218: Überwachen und Strafen

Der kleinliche Streit über logische Widersprüche oder juristische Spitzfindigkeiten in der Begründung des Karlsruher Urteils zum Paragraphen 218 übersieht deren wahren Charakter: "Es ist der utopische Entwurf einer perfekten, lückenlosen, einfühlenden, auf Zwang verzichtenden und deshalb erfolgreichen Überredung von Frauen, exakt das Gegenteil zu tun, was sie wollen."
Selten zuvor ist dem Bundesverfassungsgericht soviel Unrecht getan worden wie jüngst in den Reaktionen auf sein Abtreibungsurteil. Einen "Rückfall ins Mittelalter" nannte es Regine Hildebrandt. Das geht zu weit. Nicht nur lag dem 2. Senat der Gedanke fern, der Kultur der "weisen Frauen" mit ihren tradierten und bewährten Kenntnissen der Geburtenverhinderung zu neuer Blüte zu verhelfen (allenfalls könnte dies ein unbeabsichtigtes Resultat ihrer Bemühungen sein), noch ist sein ausgefeiltes Elaborat mit den plumpen Foltervorschlägen der "Hexenhammer"-Autoren Sprenger & Institoris aus dem Jahr 1487 auf eine Stufe zu stellen. Wenn sich überhaupt ein historischer Vergleich anbietet, so am ehesten der mit jenem Jahrhundert der Aufklärung und beginnenden Moderne, in dem Psychatrie und das Gefängnis erfunden wurden, in dem - wie von Foucault beschrieben - an die Stelle der öffentlichen Marterung des Übeltäters seine Disziplinierung zum Zwecke der Besserung trat, der totale staatliche Zugriff auf Körper, Kopf und Herz.
Dies gegen Ende des 18.Jahrhunderts erfundene und im wesentlichen bis heute gültige Konzept staatlicher Machtausübung, das nicht primär auf repräsentative Brandmarkung und Abschreckung, sondern auf die individuelle Einsicht der Delinquenten zielt, als verbesserungs- und ausbaufähiges Fundament zu nutzen - solche Überlegung hat das Hohe Gericht seinem Urteil vermutlich zugrundegelegt. Der inbrünstige Wunsch, die sehnsüchtige Gier nach Macht, nach Kontrolle, nach der totalen Verfügung über Kopf und Körper einer jeden einzelnen Frau spricht wahrhaftig aus jeder Zeile der rund 2000 Seiten umfassenden Urteilsbegründung. Wer je sich kleinlich über gewisse logische Widersprüchlichkeiten oder juristische Verklausulierungen in diesem Text mokierte, hat dessen wahren Charakter übersehen: Es ist der utopische Entwurf einer perfekten, lückenlosen, einfühlenden, auf Zwang verzichtenden und deshalb erfolgreichen Überredung von Frauen, exakt das Gegenteil zu tun, was sie wollen.
Eine Utopie - aber auch ein praktisches Programm, das dem Heer "lebensschützender" Spitzel, Pfuscher und Pfaffen eine Menge nützlicher Optionen eröffnet. Sieht man einmal vom "ideologischen Staatsapparat" Schule ab, der die Funktionalisierung seiner Objekte eher durch Disziplinierung und Zurichtung denn durch therapeutische Eingriffe ins Seelenleben ins Werk setzt, so hat es wohl kaum je ein vergleichbar ausgefeiltes Konzept systematischer psychologischer Bearbeitung eines relevanten Bevölkerungsteils auf staatlichen Geheiß und unter staatlicher Kontrolle gegeben. Orwells Entwurf mag dem des Verfassungsgerichts noch am nächsten kommen; er krankt jedoch an geringerer Lebensnähe und mangelnden Ausführungsbestimmungen. Ein Vorwurf, den man dem Karlsruher Urteil nicht machen kann.
Bis ins kleinste Detail hat das Gericht in perfiden Perfektionismus das Verfahren festgelegt, das abtreibungswillige Frauen künfitg zu durchlaufen haben. Profitiert hat es dabei von der Phantasie und praktischen Erfahrung der rechten "Lebensschützer"-Szene und ihrer Lobby in Ärzte und Richterschaft, die bekanntlich nicht nur durch Fachgutachten bei der vom Gericht im Dezember letzten Jahres durchgeführten Anhörung, sondern auch im entscheidungstragenden 2. Senat selbst personell vertreten war. Von den organisierten "Lebensschützern" stammt auch die alte Forderung nach Abschaffung der Krankenkassenfinanzierung von Abtreibungen, die nach einer Geldstrafe für abtreibenden Frauen also, wie sie nun faktisch beschlossen wurde. Aller Voraussicht nach wird es - zumindestens läßt das Urteil diesen Spielraum offen - nach der Neuregelung wieder eine Notlagenindikation geben, um die dann alle Frauen betteln dürfen, die nicht selbst zahlen können oder wollen. Das bedeutet, unter dem Etikett "Fristenregelung" wird faktisch das alte Indikationenrecht weiterbestehen. Während aber dieser Aspekt des Urteils - die Reinstallierung des Klassenparagraphen 218 durch Erhebung der Entscheidungsfreiheit zur reinen Kostenfrage - vor allem denjenigen Kritikerinnen besonders hervorgehoben wird, die Abtreibung traditionell in erster Linie als Folge-"Problem" sozialer Not und keineswegs als eine von zwei möglichen und gleichwertigen Entscheidungen über eine Schwangerschaft betrachten, sind andere folgenreiche Bestimmungen des Urteilsspruchs in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen worden.
So entscheidet ab sofort allein der Berater darüber, wann das sogenannte "Beratungsgespräch" als abgeschlossen gelten kann. Bis dahin hat er das Recht - und die Pflicht -, die zwangsweise zu Beratende beliebig häufig zu sich zu bestellen, um mit ihr gemeinsam ihre Notlage eingehend zu erörtern und sie zum Kinde zu ermutigen. Eine entzückende Idee, die zweifelos auf der fundierten, langjährigen Erfahrung einiger katholischer Beratungsstellen basiert und vermutlich demnächst Schule machen wird. Denn damit ist den Beratern ein probates Machtmittel gegen solche Frauen in die Hand gegeben, die sich als widerspenstig erweisen und sich womöglich weigern, ihr Seelenleben auszubreiten, oder die sich gar uneinsichtig zeigen.
Zum erweiterten Repertoire des Zwangsberaters gehört künftig auch die Instrumentalisierung aller der Frau nahestehender Personen, sofern sie "auf den Willen der Frau Einfluß nehmen können". Natürlich gilt es zu sondieren, in welcher Richtung. Wenn die Frau nämlich jemanden zum Beratungsgespräch mitnimmt, dessen Einfluß sich "schädlich" im Sinne des Verfassungsgerichts auswirkt, so ist sie aufzufordern, noch einmal zu erscheinen - allein. Zeichnet sich hingegen ab, daß in ihrem "familiären Umfeld" jemand existiert, der ganz gern einen kleinen Schreihals in der Familie sähe, so gilt es, diese Person zum Beratungsgespräch hinzuzuziehen - beim nächsten Termin natürlich. Wenn sich das ganze Umfeld ganz verstockt zeigt, dann gibt es immer noch die Möglichkeit einer Kriminalisierung: Eine Frau, die ihrer schwangeren Freundin zur Abtreibung rät, kann sich strafbar machen. Dasselbe gilt etwa für eine Mutter, die - im Rentenalter und bei bester Gesundheit - sich weigert, das Baby ihrer Tochter tagsüber zu betreuen, damit diese trotz Mutterschaft ihre Ausbildung fortführen kann.
Das ist kein Horrorszenario, sondern Inhalt der verfassungsrichterlichen Urteilsbeggründung: Demnach machen solche Personen sich strafbar, die eine Frau zum Schwangerschaftsabbruch "drängen" oder ihr "den ihnen zuzumutenden Beistand", dessen sie aufgrund ihrer Schwangerschaft bedarf, "in verwerflicher Weise vorenthalten". Dreimal darf man raten, wen dies Verdikt eher treffen wird: den Chef oder die Mutter der betroffenen Frau.
Nicht eine Ende der Kriminalisierung ist also Folge des Urteils, sondern deren potentielle Ausweitung auf einen erheblich vergrößerten Personenkreis. Wer behauptet, wenigstens die abtreibende Frau selbst sei von der Strafverfolgung künftig ausgeschlossen, lügt ohnehin. Deren Strafbarkeit tritt nur dann außer Kraft, wenn ein Zwangsberatungsgespräch erfolgreich (sprich: bis zur Aushändigung der erfoderlichen Bescheinigung) überstanden wurde. Frauen, die nach Holland fahren, können weiterhin und womöglich verstärkt mit gynäkologischen Grenz-Nachsorge-Untersuchungen rechnen, wie besonders eifrige Grenzschützer sie schon in der Vergangenheit veranlaßt haben. Und Verfahren á la Memmingen gehören nach wie vor zu den Optionen des künftigen Gesetzes: Wer, wie seinerzeit Dr. Theissen, das Selbstverständliche tut, einen Abbruch vornimmt, ohne Moralpredigten zu halten oder nach einer Beratungsbescheinigung zu fragen, macht sich strafbar. DIe Frau natürlich auch.
Doch dem Verfassungsgericht soll Gerechtigkeit widerfahren: Ungerecht ist zum Beispiel die vielfach geäußerte Behauptung, es treibe die Frauen wieder den Engelmacherin in die Arme. Denn gerade darauf, daß dies nicht geschieht, hat es besonderen Augenmerk gelegt. Das ist auch glaubhaft, schließlich gilt es zu verhindern, daß eine Schwangere sich womöglich durch Flucht in die Illegalität der staatlichen Fürsorge entzieht. Denn dort und nur dort gehört sie hin: unter die Augen des gestrengen Vaters Staat, um seine Belehrung in Empfang zu nehmen und sich zu eigen zu machen. Dies zu erreichen, war dem 2.Senat so wichtig, daß er sich in Gegensatz zu dem Urteil des 1.Senats von 1975 begab. Der hatte noch offensiv vertreten, daß die mit der Strafandrohung verbundenen Risiken für ihre Gesundheit und ihr Leben in Kauf zu nehmen seien: der Anspruch, eindeutig festzulegen, "was für den einzelnen Recht und Unrecht ist", dürfe nicht "deswegen aufgegeben werden, weil das an sich achtenswerte Ziel verfolgt wird, andere Leben (gemeint ist das Leben von Frauen, V.K.) zu retten".
Solch offenen Zynismus leistet man sich heute nicht mehr. Bemerkenswert ist die ausführliche Begründung des Gerichts, weshalb es eien Fristenregelung unter den entsprechend verschärften Bedingungen akzeptiere. Es handelt sich um eien Methodenabwägung unter reinen Effizienzgesichtspunkten, bei unveränderten Prämissen. Da nämlich, wie den ihre Lebenserfahrung sagte, eine Schwangerschaft "in ihrer Frühphase oft nur der Mutter bekannt" ist und sich der Staat so "vor der Aufgabe gestellt (sieht), Leben zu schützen, von dessen Vorhandensein er nichts weiß", sind "die Erfahrungen mit allen bisherigen strafrechtlichen Regelungen wenig ermutigend". Das leuchtet ein. Tatsächlich sind bislang illegale Abtreibungen hauptsächlich dann aufgefolgen, wenn eine Frau am gefischten Eingriff elend krepiert ist oder - moderne Variante - ein Frauenarzt vom Finanzamt beim Schummel erwischt wurde. Und, einmal aus der Logik der "Lebensschützer" gedacht, was nützt schließlich eine aufgeflogene illegale Abtreibung, wenn sie schon stattgefunden hat? Was also tun?
Da das Gericht zu der "Einschätzung" gelangt ist, daß der Staat "eine bessere Chance" zur Verhinderung des Abbruchs hat, "wenn er mit der Mutter", die keine Mutter werden will, "zusammenwirkt", sucht er den Dialog mit ihr. Nachdem er aufgrund der Erfahrungen mit der Zwangsberatung seit 1976 erkannt hat, daß der Zwnag zur "Indikationsfeststellung eine ungünstige Vorwirkung auf die Beratung ausübt", verzichtet er auf dieses Ritual und konzentriert sich darauf, von der Frau die "notwendige Offenheit" und "unbefangene Mitarbeit" einzufordern. Und weil es nicht so einfach ist, in jedem Fall die geforderte freiwillige "Mitwirkung" von ihr zu erlangen, müssen die Berater "über entsprechende Fähigkeiten verfügen". Ausschließlich "um seine Wirksamkeit willen" darf der Staat nach dieser Argumentation sein Konzept zum "Schutz des ungeborenen Lebens" auf die "Letztverantwortung der Frau" ausrichten. Wenn - was zu erwarten ist - dieses groß angelegte Experiment nicht den gewünschten Erfolg - also niedrige Abtreibungszahlen - mit sich bringt, kann und muß auf altbewährte Strafrechtsfassung des Paragraphen 218 oder Schlimmeres zurückgegriffen werden. Auch dies ist eine Option für die Zukunft im Sinne der "Lebensschützer".
Sage niemand, hier seien Stümper am Werk gewesen. Das 218-Urteil ist brilliant in seinem zielorientierten Pragmatismus und seiner flexiblen Anwendbarkeit. Nicht nur inhaltlich, auch sprachlich ist es absolut auf der Höhe der modernisiert gewendeten "Lebensschützer" Terminologie. Die noch im 75er-Urteil enthaltenen Ausfälle gegen Frauen, die "ohne erachtenswerten Grund" abtreiben, weil sie "nicht willens sind", den mit der Austragung der Schwangerschaft verbundeneen Verzicht und die natürlichen mütterlichen Pflichten zu übernehmen", hat man sich diesmal weitgehend verkniffen. Statt dessen ist penetrant die Rede von den vorgeblichen Folgeproblemen", dem "Zwiespalt" und der "Verantwortung" der Frau, die keinesfalls "Objekt" der Beratung sein dürfe. Die wiederum sei nicht etwa als "von außen kommende Fremdbestimmung" oder gar als "Manipulation und Indoktrination" konzipiert, sondern müsse "ergebnisoffen" sein. Bei soviel fürsorglicher Zurückhaltung muß es doch möglich sein, Frauen effizient zum Kinderkriegen zu überreden. Hofft das Gericht.
Um diesem Ziel in der alltäglichen Beratungspraxis auch die nötige Durchschlagskraft zu verleihen, setzt es gekonnt auf die Kombination von Korrumpierungsangeboten, Unterwerfungsformen und drohender Zerschlagung bestehender Infrastrukturen. Alle existierenden Beratungsstellen müssen sich einem erneuten Zulassungsverfahren unterziehen, bei dem dann der ideologische Kotau in Form verfassungegemäßer Beratungsleitlinien erforderlich ist. Die Familienplanungszentren der Pro Familia, die Beratung und Abbruch unter einem Dach durchführen, sollen zur räumlichen Trennung ihrer Angebote gezwungen werden. Beraterinnen und Berater müssen ihre Qualifikaiton im Sinne des Urteils nachweisen. Es werden sich genügend Fachkräfte finden.
Schließlich haben sich auch längst genügend Kronzeuginnen gefunden, dem Urtei die "feministische" Legitimation zu verleihen. Alice Schwarzer feierte es als "halbe Niederlagge und halben Sieg". Das Ohr ganz dicht am Tisch der Verfassungsrichter, weiß sie nämlich, es hätte schließlich noch schlimmer kommen können. Daß es dann doch nicht schlimmer kam, ist deshalb ein "Fortschritt", wenn auch ein "relativer". Relativ im Verhältnis zum Rückschritt ist Scheiße Gold.
Wenn auch die armen Schwestern im Osten ein bißchen leiden müssen, so bringt das Urteil für Schwarzer doch eine "Verbesserung der westlichen Indikationslösung von 1975". Vielleicht hat sie es einfach nicht gelesen. Vielleicht ist es ihr auch egal, daß die allermeisten Frauen aus finanziellen Gründen weiterhin auf eien Notlagenindikation angewiesen sein werden und anschließend ein verschärftes Beratungsverfahren durchlaufen müssen. Darin eine Verbesserung zu erkennen, ist schon eine bemerkungswerte gedanklich Leistung.
Ganz gleich aber, wie das Urteil ausgefallen wäre - Alice Schwarzer hätte es in jedem Fall schönreden müssen. Schließlich hatte sie selbst 1986 mit der "Emma" eine Kampagne für eine Verfassungsklage gestartet, als Mittel, wohlgemerkt, um den Paragraphen 218 abzuschaffen, wobei sie Einwände bezüglich des Realitätsgehalts ihrer Strategie mit Verratsvorwürfen beantwortete. Da aber der Gang zum Verfassungsgericht nun mal zum Allheilmittel erhoben wurde, darf dessen Urteil nicht mehr als Niederlage zur Kenntnis genommen werden.
Eifrig als Nebelwerferin betätigen sich auch die Juristinnen Monika Frommel und Helga Wullweber. Mehr auf die naßforsche Art suchen sie den Richterspruch als "Rückzug aus der Affaire" und als "letztes Auftrumpfen" angesichts der verlorenen "Macht im Rücken" zu verharmlosen. Zweifelos fehlt dem Gericht die gesellschaftliche Mehrheit in dieser Frage, aber offenkundig verfügt es über die ungebrochene Macht sich über diese Tatsache hinwegzusetzen. Was also bringt erwachsene und engagierte Frauen dazu, zu beschönigen, wo es nichts zu beschönigen gibt.
Mag sein, daß es das Bedürfnis eine Rolle spielt, zur besseren, weil perspektivisch die Oberhand gewinnende Seite der Gesellschaft zu gehören, und sei es nur fiktiv. Jedenfalls argumentieren beide aus dem Blickwinkel der gutsituierten Mittelstandsfrau, die sich selbst zu helfen weiß und den armen mittelosen Schwestern uter die Arme zu greifen gern bereit ist. Wullweber freut sich, daß Abtreibung "endlich Privatsache" geworden sei, und "Privatsachen kosten" nun mal. Das ist einer Citoyenne, die ohnehin keine Lust hat, "Vater Staat anzuheulen", die Sache "wert". Ach ist das schön! Zwar werden ein paar bürgerliche Freiheiten für schwangere Frauen außer Kraft gesetzt, aber wenigstens die Freiheit, selbst zu bezahlen, bleibt ihnen erhalten. Wenn das kein Fortschritt auf dem Weg in die "Civil Society" ist!
Auch die Autorinnen des Kompromiß-Gesetzentwurfs, Uta Würfel und Inge Wettig-Danielmeier, haben mit Dank und Knicks längst Unterwerfung signalisiert. Allzu schwer dürfte ihnen das nicht gefallen sein, denn die Differenzen zwischen ihrem Entwurf und dem Beschluß des Verfassungsgerichts sind nicht qualitativen, sondern nur quantitativen Charakters. Schon bei ihrer Neufassung des Paragraphen wurde als großer Fortschritt gefeiert, was den Namen einer Fristenregelung kaum verdiente. Nicht nur die grundsätzliche Kriminalisierung wäre mit diesem Gesetz erhalten geblieben - und damit die Gefahr eines neuen Memmingen. Auch eien Zwangsberatung im Dienste des "Lebensschutzes" war vorgesehen.
Damit haben sich die Autorinnen des 218-Kompromisses intentional und praktisch auf demselben Boden bewegt wie das Verfassungsgericht. Beide Seiten beziehen sich letztlich positiv auf einen Trend, den der damlige Familienminister Heiner Geißler 1983 mit der Einrichtung der interministriellen Arbeitsgruppe "Schutz des ungeborenen Lebens" eingeleitet hatte. Deren strategischer Ansatz bestand darin, die Bedeutung des Strafrechts in den Hintergrund zu schieben (nicht etwa aufzuheben) und die ideologische Auseinandersetzungg um Abtreibung als "Tötung menschlichen Lebens" zu forcieren. Praktisch konzentrierte sich die neue "softe" Variante auf öffentliche Kampagnen zum Kinderkriegen, "Informationen" über den abgeblich wissenschaftlich erwiesenen Charakter der Leibesfrucht als menschliches Individuum sowie den Ausbau der Zwangsberatung nach Paragraph 218 als Instrument zur Einschüchterung und Produktion schlechten Gewissens.
Der umfaßende Erfolg dieser Kampagne ist abzulesen daran, daß die neu entwickelten Argumentationslinien: die Warnung vor den "seelischen Spätfolgen" einer Abtreibung für die Frau anstelle der Geißelung des weiblichen Egoismus, die Betonung der Verantwortlichkeit der Männer und sachliche Umdeutung des Fötus als "Kind", "Ungeborenes", "Mensch" und "Person" mittlerweile gesellschaftlich hegemonial geworden ist - gelinde gesagt. Nicht nur bei vielen der rechten und faschistischen "Lebensschützer"-Organisationen, sondern auch in sämtlichen Parteien und zum Gutteil bei den dort feministischen engagierte Frauen hat das neue Konzept einschließlich der entsprechenden Terminologie Platz gegriffen. WIe aus der Beratungspraxis berichtet wird, sind auch die abtreibenden Frauen zunehmend verunsichert über die moralische Legitimation ihres Tuns - auch wenn sie sich dadruch nicht vom Abbruch abhalten lassen. Erster praktischer Ausfluß des neuen Trends war Ritat Süßmuths "Beratungsgesetz". Das Verfassungsgericht hat im Prinzip nichts anderes getan, als die darin enthaltenden Maßnahmen aufzugreifen und um einige perfide Ideen zu ergänzen. Der Würfel-Wetting-Danielmeier-Entwurf war lediglich eine gemäßigte Variante desselben Programms.
Als die Krokodilstränen getrocknet waren, haben die Bonner Politikerinnen eifrig angefangen, ihr Gesetz den Vorgaben des Gerichts anzupassen - und sich den heroischen Kampf für die Abtreibungspille gestürzt. Prompt sprangen die Medien hinterher, und nun tummelt sich alles auf diesem Nebenskriegsschauplatz. Ein einzigartiges Ablenkungsmanöver. Als würde die Einführung der RU 486 auch nur irgendetwas ändern. Das ganze aufgeregte Geflatter um diese angeblich soviel schonendere Methode trägt mit der darin enthaltenden Suggestion, eine Absaugung sei gefährlich und schrecklich schmerzhaft, nur dazu bei, einerseits den Vorgang der Abtreibung zu dramatisieren und andererseits von der Frage des Entscheidungsrechts von Frauen abzulenken.
Zurück zum Urteil. Bemerkenswert ist nicht nur, was dor geschrieben steht, sondern auch, worüber man sich ausgeschwiegen hat. Was nämlich fehlt, ist eine Begründung für die lapidare Fortschreibung des geltenden Rechts, wonach Abtreibungen nach eugenischen Indikation keineswegs rechtswidrig sind und auch weiterhin von den Kassen bezahlt werden müssen. Mehr noch: Ein ärztlicher "Kunstfehler" bei einer Abtreibung, der die Geburt eines behinderten Kindes zur Folge hat, ist schadensersatzpflichtig - die Geburt eines nichtbehinderten Kindes dagegen nicht. Eine Erklärung läßt das Gericht auch hier vermissen.
Merkwürdig genug angesichts der weitschweifigen Ausführungen über das "Lebensrecht des Ungeborenen", dem "Menschenwürde zukommt" und das deshalb "vor der Mutter geschützt" werden muß. Bei der Behinderung wird die Menschenwürde außer Kraft gesetzt. Das braucht keine Begründung. Das hat Tradition.
aus: Verena Krüger, Überwachen und Strafen in Konkret 7/93

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Most recent revision: April 07, 1998

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