Wer ist das - der "häßliche Deutsche"?
Sollte ihm diese Lektüre unterkommen, wird er sich, wo immer er auch sei, sogleich
wiedererkennen - denn obwohl millionenfach individualisiert, reagiert er doch auf
die Vergangenheit mit der gleichen kollektiven Verdrängungsideologie:
"Es waren ja gar keine sechs Millionen Juden, die umgebracht wurden"
- der Völkermord an den Juden im deutschbesetzten Europa ist für
ihn vor allem eine Frage der Zahl, der Quantität. Die Logik des "häßlichen
Deutschen": je niedriger diese Ziffer wäre, des beruhigter wäre er.
"Die anderen haben auch Verbrechen begangen"
- Opfer anderer Unmenschlichkeitssysteme werden zu Kompensationsobjekten für
das eigene schlechte Gewissen - Ermordete entsetzen nicht mehr, sie trösten.
"Die Konzentrationslager waren keine deutsche Erfindung, sondern
eine britische im Kampf gegen die Buren Südafrikas"
- vorgegebene Erkenntnis weit zurückliegender Ereignisse in zehntausend
Kilometer Entfernung und in einem fremden Land, bei gleichzeitiger Beharrung auf
Unkenntnis der eigenen Geschichte im eigenen Land zu seinen Lebzeiten:
"Wir haben nichts gewußt und konnten nichts dagegen machen"
- wogegen wollte der "häßliche Deutsche" etwas
machen? Gegen das, was er nicht gewußt hat?
"Die Todesstrafe gehört wieder eingeführt!"
- und zwar für Taximörder und Terroristen, nicht aber für
die NS-Verbrecher vor deutschen Schwurgerichten. Dafür lautet das Motto des
"häßlichen Deutschen":
"Es muß doch mal vergessen, es muß doch mal ein
Schlußstrich gezogen werden"
- wobei er genau sortiert: KZ und alles wofür der Begriff ein Synonym
ist - vergessen; die verlorenen deutschen Gebiete jenseits der Oder/Neiße-Linie
- nicht vergessen! Der "häßliche Deutsche" ist der hartnäckige
Erinnerer.
"Hitler hat nicht nur Schlechtes, er hat auch Gutes geschaffen,
zum Beispiel die Autobahnen"
- noch nach dreißig Jahren völliger Informationsfreiheit
über den als System undifferenzierbaren NS-Verbrecherstaat mit seinem Führerprinzip
beharrt der "häßliche Deutsche" auf der Zweiteilung in einen
"guten" und einen "bösen" Hitler. Das äußert
sich auch an einem anderen Affekt:
"Unter Hitler herrschten jedenfalls Zucht und Ordnung, da konnte man wenigstens
nachts ruhig auf die Straße gehen"
- daß an einem einzigen Tag oft genug auch in einer einzigen Stunde,
in einem der zahlreichen Konzentrationslager des Dritten Reiches allein schon mehr
Menschen aus politischen und rassischen Gründen ermordet wurden, als es in
der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung Morde (mit ganz anderem
Charakter und Ursachen) gegeben hat, das kommt dem "häßlichen Deutschen"
überhaupt nicht in den Sinn. Auf den Staat selbst als kriminelle Energie angesprochen,
erwidert er ebenso stereotyp wie spontan: "Das ist etwas ganz anderes"
- die Reaktion eines moralischen Wracks.
Die kollektiven Affekte gegenüber der Vergangenheit sind nur der
Ausschnitt einer nichtreformierbaren Mentalität mit offensichtlichem Massencharakter,
der sich vor allem und am ungehemmtesten in der Rubrik "Leserbriefe" auf
den Seiten der veröffentlichten Meinung niederschlägt. Die Wertvorstellungen
des "häßlichen Deutschen" sind nicht die des Jahres 1979, sondern
1939. In meinen Augen ist er deshalb als Zeitgenosse eine optische Täuschung,
gleich, welcher Generation er angehören mag.
Ich halte den "häßlichen Deutschen" aber auch im ethischen,
nicht im physischen Sinne des Wortes - als Mensch für eine optische
Täuschung. Hinter der Unbelehrbarkeit der kollektiven Affekte steht die Identifikation
mit den herrschenden Ideen einer deutschen Geschichtsepoche (mit fließenden
Grenzen zwischen Preußentum, Wilhelminischen und Alldeutschen Imperialismus
und Drittem Reich), deren Enthumanisierungsdruck bis in unsere Tage hinein wirkt.
Für mich besteht kein Zweifel, daß die unkritische Übernahme der
Nazi-Ideologie samt ihrer historischen Vorstufen die menschliche Substanz eines
beträchtlichen Teils der alten und älteren Generationen zerstört
hat. Natürlich beschränken sich Ansichten wie diese keineswegs nur auf
Angehörige und Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland, sondern begreifen
jene in der Deutschen Demokratischen Republik mit ein - der Unterschied besteht
nur darin, daß hier der Mensch der demokratischen, dort der sozialistischen
Nächstenliebe über den häßlichen Deutschen" gebreitet
worden ist.
Theodor Heuss hat einmal von "Kollektivscham", statt "Kollektivschuld",
gesprochen. Wenn es stimmen sollte, daß die gigantische Verdrängungsleistung
des "häßlichen Deutschen" gegenüber der Hitlervergangenheit
tatsächlich ursprünglich mal Scham, also ein moralischer Antrieb, war,
dann ist es doch ebenso wahr, daß diese Verdrängung ihre Initialzündung
im Verlauf von mehr als drei Jahrzehnten längst vergessen und sich bis in die
Versteinerung hinein völlig verselbständigt hat.
Ich bin immer, ohne je zu schwanken, ein Anhänger der Kollektivschuld-These
gewesen. Nicht in dem Sinne, wie die Demagogen der Kollektivunschuld-These sie mißinterpretieren
wollen, nämlich daß Kollektivschuld unter Hitler auch den deutschen Säugling
in der Wiege, ja das Embryo im Mutterleib betreffe (schamloser Versuch, den Sachverhalt
zu trüben), sondern in diesem: die überwiegende Mehrheit der damals von
ihrem Lebensalter her verantwortlichen Deutschen, und hier spreche ich als historischer
Augenzeuge, war eindeutig pronazistisch, sie hat mitgemacht, und nichts hätte
ihr ferner gelegen als Widerstand - er ist bezeichnender Weise beim "häßlichen
Deutschen" noch heute verpönt.
In diesem Sinne also, bezogen auf bestimmte Altersstufen, kann es überhaupt
kein Zweifel an der Kollektivschuld und -verantwortlichkeit der damaligen Deutschen
geben. Hitler hat sich auf sie verlassen, und er konnte es, wie die Geschichte gezeigt
hat.
Ebenso offen, wie ich mich zur Kollektivschuld-These bekenne, gebe ich zu: wenn
mein persönliches Schicksal nach der Befreiung von der Lernfähigkeit der
von ihrem Lebensalter her für Hitler verantwortlichen Generationen abhängig
gewesen wäre, so wäre ich längst emigriert. Mich hat hiergehalten,
was Karl Jaspers einmal treffend als "die glückliche Einschränkung
unserer Souveränität" bezeichnet hat.
Das heißt hier, weil Deutschland geteilt ist, und maße mir an, zu behaupten:
diese Wahrheit gilt für viele der wenigen Juden, die sich auf dem Territorium
der Bundesrepublik Deutschland (und der Deutschen Demokratischen Republik) befinden
- sie sind hier, geblieben oder zurückgekommen, weil Deutschland keine selbstständige
Großmacht mehr ist. Ein einheitliches Deutschland, gegen das Italien ein Säugling,
England ein Liliputaner und Frankreich ein Zwerg wären? Die Summe meiner Erfahrungen
ist viel zu sehr von der unheimlichen Kontinuität des "häßlichen
Deutschen" und seiner Verbreitung geprägt, als daß mir diese Vorstellung
nicht kalte Schauder den Rücken herunterlaufen ließe.
Dazu kommt, daß sich in meinen Augen ein professioneller, von der Nazi-Ideologie
her entscheidend geprägter, also undemokratischer und inhuman motivierter Antikommunismus
bestätigt sehen will: "In diesem Punkte, seinem Antibolschewismus, hatte
Hitler also recht!"
Jeder kann sich selbst die Antwort geben, wieviel Vertrauen eine Demokratie in die
Anhänger eines ebenfalls totalitär bestimmten Antikommunismus haben kann
- nämlich überhaupt keines. Ein gnädiges Schicksal hat der Bundesrepublik
bisher die Probe aufs Exempel erspart.
Der "häßliche Deutsche" - er ist mein, er ist das Problem.
(...)
Die Gesellschaft der Bundesrepublik muß wissen, daß Juden unter ihr
sich fragen, wie es kommt, daß der Todfeind von gestern, sei es im altem,
sei es in neuem Gewand, in Gestalt der betagteren oder der jüngeren Generation,
auf dem Territorium der zweiten deutschen Demokratie sein Haupt so frech erhebt
- haben sich die NS-Anhänger doch selbst am überzeugensten als notorische
Feiglinge ausgewiesen!
Die überlebenden Opfer brauchten nicht einmal ein überdurchschnittliches
Erinnerungsvermögen zu haben: nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes war
Feigheit quer durch die ganze Skala von Schuld und Mitschuld, Verantwortung und
Mitverantwortung so überwältigend offenbar, so massenhaft schäbig,
so grauenhaft einhellig, daß sich dieser Eindruck sogar den vergeßlichsten
Naturen eingeprägt hätte. Niemand wollte Nazi, wollte dabei gewesen sein
- für eine kurze Weile bestand das Deutsche Volk ausschließlich aus Hitlergegnern.
(...) Die Jugend von heute hätte sie damals sehen, hätte sie erleben sollen,
all diese früheren Anhänger, Befürworter, Großsprecher, Nutznießer,
Beschöniger, Mitläufer, Denunzianten und Mörder - es hat in der Geschichte
kein Beispiel so schamloser Selbstcharakterisierung gegeben wie das deutsche.
Verwunderlich ist an dieser Feigheit nichts, sie liegt im Wesen der Naziideologie.
Besonders offenkundig wurde das übrigens an Mitgliedern des Vernichtungsapparats
selbst. Der Massenmord an Millionen wehrloser Frauen und Kinder sowie waffenloser
Männer durch schwerbewaffneter Schergen, der industrielle Fließbandmord,
wäre ohne diese Art Feigheit überhaupt nicht denkbar - nur Feiglinge konnten
so morden! Die um Gnade winselnden SS-Männer bei den zunächst erfolgreichen
Häftlingsaufständen der Vernichtungslager Treblinka und Sobibor im August
und November 1943 runden hier nur ein unumkehrbares Bild ab.
Die Bundesrepublik Deutschland aber wird sich fragen müssen, was sie falsch
gemacht hat, daß die Anhänger einer notorischen Feigheitsideologie heute
längst wieder "Mut" gefaßt haben, denn stark fühlen sie
sich nur dort, wo sie Schwäche wittern, frech werden Nazis nur unter den Bedingungen
der Risikolosigkeit - Überzeugungstäter von rechts unter Bedingungen,
die nicht die ihren sind, hat man in Deutschland allemal mit der Lupe suchen können.
Es gibt keine politische Untat, die auf dem Boden der Bundesrepublik den Ermordeten
und den überlebenden Opfern nicht angetan wäre - die Jahrgänge der
"Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung" widerspiegeln eine fast lückenlose
Chronik: von den periodisch wiederkehrenden Schändungen jüdischer Friedhöfe;
der Komödie der Entnazifizierung und der Inflationierung neonazistischer Druckerzeugnisse
über die Gründung neonazistischer Parteien bis hin zu den skandalösen
Minimalurteilen gegenüber NS-Verbrechern, die einen klaren Aufschluß
zulassen, wieviel diesen Gerichten an Tagen oder auch nur Stunden Haftzeit ein ermordeter
Jude wert war.
(...)
Auf die Frage, warum die braune Vergangenheit so massiv ihr Haupt erheben kann,
gibt es nur _eine_ Antwort: weil die zweite deutsche Demokratie dem Feind von rechts,
anders als dem Feind von links, nie _militant_ entgegengetreten ist _ Januskopf
Bundesrepublik!
(...)
Die frühe Bestätigung des "häßlichen Deutschen" durch
den Gang der Geschichte begann mit dem Zerfall der Anti-Hitler-Koalition fast unmittelbar
nach der militärischen Zerschmetterung des Dritten Reiches. Die Neuformierung
der Sieger in die globale Rivalität der beiden Supermächte USA und UdSSR
und ihre Hemissphären schuf eine Situation, die für die Rehumanisierung
einer von der Nazi-Ideologie schwerinfizierten Bevölkerung nur als Katastrophe
bezeichnet werden kann - ganz plötzlich sahen sich die Deutschen als Partner
gegnerischer Bündnissysteme umworben, fand sich das geteilte Land in einer
Rolle, die für erzieherische Wirkungen denkbar ungünstig war. (...) Die
Deutsche Demokratische Republik, indem sie, allerdings nach einer rigorosen Zerschlagung
des alten nazistischen Staats- und Verwaltungsapparats, sich zu einem immer schon
antifaschistischen Territorium ausrief und damit die Bewältigung der Vergangenheit
unter den Teppich einer offiziell verordneten Polithaltung kehrte, hinter deren
Fassade nichts wirklich und schmerzhaft ausgestanden ist; die Bundesrepublik Deutschland,
indem Konrad Adenauer, ihr erster Kanzler, das 131er Gesetz schuf - von wenigen
Ausnahmen abgesehen, wurde fast der gesamte Beamten- und Verwaltungsapparat der
Hitlerzeit samt seinem hierarchischen Status quo übernommen. Das heißt:
die ehemaligen Diener der totalitären Staatsbürokratie bildeten das administrative
Rückgrat auch des demokratischen Staates, eingeschlossen Justiz, Polizei, Lehrerschaft
- von dieser Entscheidung wird die Bundesrepublik personell noch bis in die achtziger
Jahre hinein gezeichnet bleiben.
(...) Der "häßliche Deutsche" und sein organisierter und unorganisierter
Anhang sind aber noch in anderer Beziehung perspektivlos: Die Welt wird sich nie
ein zweites Nazi-Deutschland gefallen lassen!
Deshalb hätte der "häßliche Deutsche" als Wahlpotential
nur bis zu einer bestimmten meiner Meinung nach ziemlich niedrigen, Prozentschwelle
Erfolgsspielraum. Alles, was darüber läge, würde nur bestätigen,
wie unvergessen Hitler und sein Angriffskrieg wirklich sind. Mit anderen Worten:
Der "häßliche Deutsche" kann als in seinem Sinne erfolgreiches
Wahlpotential der Bundesrepublik nichts als die Aussicht, das ungeheure Erinnerungsvermögen
des ehemals deutschbesetzten Europa zu mobilisieren, wenn nötig, bis zur Intervention
von NATO-Bundesgenossen. Ohne selbst zu triumphieren, könnte der häßliche
Deutsche auf diese Weise immerhin der zweiten deutschen Demokratie den Garaus machen.
Ich bleibe, weil ich meinen persönlichen Anteil daran haben will, diese destruktivste
aller destruktiven Möglichkeiten des "häßlichen Deutschen"
verhindern zu helfen. Ich bleibe, weil ich mir vor, bei und nach der Befreiung immer
wieder geschworen habe: Diesen Feind läßt du nicht, bis er unschädlich
ist.
Militärisch ist er endgültig geschlagen, ideologisch lebt er wie eh und
je.
Der "häßliche Deutsche" - er ist mein, er ist das Problem.
aus: RALPH GIORDANO Das Problem der häßliche Deutsche
in: Henryk M.Broder und Michel R.Lang Fremd im eigenen Land
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt