Der tendenzielle Fall der Orgasmusrate

Zur Massenpsychologie des Faschismus in den neuen Bundesländern.


Selten hat eine Partei ihre verfassungsfeindlichen Absichten so wenig verborgen wie die "Deutsche Volksunion" (DVU). Während der konstituierenden Sitzung des neuen Landtages von Sachsen-Anhalt im Mai 1998 drohte der DVU-Fraktionschef Helmut Wolf den anderen Parteien: "Entweder werden Sie die Anweisungen des Volkes als Diener dieses Volkes ausführen, oder Sie werden sich vor den Toren des Parlaments wiederfinden." Über den Hintergrund dieser Drohung berichtet der SPD-Bundestagsabgeordnete Richard Schuhmann: "Ich kann nicht sagen, daß es mir Spaß macht, das alles zu erzählen. Aber in diesem Fall muß man den Leuten klarmachen, was für ein Psychopath da in den Magdeburger Landtag einzieht." Schuhmann kennt Wolf aus zwölfjähriger Zusammenarbeit im Braunkohlekombinat Bitterfeld." Er harte zwei Spitznamen -- 'Mütze' und 'Busen-Wolf'. Weil er immer mit einer dreckigen Ziegenfell-Schapka herumlief und auf ekelhafte Weise Kolleginnen begrapschte." Für Wolfs 17 Jahre jüngere Frau wurde die Ehe zur Hölle: Er trank, schlug sie oft, während der Schwangerschaft auch immer wieder in den Bauch, jagte sie in Winternächten in Unterwäsche in die Kälte. Nach der Scheidung bedrohte er sie 1995 wegen Unterhaltforderungen mit der Pistole. Ab und zu wehrte sich die Gedemütigte mit Geschick: "Wenn sie ihn aussperrte, übernachtete er in der Hundehütte seines Boxers Felix und kam am nächsten Tag stinkend, ungewaschen und über und über mir Hundehaaren bedeckt zur Arbeit", erzählt Schuhmann. Wolf, der Ausgesperrte, will Revanche: Jetzt sollen andere ausgesperrt werden -- andere Abgeordnete, andere Parteien, andere Menschen.
"Der faschistische Agitator ist im allgemeinen ein meisterlicher Verkäufer seiner eigenen psychischen Defekte", resümiert Adorno. Für welche ihrer psychischen Defekte finden die Agitatoren von DVU und anderen Nazi-Gruppen Kundschaft? Welche seelischen Störungen verbinden Führer und Masse?
 

Die Wählerschaft der DVU


Die Erhebungen der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen bieten einen ersten Zugang. Ihre Daten zur DVU-Wählerstruktur in Sachsen-Anhalt verweisen auf die Rolle von Alter und Geschlecht: Je jünger die Wähler sind, um so mehr wählen die Nazi-Partei: 32 Prozent waren es bei den 18jähngen, nur drei Prozent bei den über 60jährigen. Nimmt man nur die Männer der Altersgruppe 18-24, so konnte die DVU hier sogar 38 Prozent für sich gewinnen - mehr als CDU, SPD und Bündnisgrüne zusammen. Insgesamt wurde die Partei in Sachsen-Anhalt zu fast zwei Dritteln (61 Prozent) von Männern gewählt (Zahlen nach Forschungsgruppe Wahlen e.V., Mannheim).
Ähnliche Ergebnisse erbrachte die bisher repräsentativste Befngung Berliner Jugendlicher, die im Frühjahr 1998 im Auftrag der Schulverwaltung durchgeführt wurde und 6.600 Auszubildende und Schüler erfaßte: Insgesamt wollen in Ostberlin doppelt so viele (männliche und weibliche) Lehrlinge die rechtsradikalen Parteien wählen wie im Westteil der Stadt -- 23 Prozent im Vergleich mit 11,5 Prozent. Berücksichtigt man nur die männlichen Auszubildenden, so erhöht sich der Unterschied auf das Dreifache (31,1 Prozent im Osten, 10,6 Prozent im Westen) (_FAZ_, 12.6.98).
Schlußfolgerung: Der typische DVU-Wähler ist jung, männlich und kommt aus dem Osten. Ohne Psychoanalyse wird sich das nicht erklären lassen. Oder will man behaupten, daß die wirtschaftliche Misere die Alten und die Frauen etwa nicht treffe und daß man im Westen dem rassistischen Diskurs von Kanther, Stoiber, Schönbohm & Co. weniger ausgesetzt sei!
 

Wilhelm Reich -- ein Pionier

Als Ausgangspunkt einer tiefenpsychologischen Untersuchung bieten sich die Arbeiten von Wilhelm Reich an. Vieles von Reich gilt heute zu Recht als überholt, doch er war ein Pionier: als erster suchte er, Marxismus und Psychoanayse zu verbinden -- das ist sein historisches Verdienst. Während er sich zunächst durchaus im Einklang mit der kommunistischen Bewegung wähnte -- bis 1927 wurden alle wichtigen Arbeiten Freuds in der Sowjetunion übersetzt, unter Lenin hatten auch avantgardistische Ansätze wie die Kinderkommunen von Makarenko und die freie Liebe von Kollontai eine Chance --,wurde er im Zuge der Stalinschen Dogmatisierung aus der Partei gedrängt. Dennoch -- oder gerade deswegen -- erregte sein nach dem Bruch mit der KPD 1933 erschienenes Buch _Massenpsychologie des Faschismus_ beträchtliches Aufsehen. 1965 erschien es als erster Raubdruck der westdeutschen Studentenbewegung und verbreitete sich schnell.
Die von Reich nur recht holzschnittartig vorgenommene und zudem durch seine in späteren Lebensjahren vollzogene Wende zum kruden Biologismus diskreditierte Zusammenführung von Marx und Freud wurde von der Apo freilich nicht weiter ausgearbeitet. Eine Sexpol-Bewegung entstand nie, statt dessen kam es spätestens mit dem Ausschluß der Kommune I aus dem SDS zu einer unfruchtbaren Spaltung: Auf der einen Seite die (antiautoritären und autoritären) Strömungen der Politizisten, die den Faschismus nur noch "in der Gesamtheit der bestehenden Institutionen" sahen (Dutschke) -- also gerade nicht im Unbewußten. Auf der anderen Seite die manisch-zwanghaften Sexrebellen, die den Zusammenhang zwischen Libidounterdriickung und Faschismus negierten und letztlich bei einer negativen Aufhebung der "bürgerlichen Moral" landeten: Da dem Kommunarden Dieter Kunzelmann die nachkriegsdeutsche "Unfähigkeit zu trauern" nicht weit genug ging -- für ihn waren die Rudimente des Trauerns nichts anderes als ein "Judenknacks", der vom notwendigen Antiimpenalismus und Antizionismus abhielt --, unterstützte er 1969 sogar Brandanschläge auf jüdische Einrichtungen in Westberlin.
Reich ist für diesen Antisemitismus genausowenig haftbar zu machen wie Marx für den Gulag: Es ging ihm um die Bekämpfung der Nazis, nicht um ihre Imitierung. Die _Massenpsychologie_ des Faschismus basiert für ihn auf folgenden Mechanismen: "Das Bewußtsein ist nur ein kleiner Teil des Seelischen; es wird selbst dirigiert von seelischen Prozessen, die unbewußt ablaufen und deshalb der Kontrolle des Bewußtseins nicht zugänglich sind." Als Beispiel nennt Reich, "daß die moralischen Instanzen im Menschen, weit entfernt davon, überirdischer Herkunft zu sein, sich zentral aus den Erziehungsmaßnahmen der Eltern und ihrer Vertreter in frühester Kindheit ableiten. Im Kern dieser Erziehungsmaßnahmen wirken diejenigen, die sich gegen die Sexualität des Kindes richten." Dies hat politische Konsequenzen: "Die Sexualverdrängung stärkt die politische Reaktion nicht nur durch den beschriebenen Vorgang, der die Massenindividuen passiv und unpolitisch macht; sie schafft in der Struktur des bürgerlichen Menschen eine sekundäre Kraft, ein künstliches Interesse, das die herrschende Ordnung auch aktiv unterstützt. Ist nämlich die Sexuaität durch den Prozeß der Sexualverdrängung aus den naturgemäß gegebenen Bahnen der Befriedigung ausgeschlossen, so beschreitet sie Wege der Ersatzbefriedigung verschiedenster Art... Die Wirkung des Militarismus beruht massenpsychologisch im wesentlichen auf einem libidinösen Mechanismus: die sexuelle Wirkung der Uniform, die erotisch aufreizende, weil rhythmisch vollendete Wirkung der Parademärsche, der exhibitionistische Charakter des militärischen Auftretens sind einer Hausgehilfin oder einer durchschnittlichen Angestellten bisher praktisch klarer geworden als unseren gebildetsten Politikern."
 

Die blutigen Ejakulationen des Kay Diesner


Ein gutes Beispiel für das Ergebnis einer Umleitung blockierter Sexualenergie ist der Ostberliner Nazi-Terrorist Kay Diesner, der 1997 einen PDS-Buchhändler zum Krüppel schoß und anschließend einen Polizisten ermordete. Diesner wird I972 in Berlin-Friedrichshain geboren, die Eltern trennen sich ein Jahr später, der Junge wächst bei seiner Mutter auf. "Kay ist ihr Lieblingskind, er übernimmt die Haßgefühle, die Ingrid Diesner gegenüber ihrem Geschiedenen entwickelt, bereitwillig", schreibt Laura Benedict in ihrer Diesner-Biographie _Sehnsucht nach Unfreiheit_. Als Diesner in die Pubertät kommt, verstärkt sich noch die heftige Abneigung gegen den 'biologischen' Vater. Seine eigene Männlichkeit drückt sich vor allem im martialischen Outfit aus -- noch zu DDR-Zeiten erscheint er mit Bomberjacke und Doc-Martens-Stiefeln in der Schule, nach der Wende kommen zunächst Gaspistolen, dann eine langläufige Pumpgun hinzu. Die phallische Aufmachung ändert nichts an der Kontaktschwäche gegenüber dem anderen Geschlecht. Einer seiner ersten intensiveren Kontakte zu einer Frau ist ein gewalttätiger Angriff auf ein Mädchen im Bahnhof Berlin-Lichtenberg im Februar 1991. Diesner schlägt mit einer Machete auf die Wehrlose ein und verletzt sie mit diesem Ersatz-Penis schwer. Bei der Verhandlung gibt er zu seiner Rechtfertigung an, das Mädchen habe "ein Messer gezogen und auf seinen Unterleib gezielt". Die halluzinierte Kastration als mildernder Umstand überzeugt zumindest das Gericht: Das Verfahren wird eingestellt, Diesner lediglich zur Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs verpflichtet.
Bis zu seinem Amoklauf im Februar I997 hatte der 15jährige nur zwei enge Beziehungen zu Frauen, beide Verhältnisse brach er nach jeweils neun Monaten ab. "Seine Idealfrau ist seine Mutter, die ihn immer verwöhnt hat und die er vergöttert", faßt Laura Benedict zusammen. Mit Kathleen, der zweiten dieser beiden Frauen, hat er nie Sex, statt dessen hält er ihr "ziemlich fanatisch" Vorträge über die germanischen Götter Odin und Thor. Wenn sie mit ihm Schluß machen würde, so gibt Kathleen später eine Bemerkung Diesners wieder, "würde er in ein PDS-Haus rennen, dort Amok laufen und im Fernsehen sagen, daß er es nur ihretwegen getan hat". Genau das ist dann geschehen -- allerdings mit einem bezeichnenden Unterschied zur vorausgegangenen Drohung: In derD6ffentlichkeit macht er anschließend nicht Kathleen für seine Taten verantwortlich, sondern die PDS, die eine "extrem deutschfeindliche" Partei sei. Statt von Liebe zu seiner Mutter spricht er von Liebe zu Deutschland, als Störenfried dieser Liebe gilt ihm die PDS -- auf diese Verschiebung wird noch zurückzukommen sein.
Einstweilen sei festgehalten: Der durch ungelöste Mutterbindung und Angst blockierte Sexualtrieb hat sich bei Diesner in einer blutigen Rettungsaktion für die Ehre Deutschlands entladen. Dies entspricht grosso modo dem Erklärungsmuster, das Wilhelm Reich für den deutschen Faschismus der dreißiger Jahre gab.
 

Der autoritäre Charakter


Erich Fromm hat in seinen Studien zu "Autorität und Familie" (1936) herausgearbeitet, wie "unter gesellschaftlichen Bedingungen, die eine Erstarkung des Ichs über ein bestimmtes Maß hinaus verhindern, die Aufgabe der Triebverdrängung nur mit Hilfe der irrationalen Gefühlsbeziehungen zur Autorität" gelingen kann. Ergebnis ist die massenhafte Herausbildung des autoritären Charakters, der sich der Herrschaft anschmiegt und gegen Minderheiten losschlägt. Anders als Reich sieht Fromm den Grund für die Charakterdeformation nicht allein in der frühkindlichen Sexualunterdrückung; vielmehr müsse die Ich-Schwäche auch im weiteren Leben durch "äußere Gewalt und die Angst vor ihr" perpetuiert werden.
Es gibt zahlreiche Indizien dafür, daß der von Fromm beschriebene Sozialisationstypus in der DDR besser als in der Bundesrepublik konserviert wurde. Der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz erläutert den Ost/West-Unterschied in der Psychogenese mit Beispielen: "Mein Eindruck ist, daß West-Kinder in der Tendenz enthemmter, vor allem auch anstrengender und aufdringlicher sind als unsere Kinder. Ich denke manchmal, ihnen müßten auch häufiger Grenzen gesetzt werden, sie bräuchten ein Gegenüber, das ihnen manchmal entgegentritt. Dagegen leide ich darunter, wie sehr unsere Kinder eingeengt sind, und ich wünschte mir oft bei ihnen mehr Frechheit, mehr Mut, mehr Lebendigkeit. In unserem Alltag -- im Zug, in der Straßenbahn, auf der Straße oder auf Kinderspielplätzen -- traf man fast überall auf das gleiche Ritual, wie Kinder diszipliniert wurden." Ein besonderer Faktor bei der autoritären Erziehung sind für Maaz die Kinderkrippen. "Meistens hatte eine Krippentante 15 Kinder, manchmal auch noch mehr zu 'betreuen'. Schon deshalb mußte 'durchgegriffen' werden. Aber es entsprach auch den herrschenden Erziehungsidealen. Wenn ein Kind mal weinen wollte, wurde es ermahnt, es solle sich beherrschen. Körperlich gespendeter Trost war verpönt aufgrund der eigenartigen Vorstellung, man dürfe kein Kind verwöhnen oder vorziehen, denn dann könnten die anderen auch direkte Zuwendung erwarten... Auf Aggressivität reagierte man mit Strafe, Beschämung und Ausgrenzung ('Wenn du böse bist, mußt du rausgehen!'); auf Weinen folgte schneller Trost oder Bagatellisierung, statt die Gefühle zu beachten und ihre Signalfunktion zu verstehen. Konflikte wurden von Erwachsenen 'geregelt', wobei disziplinierende Ermahnungen am häufigsten waren. Daß sich im Streit wichtige Hinweise auf seelische Befindlichkeiten zeigen könnten, die geklärt und ausgetragen werden müssen, wurde meistens nicht verstanden. Auf diese Weise wurden unehrliche Beziehungen, verlogene Versöhnungen und Hierarchien nach quasimilitärischem Reglement gefördert. Das angepaßte Kind war gleichzeitig das 'liebe Kind'. So entstanden Pseudobeziehungen, so wurden Untertanen gezüchtet. Kurz: Nach meiner Erfahrung waren die Verhältnisse in den Kinderkrippen keineswegs lebendigen menschlichen Beziehungen förderlich -- mit Spaß, Offenheit und auch streitbarer Auseinandersetzung." Maaz folgert in unausgesprochener Anlehnung an die von Fromm beschriebenen Mechanismen der Verfestigung eines autoritären Über-Ichs: "Diese Form der Einengung hat Ängstlichkeit, Unsicherheit und Zurückhaltung gefördert -- letztlich eine Gehemmtheit, die typisch für uns ist. Später, im Erwachsenenalter, wurde sie durch ganz reale Strafen und Gefahren bestätigt, wenn man sich nicht an die engen Vorgaben der Partei hielt. Die ständige Gängelei war ein Grundmuster unserer Verhältnisse."
 

Gefühlsstau und Sexualtrieb


Trotz der autoritären Formung des kollektiven Unbewußten durch den Staat ist es bis 1989 in der DDR kaum zu rassistischer und faschistischer Meutenbildung gekommen, jedenfalls verglichen mit der BRD. Das ist sicherlich zu einem Teil mit der -- in diesem Fall -- erfreulichen Repressionswirkung des "staatlich verordneten Antifaschismus" zu erklären. Allerdings ist auffällig, daß sich auch nach dem Beitritt zur Bundesrepublik die Masse der ehemaligen DDR-Bürger keineswegs faschistoid äußerte -- man denke nur an eine vergleichende _Spiegel_/Emnid-Umfrage aus dem Jahre 1991, die im Osten nur vier Prozent Antisemiten ermittelte (gegenüber 16 Prozent in der Alt-BRD).
Warum kam es in der DDR, trotz zum Teil bedenklicher Propaganda, nicht zur Bildung eines haßerfüllten nationalen Kollektivs? Warum waren Staatsbegeisterung und Nationalismus den Menschen kein Herzensanliegen? Wieso ging man lieber mit Freunden auf die Datsche als mit Genossen auf die Demo? Warum hat es sich also um eine recht "kommode Diktatur" (Grass) gehandelt? Aufschluß gibt eine Bemerkung von Sigmund Freud in "Massenpsychologie und Ich-Analyse": "Alle Bindungen, auf denen die Masse beruht, sind von der Art der zielgehemmten Triebe... Die direkten Sexualstrebungen erhalten... ein Stück individueller Betätigung. Wo sie überstark werden, zersetzen sie jede Massenbildung." Zur Erklärung schreibt Freud: "Die zielgehemmten Sexualtriebe haben vor den ungehemmten einen großen funktionellen Vorteil. Da sie einer eigentlichen vollen Befriedigung nicht fähig sind, eignen sie sich besonders dazu, dauernde Bindungen zu schaffen, während die direkt sexuellen jedesmal durch die Befriedigung ihrer Energie verlustig werden und auf Erneuerung durch Wiederanhäufung der sexuellen Libido warten müssen..." Die gefährliche Rolle gehemmter Sexualität beschreibt Reich, wo er auf die Verwurzelung des Nationalismus in der Mutterbindung zu sprechen kommt: "Sie (die Mutterbindung) würde in der Pubertät anderen Bindungen - etwa erwachsenen Sexualbeziehungen - Platz machen, wenn nicht die sexuellen Einschränkungen des Liebeslebens sie verewigen würden. Erst in dieser gesellschaftlich begrundeten Verewigung wird sie die Grundlage des Nationalgefühls des erwachsenen Menschen, erst hier wird sie zu einer reaktionären gesellschaftlichen Kraft." Es liegt nun eine Fülle von empirischem Material vor, das auf die relative Ungehemmtheit des Sexuallebens in der DDR seit den siebziger Jahren hinweist.
 

Der tendenzielle Fall der Orgasmusrate

Am 30. Mai 1990 gab die _Bildzeitung_ Sex-Alarm: "Sind die Forschungsergebnisse des Herrn Professor Starke eine wissenschaftliche Sensation oder sind sie etwa nur plump getarnte Propaganda von alten PDS-Parteigängern, denen jedes Argument recht ist, um vor der deutschen Einheit zu warnen? Haben DDR-Bürger weniger Orgasmen, wenn sie mit Bundesdeutschen in einem Staat leben?" Tatsächlich hatten Kurt Starke und sein "Zentralinstitut fürJugendforschung" in Leipzig 1990 zwei umfangreiche Ost-West-Vergleiche durchgeführt; eine Partnerstudie mit 3.103 Teilnehmern in der Ex-DDR und 309 in Westdeutschland sowie eine Erhebung "Jugendsexualität und Aids" mit 272 Teilnehmern aus Leipzig und 417 aus Frankfurt am Main. Dabei war er zu überraschenden Ergebnissen gekommen:
- "Mehr DDR-Frauen (als BRD-Frauen) empfanden ihre sexuellen Aktivitäten als angenehm und schön. Das bezieht sich sowohl auf die Masturbation, die sie lustvoller erlebten, als auch auf den Geschlechtsverkehr. Jeweils etwa 80 Prozent mehr DDR-Frauen sagten, daß der jüngste Geschlechtsverkehr Spaß gemacht hat, sexuell befriedigend war, ein ganz großes Erlebnis darstellte, daß sie glücklich waren." Der Anteil der Frauen, die beim Koitus "immer und meistens" zum Orgasmus kommen, lag 1990 im Osten bei 63 Prozent -- im Westen sprach man hingegen allgemein vom "Mythos des vaginalen Orgasmus" (Alice Schwarzer).
- Für die Männer galt Ähnliches. So hatten 49 Prozent der Ost-Studenten vor ihrem 18. Lebensjahr Sex, aber nur 23 Prozent der West-Studenten. Aus dieser Gruppe hatten 77 Prozent im Osten, aber nur 63 Prozent im Westen schon mehr als einen Sexualpartner gehabt. (Zahlen nach dem Buch von Starkes Mitarbeiter Konrad Weller, Das Sexuelle in der deutsch-deutschen Vereinigung, Leipzig 1991.)
 

Die demokratische Familie


Möglicherweise wirkten neben der Sexualität auch Veränderungen in der Familiensituation autoritären Charakterdeformationen entgegen. Die ökonomische Gleichberechtigung der Geschlechter habe auch eine "familiale Demokratisierung und Liberalisierung" bewirkt, die patriarchale Dominanz des Vaters sei "immer weniger" zu beobachten gewesen, berichtet Starke.
Offensichtlich hat diese "familiale Demokratisierung" die charakterliche Entwicklung der Kinder positiv beeinflußt. Horst-Eberhard Richter und Elmar Brähler haben 1995 1.000 ostdeutsche Familien befragt und die Ergebnisse mit den Antworten von 2.000 westdeutschen Familien verglichen: "Geradezu frappierend ist, wie positiv die Ostdeutschen auf ihre Erziehung im Elternhaus zurückblicken, obwohl die Meinung grassiert, daß die Ostdeutschen in ihrer Kindheit durch Krippenerziehung und Berufstätigkeit beider Eltern nicht viel familiäre Geborgenheit genossen haben könnten... Die empirischen Ergebnisse zeigen ein ganz anderes Bild: Was immer man in der Erziehung von den Eltern erfahren und bekommen hat, klingt im Osten freundlicher als auf der westlichen Seite... Demnach werden die Eltern als warmherziger und toleranter beschrieben: Sie haben die Kinder näher an sich herangelassen, sie weniger bestraft, weniger geschlagen, weniger beschämt, mehr unterstützt und haben diese weniger mit ehrgeizigen Forderungen gequält. Den reglementierenden Eingriffen des Staates zum Trotz scheint sich die Familie für die Kinder im Osten als Stütze besser bewährt zu haben, als oft unterstellt wird. In der Familie hatte sich anscheinend vielfach eine hermetische private Gegenkultur entwickelt, die den Kindern positive emotionale Erfahrungen vermittelte. Deren Verinnerlichung dürfte die nun im ostdeutschen Selbstbild vorgefundenen Merkmale von mehr Offenheit, Gefühl und Weichheit begünstigt haben."
 

Die Wende


Wie gezeigt, wirkten im kollektiven Unbewußten der DDR-Gesellschaft zwei antagonistische Kräfte: Einerseits Tendenzen zur massenhaften Heranzüchtung des autoritären Charakters einschließlich aller Sekundärtugenden, die das Bild des "häßlichen Deutschen" ausmachen: Obrigkeitshörigkeit, Ordnungswahn, Arbeitswut, Rigidität. Andererseits richtete die emotionale Geborgenheit in den 'demokratisierten' Familien die Kinder wieder auf, und eine relativ unverkrampfte Sexualität verhinderte einen Triebstau, der auf eine Entladung für Volk und Führer gedrängt hätte.
Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik sind die positiven Faktoren verschwunden, das negative Erbe der DDR wurde freigesetzt. Zwar hat sich die Sexualität der in der DDR Sozialisierten "wendestabil" gezeigt (Starke) -- was, neben der genossenen antifaschistischen Bildung, einer der Gründe für ihre größere Resistenz gegen rechte Parolen sein dürfte. Doch in den nachrückenden Ost-Jahrgängen, die erst nach der Wiedervereinigung sexuelle Erfahrungen machen konnten, ist ein dramatisches Rollback zu verzeichnen. Eine im Sommer I998 veröffentlichte Untersuchung der "Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung" -- befragt wurden 1.800 Jugendliche in den alten und 1.200 in den neuen Bundesländern verdeutlicht, daß den Teenagern im Osten sexuelle Ängste weitaus stärker zu schaffen machen als im Westen -- ganz im Unterschied zur Situation vor 1989.
Einige signifikante Ergebnisse der Studie seien angeführt: "Auf den ersten Blick ist zu konstatieren, daß die Jugendlichen in Westdeutschland ihren Altersgenossen in Ostdeutschland, was die Verbreitung der Formen sexueller Kontakte betrifft, um mehr oder weniger Prozentpunkte voraus sind. Während die Unterschiede der Mädchen beim Brustpetting, Genitalpetting und Geschlechtsverkehr nicht auffällig sind, so sind sie bei den Jungen deutlich." Von den 17jährigen Jungen haben im Osten 10 Prozent weniger Geschlechtsverkehr gehabt und sogar 18 Prozent weniger Genitalpetting als ihre Altersgenossen im Westen. -- "Jeder zweite West-Junge erinnert sich bei der Ejakulation an ein positives Erlebnis. Die Jungen aus Ostdeutschland geben hingegen wesentlich seltener an, daß der erste Samenerguß mit angenehmen Gefühlen verbunden war (39 Prozent)." -- "Zum ersten Geschlechtsverkehr sagen 10 Prozent der Ost-Mädchen weniger, daß es für sie etwas Schönes war. Auch hatten 6 Prozent mehr ein schlechtes Gewissen, als es bei den Mädchen in Westdeutschland der Fall war."
Im Gegensatz zur sexuellen hat die autoritäre Kultur der DDR die Wiedervereinigung überdauert: Die vom Sächsischen Kultusministerium in Auftrag gegebene Studie "Jugend '97" ergab mit 47 Prozent Häufigkeit eine Dominanz des befehlend-gefühllosen ("paradoxen") Erziehungsstils -- Lehrer und Vorgesetzte traktieren die ihnen anvertraute Klientel wie vor 1989 mit "Forderungen ohne emotionalen Rückhalt". Schließlich ist die Geschlechterbalance in der Familie zerstört worden: Während sich die Frau in der DDR relativ leicht scheiden lassen konnte und in der Regel dann die Wohnung und die Kinder zugesprochen bekam, befindet sie sich seit der Wiedervereinigung in stärkerer ökonomischer und rechtlicher Abhängigkeit vom Mann.
Damit liegen wieder alle Voraussetzungen vor, die Fromm und Reich für den massenpsychologischen Vormarsch von Autoritarismus und Faschismus genannt haben: eine starre Über-Ich-Bildung in der patriarchalen Familie, die Verstärkung dieses Über-Ichs durch gesellschaftliche Disziplinierung, die mangelnde sexuelle Befriedigung. Eine Strategie gegen rechts, die diesen massenpsychologischen Prägungen nicht Rechnung trägt, ist zum Scheitern verurteilt.

Jürgen Elsässer in: Kursbuch Nr. 134 Dezember 1998