Selten hat eine Partei ihre verfassungsfeindlichen Absichten so
wenig verborgen wie die "Deutsche Volksunion" (DVU). Während der konstituierenden
Sitzung des neuen Landtages von Sachsen-Anhalt im Mai 1998 drohte der DVU-Fraktionschef
Helmut Wolf den anderen Parteien: "Entweder werden Sie die Anweisungen
des Volkes als Diener dieses Volkes ausführen, oder Sie werden sich
vor den Toren des Parlaments wiederfinden." Über den Hintergrund dieser
Drohung berichtet der SPD-Bundestagsabgeordnete Richard Schuhmann: "Ich
kann nicht sagen, daß es mir Spaß macht, das alles zu erzählen.
Aber in diesem Fall muß man den Leuten klarmachen, was für ein
Psychopath da in den Magdeburger Landtag einzieht." Schuhmann kennt Wolf
aus zwölfjähriger Zusammenarbeit im Braunkohlekombinat Bitterfeld."
Er harte zwei Spitznamen -- 'Mütze' und 'Busen-Wolf'. Weil er immer
mit einer dreckigen Ziegenfell-Schapka herumlief und auf ekelhafte Weise
Kolleginnen begrapschte." Für Wolfs 17 Jahre jüngere Frau wurde
die Ehe zur Hölle: Er trank, schlug sie oft, während der Schwangerschaft
auch immer wieder in den Bauch, jagte sie in Winternächten in Unterwäsche
in die Kälte. Nach der Scheidung bedrohte er sie 1995 wegen Unterhaltforderungen
mit der Pistole. Ab und zu wehrte sich die Gedemütigte mit Geschick:
"Wenn sie ihn aussperrte, übernachtete er in der Hundehütte seines
Boxers Felix und kam am nächsten Tag stinkend, ungewaschen und über
und über mir Hundehaaren bedeckt zur Arbeit", erzählt Schuhmann.
Wolf, der Ausgesperrte, will Revanche: Jetzt sollen andere ausgesperrt
werden -- andere Abgeordnete, andere Parteien, andere Menschen.
"Der faschistische Agitator ist im allgemeinen ein meisterlicher Verkäufer
seiner eigenen psychischen Defekte", resümiert Adorno. Für welche
ihrer psychischen Defekte finden die Agitatoren von DVU und anderen Nazi-Gruppen
Kundschaft? Welche seelischen Störungen verbinden Führer und
Masse?
Die Erhebungen der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen bieten einen
ersten Zugang. Ihre Daten zur DVU-Wählerstruktur in Sachsen-Anhalt
verweisen auf die Rolle von Alter und Geschlecht: Je jünger die Wähler
sind, um so mehr wählen die Nazi-Partei: 32 Prozent waren es bei den
18jähngen, nur drei Prozent bei den über 60jährigen. Nimmt
man nur die Männer der Altersgruppe 18-24, so konnte die DVU hier
sogar 38 Prozent für sich gewinnen - mehr als CDU, SPD und Bündnisgrüne
zusammen. Insgesamt wurde die Partei in Sachsen-Anhalt zu fast zwei Dritteln
(61 Prozent) von Männern gewählt (Zahlen nach Forschungsgruppe
Wahlen e.V., Mannheim).
Ähnliche Ergebnisse erbrachte die bisher repräsentativste
Befngung Berliner Jugendlicher, die im Frühjahr 1998 im Auftrag der
Schulverwaltung durchgeführt wurde und 6.600 Auszubildende und Schüler
erfaßte: Insgesamt wollen in Ostberlin doppelt so viele (männliche
und weibliche) Lehrlinge die rechtsradikalen Parteien wählen wie im
Westteil der Stadt -- 23 Prozent im Vergleich mit 11,5 Prozent. Berücksichtigt
man nur die männlichen Auszubildenden, so erhöht sich der Unterschied
auf das Dreifache (31,1 Prozent im Osten, 10,6 Prozent im Westen) (_FAZ_,
12.6.98).
Schlußfolgerung: Der typische DVU-Wähler ist jung, männlich
und kommt aus dem Osten. Ohne Psychoanalyse wird sich das nicht erklären
lassen. Oder will man behaupten, daß die wirtschaftliche Misere die
Alten und die Frauen etwa nicht treffe und daß man im Westen dem
rassistischen Diskurs von Kanther, Stoiber, Schönbohm & Co. weniger
ausgesetzt sei!
Ein gutes Beispiel für das Ergebnis einer Umleitung blockierter
Sexualenergie ist der Ostberliner Nazi-Terrorist Kay Diesner, der 1997
einen PDS-Buchhändler zum Krüppel schoß und anschließend
einen Polizisten ermordete. Diesner wird I972 in Berlin-Friedrichshain
geboren, die Eltern trennen sich ein Jahr später, der Junge wächst
bei seiner Mutter auf. "Kay ist ihr Lieblingskind, er übernimmt die
Haßgefühle, die Ingrid Diesner gegenüber ihrem Geschiedenen
entwickelt, bereitwillig", schreibt Laura Benedict in ihrer Diesner-Biographie
_Sehnsucht nach Unfreiheit_. Als Diesner in die Pubertät kommt, verstärkt
sich noch die heftige Abneigung gegen den 'biologischen' Vater. Seine eigene
Männlichkeit drückt sich vor allem im martialischen Outfit aus
-- noch zu DDR-Zeiten erscheint er mit Bomberjacke und Doc-Martens-Stiefeln
in der Schule, nach der Wende kommen zunächst Gaspistolen, dann eine
langläufige Pumpgun hinzu. Die phallische Aufmachung ändert nichts
an der Kontaktschwäche gegenüber dem anderen Geschlecht. Einer
seiner ersten intensiveren Kontakte zu einer Frau ist ein gewalttätiger
Angriff auf ein Mädchen im Bahnhof Berlin-Lichtenberg im Februar 1991.
Diesner schlägt mit einer Machete auf die Wehrlose ein und verletzt
sie mit diesem Ersatz-Penis schwer. Bei der Verhandlung gibt er zu seiner
Rechtfertigung an, das Mädchen habe "ein Messer gezogen und auf seinen
Unterleib gezielt". Die halluzinierte Kastration als mildernder Umstand
überzeugt zumindest das Gericht: Das Verfahren wird eingestellt, Diesner
lediglich zur Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs verpflichtet.
Bis zu seinem Amoklauf im Februar I997 hatte der 15jährige nur
zwei enge Beziehungen zu Frauen, beide Verhältnisse brach er nach
jeweils neun Monaten ab. "Seine Idealfrau ist seine Mutter, die ihn immer
verwöhnt hat und die er vergöttert", faßt Laura Benedict
zusammen. Mit Kathleen, der zweiten dieser beiden Frauen, hat er nie Sex,
statt dessen hält er ihr "ziemlich fanatisch" Vorträge über
die germanischen Götter Odin und Thor. Wenn sie mit ihm Schluß
machen würde, so gibt Kathleen später eine Bemerkung Diesners
wieder, "würde er in ein PDS-Haus rennen, dort Amok laufen und im
Fernsehen sagen, daß er es nur ihretwegen getan hat". Genau das ist
dann geschehen -- allerdings mit einem bezeichnenden Unterschied zur vorausgegangenen
Drohung: In derD6ffentlichkeit macht er anschließend nicht Kathleen
für seine Taten verantwortlich, sondern die PDS, die eine "extrem
deutschfeindliche" Partei sei. Statt von Liebe zu seiner Mutter spricht
er von Liebe zu Deutschland, als Störenfried dieser Liebe gilt ihm
die PDS -- auf diese Verschiebung wird noch zurückzukommen sein.
Einstweilen sei festgehalten: Der durch ungelöste Mutterbindung
und Angst blockierte Sexualtrieb hat sich bei Diesner in einer blutigen
Rettungsaktion für die Ehre Deutschlands entladen. Dies entspricht
grosso modo dem Erklärungsmuster, das Wilhelm Reich für den deutschen
Faschismus der dreißiger Jahre gab.
Erich Fromm hat in seinen Studien zu "Autorität und Familie"
(1936) herausgearbeitet, wie "unter gesellschaftlichen Bedingungen, die
eine Erstarkung des Ichs über ein bestimmtes Maß hinaus verhindern,
die Aufgabe der Triebverdrängung nur mit Hilfe der irrationalen Gefühlsbeziehungen
zur Autorität" gelingen kann. Ergebnis ist die massenhafte Herausbildung
des autoritären Charakters, der sich der Herrschaft anschmiegt und
gegen Minderheiten losschlägt. Anders als Reich sieht Fromm den Grund
für die Charakterdeformation nicht allein in der frühkindlichen
Sexualunterdrückung; vielmehr müsse die Ich-Schwäche auch
im weiteren Leben durch "äußere Gewalt und die Angst vor ihr"
perpetuiert werden.
Es gibt zahlreiche Indizien dafür, daß der von Fromm beschriebene
Sozialisationstypus in der DDR besser als in der Bundesrepublik konserviert
wurde. Der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz erläutert den
Ost/West-Unterschied in der Psychogenese mit Beispielen: "Mein Eindruck
ist, daß West-Kinder in der Tendenz enthemmter, vor allem auch anstrengender
und aufdringlicher sind als unsere Kinder. Ich denke manchmal, ihnen müßten
auch häufiger Grenzen gesetzt werden, sie bräuchten ein Gegenüber,
das ihnen manchmal entgegentritt. Dagegen leide ich darunter, wie sehr
unsere Kinder eingeengt sind, und ich wünschte mir oft bei ihnen mehr
Frechheit, mehr Mut, mehr Lebendigkeit. In unserem Alltag -- im Zug, in
der Straßenbahn, auf der Straße oder auf Kinderspielplätzen
-- traf man fast überall auf das gleiche Ritual, wie Kinder diszipliniert
wurden." Ein besonderer Faktor bei der autoritären Erziehung sind
für Maaz die Kinderkrippen. "Meistens hatte eine Krippentante 15 Kinder,
manchmal auch noch mehr zu 'betreuen'. Schon deshalb mußte 'durchgegriffen'
werden. Aber es entsprach auch den herrschenden Erziehungsidealen. Wenn
ein Kind mal weinen wollte, wurde es ermahnt, es solle sich beherrschen.
Körperlich gespendeter Trost war verpönt aufgrund der eigenartigen
Vorstellung, man dürfe kein Kind verwöhnen oder vorziehen, denn
dann könnten die anderen auch direkte Zuwendung erwarten... Auf Aggressivität
reagierte man mit Strafe, Beschämung und Ausgrenzung ('Wenn du böse
bist, mußt du rausgehen!'); auf Weinen folgte schneller Trost oder
Bagatellisierung, statt die Gefühle zu beachten und ihre Signalfunktion
zu verstehen. Konflikte wurden von Erwachsenen 'geregelt', wobei disziplinierende
Ermahnungen am häufigsten waren. Daß sich im Streit wichtige
Hinweise auf seelische Befindlichkeiten zeigen könnten, die geklärt
und ausgetragen werden müssen, wurde meistens nicht verstanden. Auf
diese Weise wurden unehrliche Beziehungen, verlogene Versöhnungen
und Hierarchien nach quasimilitärischem Reglement gefördert.
Das angepaßte Kind war gleichzeitig das 'liebe Kind'. So entstanden
Pseudobeziehungen, so wurden Untertanen gezüchtet. Kurz: Nach meiner
Erfahrung waren die Verhältnisse in den Kinderkrippen keineswegs lebendigen
menschlichen Beziehungen förderlich -- mit Spaß, Offenheit und
auch streitbarer Auseinandersetzung." Maaz folgert in unausgesprochener
Anlehnung an die von Fromm beschriebenen Mechanismen der Verfestigung eines
autoritären Über-Ichs: "Diese Form der Einengung hat Ängstlichkeit,
Unsicherheit und Zurückhaltung gefördert -- letztlich eine Gehemmtheit,
die typisch für uns ist. Später, im Erwachsenenalter, wurde sie
durch ganz reale Strafen und Gefahren bestätigt, wenn man sich nicht
an die engen Vorgaben der Partei hielt. Die ständige Gängelei
war ein Grundmuster unserer Verhältnisse."
Trotz der autoritären Formung des kollektiven Unbewußten
durch den Staat ist es bis 1989 in der DDR kaum zu rassistischer und faschistischer
Meutenbildung gekommen, jedenfalls verglichen mit der BRD. Das ist sicherlich
zu einem Teil mit der -- in diesem Fall -- erfreulichen Repressionswirkung
des "staatlich verordneten Antifaschismus" zu erklären. Allerdings
ist auffällig, daß sich auch nach dem Beitritt zur Bundesrepublik
die Masse der ehemaligen DDR-Bürger keineswegs faschistoid äußerte
-- man denke nur an eine vergleichende _Spiegel_/Emnid-Umfrage aus dem
Jahre 1991, die im Osten nur vier Prozent Antisemiten ermittelte (gegenüber
16 Prozent in der Alt-BRD).
Warum kam es in der DDR, trotz zum Teil bedenklicher Propaganda, nicht
zur Bildung eines haßerfüllten nationalen Kollektivs? Warum
waren Staatsbegeisterung und Nationalismus den Menschen kein Herzensanliegen?
Wieso ging man lieber mit Freunden auf die Datsche als mit Genossen auf
die Demo? Warum hat es sich also um eine recht "kommode Diktatur" (Grass)
gehandelt? Aufschluß gibt eine Bemerkung von Sigmund Freud in "Massenpsychologie
und Ich-Analyse": "Alle Bindungen, auf denen die Masse beruht, sind von
der Art der zielgehemmten Triebe... Die direkten Sexualstrebungen erhalten...
ein Stück individueller Betätigung. Wo sie überstark werden,
zersetzen sie jede Massenbildung." Zur Erklärung schreibt Freud: "Die
zielgehemmten Sexualtriebe haben vor den ungehemmten einen großen
funktionellen Vorteil. Da sie einer eigentlichen vollen Befriedigung nicht
fähig sind, eignen sie sich besonders dazu, dauernde Bindungen zu
schaffen, während die direkt sexuellen jedesmal durch die Befriedigung
ihrer Energie verlustig werden und auf Erneuerung durch Wiederanhäufung
der sexuellen Libido warten müssen..." Die gefährliche Rolle
gehemmter Sexualität beschreibt Reich, wo er auf die Verwurzelung
des Nationalismus in der Mutterbindung zu sprechen kommt: "Sie (die Mutterbindung)
würde in der Pubertät anderen Bindungen - etwa erwachsenen Sexualbeziehungen
- Platz machen, wenn nicht die sexuellen Einschränkungen des Liebeslebens
sie verewigen würden. Erst in dieser gesellschaftlich begrundeten
Verewigung wird sie die Grundlage des Nationalgefühls des erwachsenen
Menschen, erst hier wird sie zu einer reaktionären gesellschaftlichen
Kraft." Es liegt nun eine Fülle von empirischem Material vor, das
auf die relative Ungehemmtheit des Sexuallebens in der DDR seit den siebziger
Jahren hinweist.
Möglicherweise wirkten neben der Sexualität auch Veränderungen
in der Familiensituation autoritären Charakterdeformationen entgegen.
Die ökonomische Gleichberechtigung der Geschlechter habe auch eine
"familiale Demokratisierung und Liberalisierung" bewirkt, die patriarchale
Dominanz des Vaters sei "immer weniger" zu beobachten gewesen, berichtet
Starke.
Offensichtlich hat diese "familiale Demokratisierung" die charakterliche
Entwicklung der Kinder positiv beeinflußt. Horst-Eberhard Richter
und Elmar Brähler haben 1995 1.000 ostdeutsche Familien befragt und
die Ergebnisse mit den Antworten von 2.000 westdeutschen Familien verglichen:
"Geradezu frappierend ist, wie positiv die Ostdeutschen auf ihre Erziehung
im Elternhaus zurückblicken, obwohl die Meinung grassiert, daß
die Ostdeutschen in ihrer Kindheit durch Krippenerziehung und Berufstätigkeit
beider Eltern nicht viel familiäre Geborgenheit genossen haben könnten...
Die empirischen Ergebnisse zeigen ein ganz anderes Bild: Was immer man
in der Erziehung von den Eltern erfahren und bekommen hat, klingt im Osten
freundlicher als auf der westlichen Seite... Demnach werden die Eltern
als warmherziger und toleranter beschrieben: Sie haben die Kinder näher
an sich herangelassen, sie weniger bestraft, weniger geschlagen, weniger
beschämt, mehr unterstützt und haben diese weniger mit ehrgeizigen
Forderungen gequält. Den reglementierenden Eingriffen des Staates
zum Trotz scheint sich die Familie für die Kinder im Osten als Stütze
besser bewährt zu haben, als oft unterstellt wird. In der Familie
hatte sich anscheinend vielfach eine hermetische private Gegenkultur entwickelt,
die den Kindern positive emotionale Erfahrungen vermittelte. Deren Verinnerlichung
dürfte die nun im ostdeutschen Selbstbild vorgefundenen Merkmale von
mehr Offenheit, Gefühl und Weichheit begünstigt haben."
Wie gezeigt, wirkten im kollektiven Unbewußten der DDR-Gesellschaft
zwei antagonistische Kräfte: Einerseits Tendenzen zur massenhaften
Heranzüchtung des autoritären Charakters einschließlich
aller Sekundärtugenden, die das Bild des "häßlichen Deutschen"
ausmachen: Obrigkeitshörigkeit, Ordnungswahn, Arbeitswut, Rigidität.
Andererseits richtete die emotionale Geborgenheit in den 'demokratisierten'
Familien die Kinder wieder auf, und eine relativ unverkrampfte Sexualität
verhinderte einen Triebstau, der auf eine Entladung für Volk und Führer
gedrängt hätte.
Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik sind die positiven Faktoren verschwunden,
das negative Erbe der DDR wurde freigesetzt. Zwar hat sich die Sexualität
der in der DDR Sozialisierten "wendestabil" gezeigt (Starke) -- was, neben
der genossenen antifaschistischen Bildung, einer der Gründe für
ihre größere Resistenz gegen rechte Parolen sein dürfte.
Doch in den nachrückenden Ost-Jahrgängen, die erst nach der Wiedervereinigung
sexuelle Erfahrungen machen konnten, ist ein dramatisches Rollback zu verzeichnen.
Eine im Sommer I998 veröffentlichte Untersuchung der "Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung" -- befragt wurden 1.800 Jugendliche
in den alten und 1.200 in den neuen Bundesländern verdeutlicht, daß
den Teenagern im Osten sexuelle Ängste weitaus stärker zu schaffen
machen als im Westen -- ganz im Unterschied zur Situation vor 1989.
Einige signifikante Ergebnisse der Studie seien angeführt: "Auf
den ersten Blick ist zu konstatieren, daß die Jugendlichen in Westdeutschland
ihren Altersgenossen in Ostdeutschland, was die Verbreitung der Formen
sexueller Kontakte betrifft, um mehr oder weniger Prozentpunkte voraus
sind. Während die Unterschiede der Mädchen beim Brustpetting,
Genitalpetting und Geschlechtsverkehr nicht auffällig sind, so sind
sie bei den Jungen deutlich." Von den 17jährigen Jungen haben im Osten
10 Prozent weniger Geschlechtsverkehr gehabt und sogar 18 Prozent weniger
Genitalpetting als ihre Altersgenossen im Westen. -- "Jeder zweite West-Junge
erinnert sich bei der Ejakulation an ein positives Erlebnis. Die Jungen
aus Ostdeutschland geben hingegen wesentlich seltener an, daß der
erste Samenerguß mit angenehmen Gefühlen verbunden war (39 Prozent)."
-- "Zum ersten Geschlechtsverkehr sagen 10 Prozent der Ost-Mädchen
weniger, daß es für sie etwas Schönes war. Auch hatten
6 Prozent mehr ein schlechtes Gewissen, als es bei den Mädchen in
Westdeutschland der Fall war."
Im Gegensatz zur sexuellen hat die autoritäre Kultur der DDR die
Wiedervereinigung überdauert: Die vom Sächsischen Kultusministerium
in Auftrag gegebene Studie "Jugend '97" ergab mit 47 Prozent Häufigkeit
eine Dominanz des befehlend-gefühllosen ("paradoxen") Erziehungsstils
-- Lehrer und Vorgesetzte traktieren die ihnen anvertraute Klientel wie
vor 1989 mit "Forderungen ohne emotionalen Rückhalt". Schließlich
ist die Geschlechterbalance in der Familie zerstört worden: Während
sich die Frau in der DDR relativ leicht scheiden lassen konnte und in der
Regel dann die Wohnung und die Kinder zugesprochen bekam, befindet sie
sich seit der Wiedervereinigung in stärkerer ökonomischer und
rechtlicher Abhängigkeit vom Mann.
Damit liegen wieder alle Voraussetzungen vor, die Fromm und Reich für
den massenpsychologischen Vormarsch von Autoritarismus und Faschismus genannt
haben: eine starre Über-Ich-Bildung in der patriarchalen Familie,
die Verstärkung dieses Über-Ichs durch gesellschaftliche Disziplinierung,
die mangelnde sexuelle Befriedigung. Eine Strategie gegen rechts, die diesen
massenpsychologischen Prägungen nicht Rechnung trägt, ist zum
Scheitern verurteilt.
Jürgen Elsässer in: Kursbuch Nr. 134 Dezember 1998