Zum Buch von Daniel Jonah Goldhagen "Hitler's Willing Executioners:
Ordinary Germans and the Holocaust", New York 1996
Dieses Buch ist eine Zumutung: für die Mehrheit der wiedervereinigten
Deutschen, weil es den Holocaust in die Kontinuität deutscher Geschichte
einzuordnen versucht; für den kritischen Teil der deutschen Öffentlichkeit
und der Historikerschaft, weil es mit diesem Versuch - wenn auch nicht
ohne grandezza - scheitert.
Der "gewöhnliche Deutsche" als Vollstrecker der Endlösung
ist nach wie vor eine unbekannte Größe. Schon ihn zu definieren
fällt schwer, erscheinen doch bei eingehender Betrachtung selbst Schlüsselpersonen
wie Adolf Eichmann, Reinhard Heydrich oder Heinrich Himmler weniger als
mordbesessene Bestien in Menschengestalt denn als ebenso wendige wie fähige
Bürokraten. Übersehen wird häufig, daß das infolge
Überstrapazierung zur Phrase verkommene Wort von der "Banalität
des Bösen" nicht nur die Motivation der Täter, sondern auch ihre
Stellung im Präzisionsmechanismus der Vernichtungsmaschinerie zu beschreiben
geeignet ist. Nach Raul Hilberg war der Holocaust "ein Prozeß aufeinanderfolgender
Schritte..., die auf Initiative unzähliger Entscheidungsträger
innerhalb eines ausgedehnten bürokratischen Apparats ergriffen wurden".
Aus der Perspektive zentraler Planungsinstanzen gehörten die "gewöhnlichen
Deutschen", die die Endlösung in den entlegenen Teilen des besetzten
Europa vollstreckten, zu den Randbereichen dieses Apparats, auch wenn sie
faktisch eine entscheidende Rolle spielten. Judenmord, so will es uns selbst
die neuere Forschung oft glauben machen, wurde in erster Linie in Berlin
betrieben; was in Polen, Serbien und der Sowjetunion wann, wie und mit
wessen Beteiligung geschah, scheint demgegenüber von nachgeordnetem
Interesse.
Der Täterforschung im Zusammenhang mit dem Holocaust kommt keineswegs,
wie bisweilen von Historikern befürchtet, primär forensische
Bedeutung zu. Die Standards setzen Arbeiten aus den USA. 1992 legte Christopher
R. Browning seine bahnbrechende Studie über die Angehörigen eines
deutschen Reserve-Polizeibatallions vor. Vier Jahre später geht nun
Daniel Goldhagen der Frage nach, warum vermeintlich "normale Männer"
massenweise und über Jahre Juden - unter ihnen eine große Zahl
von Alten, Frauen und Kindern - erniedrigen, mißhandeln, erschlagen
und erschießen, ohne dabei Himmlers SS-Eliteformationen an Brutalität
und Vernichtungsbereitschaft nachzustehen. Trotz ähnlicher Quellenbasis
(beide stützten sich primär auf Nachkriegs-Gerichtsakten, insbesondere
zu den Verbrechen deutscher Polizeibataillone) können die Erklärungsansätze
konträrer kaum sein. Nach Browning waren es in erster Linie situative
Faktoren wie Gruppenzwang, Arbeitsteilung und kriegsbedingte Abstumpfung,
die die Hemmschwelle zum Massenmord abbauen halfen. Die Verbrechen deutscher
Täter reihen sich bruchlos ein in die lange, "von Bromberg und Babi
Yar über Neuguinea und Manila bis My Lai" reichende Kette kriegsbedingter
Greuel.
Goldhagen konzipiert sein rund 600-seitiges Buch über weite Strecken
als "Anti-Browning". Die entscheidende Triebkraft für den Genozid
sieht er in einer seit dem späten 19. Jahrhundert in Deutschland vorherrschenden
antisemitischen Disposition, die auf die physische Vernichtung der Juden
abzielte. Dieser "eliminationist antisemitism" sei ein spezifisch deutsches
Phänomen, das - nach praktischer Verwirklichung drängend - sich
den jeweiligen Umständen anpasse. Sobald die Rahmenbedingungen geschaffen
waren und die Gelegenheit günstig schien, folgte aus der mörderischen
Potenz die Endlösung. Nicht die NS-Führungsschicht allein, sondern
die breite Mehrheit des deutschen Volkes glaubte, daß die Juden "unser
Unglück" seien und zu verschwinden hätten. Zu diesem Ziel arbeitete
sie aktiv mit einer Regierung zusammen, die ihre Popularität dem verheißungsvollen
Schlagwort "Juda verrecke!" verdankte. Der "normale Deutsche" präsentiert
sich aus Goldhagens Perspektive als pathologische Zwangsnatur; die Frage
nach dem Überwinden von Hemmschwellen im Vorfeld des Judenmords stellt
sich nicht.
Zur Untermauerung seiner These führt Goldhagen schockierend deutliche
Belege an: den Enthusiasmus deutscher Polizisten bei der "Räumung"
osteuropäischer Ghettos, der bisweilen die Ehefrauen der Täter
beiwohnten; den Erfindungsreichtum deutscher Aufseher im Rahmen der "Vernichtung
durch Arbeit"; das hartnäckige Festhalten des KZ-Personals am Mordprogramm
noch in der Endphase des Krieges, als die Befreiung der auf Todesmärschen
umhergehetzten Gefangenen durch alliierte Truppen bestenfalls eine Frage
von Tagen war. Der Holocaust bestand nicht darin, daß in Berlin ein
paar Bürokraten papierne Pläne entwickelten und in Osteuropa
sechs Millionen Juden tot umfielen. Diese simple Tatsache ins Bewußtsein
zurückzurufen und dabei die Schlüsselrolle der Täter vor
Ort zu betonen, ist ein unbestreitbarer Verdienst des Buches.
Worin besteht nun sein Scheitern? Nicht darin, daß es mit einem
Erklärungsmodell, das sich je nach Ausdeutung sowohl als "kollektivistischer
Intentionalismus" als auch als "individualistischer Funktionalismus" bezeichen
ließe, in keine der ebenso vertrauten wie abgenutzten Schubladen
historiographischen Denkens paßt. Auch nicht in der Betonung der
bislang wenig beachteten hochgradigen Bereitwilligkeit vieler Deutscher
zum Judenmord, wenngleich nach wie vor fraglich scheint, ob Überzeugungstäter
wirklich die Mehrheit stellten. Vielmehr gelingt Goldhagen der Nachweis
nicht, daß Antisemitismus das alleinige Tatmotiv und damit die entscheidende
Triebkraft auf dem Weg zur Endlösung war. Die Tatsache, daß
nur in Deutschland Judenhaß derart geschichtsmächtig wurde,
kann weder den Prozeßcharakter des Holocaust erklären noch ein
hinreichender Grund sein, den Antisemitismus in anderen Ländern aus
der Analyse auszuklammern, zumal der deutsche Exportartikel "Endlösung"
in ganz Europa Verbreitung fand. Bedurfte es überhaupt antisemitischer
Stereotypen bei den beteiligten Deutschen, um im Sommer 1941 systematische
Judenverfolgung in systematischen Judenmord umkippen zu lassen? Trieb die
nichtdeutschen Helfershelfer bodenständiger Antisemitismus oder eine
weniger abstrakte Motivation an? Und wie steht es mit den Millionen nichtjüdischer
Opfer einer Politik, die die vollständige Eindeutschung Osteuropas
anstrebte? Nirgens irrt Goldhagen mehr als mit der Annahme, "Fremdvölkische"
hätten eine bessere Behandlung genossen als Juden: die Zahl der sowjetischen
Kriegsopfer dürfte 20 Millionen weit überschreiten; weiter westlich
implizierte "finis Poloniae" nicht nur das Verschwinden des polnischen
Staates, sondern auch großer Teile seiner Bevölkerung.
In seinem an sich dankenswerten Bestreben, der bereits entsorgt geglaubten
These vom "deutschen Sonderweg" wieder Gehör zu verschaffen, gerät
Goldhagen in die Irre. Der unbestreitbar "gewundene Pfad" nach Auschwitz
wird linearisiert und zur bloßen Verbindung zweier Eckpunkte - Antisemitismus
und Endlösung - verkürzt. Wozu bedarf es noch eingehender historischer
Darstellungen zu Entscheidungsprozessen, Verlaufsmustern und Trägergruppen,
wenn alles so schrecklich einfach war? Nun, so einfach war es nicht. Goldhagen
weiß dies, doch statt zu analysieren versucht er sich an einer Teleologie.
Über die Gründe läßt sich nur spekulieren, die Gesetze
des Marktes dürften eine Rolle spielen.
Für den deutschen Kontext ist von besonderem Interesse, daß
Goldhagen darauf verzichtet, die aufgezeigten Kontinuitätslinien über
1945 hinaus weiterzuverfolgen. Hilfreich wären nicht nur Hinweise
auf das Nachkriegsleben der Täter, die sich in den benutzten Gerichtsakten
finden liessen. Wenn Antisemitismus wie behauptet eine Konstante ist, die
lediglich in ihrer Ausformung entsprechend den vorherrschenden sozialen
Bedingungen fluktuiert, stellt sich die Frage nach ihrem Stellenwert in
der Bundesrepublik; bekanntlich markiert das Jahr 1945 in dieser Hinsicht
keine Zäsur. Vielleicht will Goldhagen es aber auch bewußt dem
Leser überlassen, die These vom "eliminationist antisemitism" auf
der Basis täglicher Meldungen aus dem Deutschland der Gegenwart zuende
zu denken.
Jürgen Matthäus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des United States Memorial Museums Washington
Internet Journal - Antisemitism and Holocaust. From Prejudice to Genocide