erscheinen konnte. Die Volkwerdung der Deutschen war die Voraussetzung dafür, daß der Antisemitismus zu einer wirklichen Volksbewegung werden konnte, die von nun an ihr politisches Ziel immer direkter vor Augen hatte: die Vernichtung der Juden. "Jene Vorstellungen gipfelten im Nationalsozialismus", wie Hanno Loewy schrieb, "in der Idee eines 'Weltkampfes' zwischen den Deutschen als auserwähltem Volk der 'arischen Rasse' mit der 'Gegenrasse' des 'Weltjudentums', in der Phantasmagorie eines schicksalhaften Ringens um die Erfüllung eines göttlichen Auftrags, namlich der Durchsetzung einer rassistischen Weltordnung unter deutscher Herrschaft. In diesem Sinne wäre es tatsächlich erlaubt, vom Antisemitismus als einem 'nationalen Projekt', (weil alle Kernfragen der nationalen Selbstdefinition berührend) zu sprechen... Das Judentum war, wie aus diesen Andeutungen unschwer zu erkennen ist, als nunmehr negativ universalisierter Antipode in seiner Funktion keineswegs austauschbar, der Bolschewismus nur eine, wenn auch die zentrale Facette des ihm unterstellten Maskensspiels." Zurück zu Goldhagens Buch:
Da er keine Bestimmung der Kategorie 'deutsches Volk' vornimmt, bleibt die in der öffentlichen Debatte als dermaßen provokativ empfundene Kategorie des 'nationalen Projekts', als welches er den Holocaust bezeichnet, unklar. Er spricht zwar von einem Pojekt "zur Rettung des Volkes", berührt dabei aber gerade nicht die Kernfragen der nationalen Selbstdefinition.
Vielmehr verwendet er die Begriffe 'rassistisch', 'völkisch' und 'eliminatorisch' nahezu synonym. Die völkische Ideologie beschreibt er als eine Art nationales Ersatz-Bindemittel, als ein armseliges, aber mächtiges Surrogat für eine politische Einheit und Ordnung (91)". Leider ist sie aber weitaus wirkungsmächtiger als Goldhagen sie beschreibt, da sie sich nicht als Surrogat, sondern als unmittelbarer ideologischer Ausdruck aller deutscher Einheits- und Aggressionsbestrebungen erwiesen hat. Wäre sie nur eine Art Ersatz für die armen Deutschen, die noch nicht zu ihrer Nation gefunden haben, hätten sie ihre völkische Gefährlichkeit nach 1870 ablegen müssen und es wäre zum Holocaust nicht gekommen.
Da Goldhagen seine Ableitungen auf das Feld des kulturellen Axioms bzw. der Ideengeschichte reduziert, und deren materielle Fundierung in der Herausbildung der völkischen Abstammungsnation nicht einbezieht, bleibt sein Begriff vom deutschen Antisemitismus notwendigerweise nebulös. So stellt sich für ihn der moderne Rassenantisemitismus lediglich als eine Transformation des mittelalterlichen Antijudaismus dar: für ihn ist der moderne Antisemitismus nicht mehr als das zeitgeistige Phänomen einer kulturellen Entwicklung. Der Antisemitismus wechselt diesem Theorem zufolge seine Gewänder wie eine Mmusikband, die es trotz schnell wechselnder Stile immer wieder schafft, modern zu bleiben. Damit aber läßt sich seine zentrale These: "Es führt ein gerader Weg nach Auschwitz. Das Projekt war da, es mußte sich nur eine Gelegenheit bieten, es zu verwirklichen.."(497) nicht begründen. In seiner Not, bei der Suche nach der Spezifik des deutschen Antisemitismus nur besonders radikal ausgeprägte Elemente des modernen Antisemitismus schlechthin zu finden, argumentiert er letzten endes zirkular und behilft sich damit, die spezifischen Handlungsmotivation der deutschen Täter damit zu begründen, daß sie den Holocaust begangen haben.

III.

Goldhagens idealistischer Begriff von Antisemitismus und ein materialistischer Exkurs
So wie Goldhagen die antisemitische Vorstellung von den Juden als zersetzer Deutschlands lediglich zitiert, ohne einen Entwurf der völkischen 'deutschen Identität' damit zu verknüpfen, so beschreibt er nur die antisemitischen Vorstellungen von den Juden als Schmarotzer und Parasiten, ohne ein Konzept der Kategorie 'Arbeit' zu entwickeln. Goldhagen fragt nicht danach, aus welchem Verständnis von Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen die antisemitischen Zuschreibungen entstehen. Ebenso forscht er nicht danach, was die spezifischen Voraussetzungen dafür sind, daß die Arbeit in Deutschland eine ganz besondere Wertschätzung erfährt und somit der sogenannte Schmarotzer einer ganz eigenen Aggression ausgesetzt ist. Die antisemitischen Vorstellungen sind ihm auch bei der Kategorie 'Arbeit' belegt und Erklärung zugleich.
Goldhagen widmet sich ausführlich einem grundlegenden Paradigma des modernen Antisemitismus, nämlich dem gedanken der "schaffenden Arbeit" und seiner zentralen Bedeutung für die nationalsozialistische Ideologie. Goldhagen zitiert Hitlers Interpretation des Hakenkreuzes aus "Mein Kampf" wie folgt: "Im Hakenkreuz (sehen wir) die Mission des Kampfes fur den Sieg des arischen Menschen und zugleich mit ihm auch den Sieg des Gedankens der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch war und antisemitisch sein wird." "Der Glaube an den Gegensatz zwischen Juden und "schaffender Arbeit" war so grundlegend", schreibt Goldhagen, "daß Hitler, der den zentralen Symbolen seiner Bewegung und des neuen Deutschland alle möglichen Bedeutungen hatte unterlegen konnen, sich dazu entschloß, gerade diesen Aspekt hervorzuheben (337)". Goldhagen beschreibt, wie dieses Paradigma unmittelbar mit der Vernichtungsmotivation verknüpft ist, aber sich auch vielfaltige symbolische Ausdrucksformen verlieh. So ging es nicht nur darum, die Juden zu vernichten, sondern sie innerhalb dieses Akts auch "wider ihre Natur" zum arbeiten zu bringen. Zu einer Arbeit, die nicht im produktiven Ainne verstanden werden kann, sondem widerum selbst nur als Teil des Vernichtungsaktes.
Die Deutschen ließen ihre jüdischen Gefangenen nasse Salzsäcke schleppen und Mauern abtragen, die sie am anderen Tag wieder aufrichten mußten, bis zur Erschöpfung oder bis zum Erfrieren. Es war sinnlose, folternde und tödliche Arbeit, die die Deutschen die Juden in den Lagern verrichten ließen: "Einen Juden zum Arbeiten zu veranlassen war für jene, die der vorherrschenden deutschen Auffassung über die Juden anhingen, ein Akt der inneren Genugtuung; war, um einen Ausdruck Max Webers zu gebrauchen, wertrational; eine Errungenschaft, unabhängig vom Wert des Produkts und unabhängig auch davon, ob diese Arbeit überhaupt produktiv war. Die jüdische Arbeit hatte um ihrer selbst willen stattzufinden. (338)". In diesem Verständnis von jüdischer Arbeit gehörte die Ausschaltung der Juden aus der produktiven Wirtschaft und die strafende, sinnlose und tötende Arbeit zusammen. Am Ende stand die Vernichtung unter der Losung "Arbeit macht frei". Eine Losung, deren symbolischer Gehalt sowohl die Vernichtung durch Arbeit in den sogenannten Arbeitslagern prägte als auch der deutsche Willkommensgruß am Lagertor von Auschwitz war. Goldhagen meint, daß diese prägende Parole des Vernichtungsprozesses "mehr subjektive Wahrheit zum Ausdruck brachte, als den Deutschen häufig selbst bewußt war (364)". So wie das Beispiel der hysterischen Angst, die Juden könnten das allerheiligste, nämlich Deutschland selbst, zerstören, ist auch diese Beobachtunq Goldhagens eine Fundstelle, die er nicht systematisch beleuchtet. Wie bei unserem Exkurs über die Kategorie des "deutschen Volkes" wollen wir deshalb auch hier einen kleinen Ausflug unternehmen. Er führt zu dem Ansatz Moishe Postones, der versuchte, diese zentralen Strukturelemente des Antisemitismus wie z.b. die Gegenüberstellung von "schaffender Arbeit" und "raffendem Kapital", von "ehrlich arbeitenden Menschen" auf der einen und "parasitären Juden" auf der anderen seite in einen systematischen Zusammenhang zu bringen und mit den wirkungsmechanismen kapitalistischer Vergesellschaftung zu erklären:
Postones Kernthese lautet, daß im modernen Atisemitismus die als 'abstrakt' verworfenen Siten des Kpitalismus den Juden zugeschrieben werden. Dem stehe eine Verherrlichung des Konkreten gegenüber, zu der im Nationalsozialismus nicht nur Blut und Boden gehörte, sondern moderne Elemente wie die Maschine. "Der moderne Antisemitismus" schreibt Postone, "besteht in der Biologisierung des Kapitalismus als internationales Judentum... Die positive Hervorhebung der 'Natur', des Blutes, des Bodens, der konkreten Arbeit, der Gemeinschaft geht ohne weiteres zusammen mit einer Verherrlichung der Technologie und des industriellen Kapitals", während das "parasitäre Finanzkapital", wie insgesamt die abstrakte, undurchschaubare Seite des Kapitalismus "nun in Gestalt des Juden wahrgenommen wird. So wird der Gegensatz von stofftlich Konkretem und Abstrakten zum rassistischen Gegensatz von Arier und Jude." Er geht damit über den Ansatz Horkheimers und Adornos hinaus, die den Antisemitismus ebenso wie Postone als notwendig falsches Bewußtsein definieren. Bei Horkheimer und Adorno findet dieses falsche Bewußtsein von den realen gesellschaftlichen Verhältnissen seinen Ausdruck darin, daß die innerhalb der Produktionssphäre stattfindende Ausbeutung in die Zzirkulationssphäre verlagert wind. Nicht mehr die Abhängigkeit von den vorgefundenen kapitalistischen Bedingungen erscheint als Quelle der Unfreiheit, sondern der Ppreis der Ware, der im Kkaufhaus bezahlt werden muß. Die Uunzufriedenheit richtet sich gegen den Händler, insbesondere dann, wenn er in der Figur des Maklers oder Spekulanten als besonders skrupellos wahrgenommen wird.
Postone machte darauf aufmerksam, daß im modernen Antisemitismus aber nicht nur der 'schachernde' Jude attackiert wird, sondern generell jedes als verschwörerisch empfundene Element. Auf diese Weise wird die Figur 'des Juden' verantwortlich für alle als abstrakte Gefahr wahrgenommen Erscheinungen: für den Bolschewismus wie für die börse, für die Verstädterung wie für den 'Kommerz'. Postone erklärt die Aufspaltung in Abstraktes und Konkretes und die Mythologisienung beider Seiten am beispiel der marxistischen Kategorie der Ware.
Jede Ware hat sowohl einen Gebrauchswert als auch einen Tauschwert. Nur der Gebrauchswert erscheint als 'konkret'- daß in ihn Arbeit einfließt, die Ware also eine gesellschaftliche Dimension besitzt, wird nicht wahrgenommen. Auch die abstrakte Seite des Rauschwerts wird nicht mehr als gesellschaflliches Verhältnis begriffen: das 'Geld' erscheint "als Manifestation des ganz und gar Abstrakten". Konkrete wie abstrakte Seite werden also jeweils verselbständigt und verdinglicht. Der Kapitalismus erscheint "so auf der Ebene der Warenanalyse als Gegensatz zwischen Geld als Abstraktem einerseits und stofflicher Natur andererseits."
Ausgehend von diesem Kategoriensystem definiert Postone den Antisemitismus in Deutschland als "völkisch deformierten Antikapitalismus" und Auschwitz als eine Fbrik, in der 'der Jude' als die Personifizierung des Abstrakten vernichtet werden sollte mit dem Ziel, "das Konkrete vom Abstrakten zu befreien." Wir glauben nicht, daß dieser Ansatz für sich genommen erklären kann, warum der Holocaust in Deutschland stattgefunden hat und nur in Deutschland stattfinden konnte. Wir halten ihn aber für wertvoll, weil er den modernen Antisemitismus, mithin auch den in Deutschland, auf seine materiellen Wurzeln zurückführt und mit der Art und Weise, wie kapitalistisch-gesellschaflliche Verhältnisse sich darzustellen pflegen, erklärt.
Kommen wir zurück zu Goldhagen und seinem Verständnis von Antisemitismus:
Sein Verdienst besteht darin, daß er die antisemitischen Vorstellungen, die die Deutschen von den Juden hatten, durchaus in ihrer Komplexität erfaßt, anstatt sie zu reduzieren und zu vereinfachen, wie dies oft sowohl in bürgerlichen als auch in orthodox marxistischen Ansätzen, etwa in der Tradionslinie Dimitroffs, geschieht.
Goldhagen schildert jedoch im wesentlichen nur das individuelle Täterbewußtsein, ohne es in eine materiell fundierte Erklärung des Antisemitismus einzuordnen.
Wir können Goldhagen keine fertig ausgearbeitete Theorie des Holocaust gegenüberstellen.
Es wäre allerdings durchaus zu fragen, ob es ideengeschichtliche Entwicklungen gibt, die nicht direkt aus dem Kapitalverhältnis und dem falschen Bewußtsein von diesem ableitbar sind und die mit dazu beigetragen haben, daß die Ddeutschen in einer solchen Besessenheit sich über das Konstrukt 'ehrliche Arbeit' definiert haben. Etwa wäre der Einfluß Luthers und des protestantischen Arbeitsethos zu berücksichtigen. Sicher ist aber, daß die ideellen und materiellen Faktoren gesellschaftlicher Entwicklung zueinander in Bezug zu setzen sind, was Goldhagen nicht leistet und weshalb er auch nicht in Anspruch nehmen kann, eine Holocaust-Theorie entwickelt zu haben.
Indem Goldhagen die subjektive Seite des Antisemitismus aus dem Gesamtkomplex herauslöst, wird bei ihm jede Verbindung zwischen Holocaust und modernem Kapitalismus ignoriert. Auschwitz ist aber auch ein Ausdruck von planmäßiger industrieller und organisatorischer Rationalität, ein Ausdruck für "das Fortdauern der Zivilisation in der Barbarei, das Fortdauern der Rationalität im Wahn"(W. Pohrt). Die eigenständige Qualität der industriellen Vernichtung, für die Auschwitz steht, wird generell bei Goldhagen verkannt.
Ebenso ist der Holocaust nicht vollständig erklärbar, ohne die Erfahrung des ersten Weltkriegs als zugespitzter Fform innerimperialistischer Interessenswidersprüche, sowie die Parteinahme der ökonomischen Eliten fur die Mmachtübertragung an Hitler.
Anstatt die Erhebung des Entisemitismus in die Regierungsgewalt nur mit dem Akt der Inthronisierung der NSDAP 1933 zu begründen, wäre es hier notwendig, zurückzuverfolgen, welche Besonderheiten der deutschen Entwicklung dies heraufbeschworen und naheliegend gemacht haben. Ein Strang ist dabei wiederum die dargestellte Konstruktion der deutschen Volksnation, die sowohl den Antisemitismus als auch den Antidemokratismus von Beginn an in sich trägt. Ein anderer ist die spezifische Entwicklung des deutschen Kapitalismus, an dessen Wiege bereits der Staat stand und dessen Bürgertum gleich als Staatsbürgertum zur Welt kam.
Für Goldhagen bleiben all diese Entwicklungen außerhalb des Blickfeldes, weil er Antisemitismus ausschließlich als kulturell-kognitives Modell begreift. "Mein ganzes Buch ist ein Plädoyer für die Verantwortung des Einzelnen", hatte er auf einer seiner Leseveranstaltungen ausgerufen. Goldhagens Gesellschaftsbegriff ist kommunikationstheoretisch fundiert: das Bewußtsein bestimmt bei ihm das Sein, das gesellschaflliche 'Gespräch' konstituiert die Realität. Bei Goldhagen findet Bewußtseinsentwicklung aus dem Subjekt selbst heraus statt, welches vom vorherrschenden kulturellen Modell einer Gesellschaft zwar geprägt wird, dieses aber per Willensentscheidung ebenso bestimmen und verändern kann, vorausgesetzt es verfügt über die notwendige Prise Genialität. Typisch seine Aussage in einem usa-amerikanischen TV-Gespräch: "Wieviele Amerikaner in den südstaaten glaubten vor dem Bürgerkrieg, daß die schwarzen und die weißen in jeder Hinsicht gleichwertig waren? Es bedurfte einiger weniger herausragender Persönlichkeiten, um eine dem allgemeinen gesellschaftlichen Konsens entgegengesetzte Sichtweise zu entwickeln. Im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts war es nicht anders." Er glaubt einfach an die Umerziehung durch das Argument innerhalb des gesellschaftlichen Gesprächs beziehungsweise an das neue kulturelle Modell, das die westlichen Besatzungsmächte nach Deutschland "transplantiert" haben, wie er in einem MOPO-Gespräch sagte. Dieses abendländische kognitive Schema nennt sich Demokratie und kann deshalb nicht antisemitisch sein. Entweder - oder. Würde er mit seinem scharfen Blick und seiner Fähigkeit die Dinge aus der Sicht der Opfer zu sehen sowie beim Namen zu nennen das heutige Deutschland betrachten, müßte er eigentlich erschrecken. Auf diese Idee kann er mit seiner Herangehensweise aber gar nicht kommen. Denn wo 51 jahre lang die Schule, die für ihn neben der Familie die wichtigste kulturelle Instanz ist, demokratisch war, kann es nicht besonders antisemitisch zugegangen sein. Vielleicht würde da ein Gastaufenthalt bei deutschen Familien schon eher etwas in Goldhagens Sicht auf das heutige Deutschland verändem. Aber lassen wir die aufheiternde Polemik, die am Eende von Vorträgen immer die Funktion hat, davon abzulenken, daß sie etwas lang waren.
Wer wie Goldhagen die materiellen Ursachen, die dem Antisemitismus zugrundeliegen, dementiert, wer so argumentiert, ist selbstverständlich nicht Kritiker, sondern Verteidiger der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Die Bedeutung seines Buches wird hierdurch nicht gemindert: die schärfsten Kritiker spezifisch deutscher Verhältnisse waren oftmals bürgerliche Autoren, während die traditionsmarxistische Forschung hier versagt hat und offenkundig weiter versagen will.

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Most recent revision: April 07, 1998

E-MAIL: Martin Blumentritt