Eine Insel der Geschichte?
Es versteht sich von selbst, daß die zutiefst inhumane Qualität nationalsozialistischer
Weltanschauung und politischer Praxis eine wertneutrale historische Darstellung
heute ebensowenig wie in den Anfängen der zeitgeschichtlichen Aufräumungsarbeit
nach 1945 zuläßt. Aber die damals gleichsam existentielle Notwendigkeit
und Übermächtigkeit der moralischen Distanzierung, die ein wesentliches
Stück des Selbstverständnisses und der Konsensfähigkeit des neubegründeten
Gemeinwesens Bundesrepublik ausmachte, ließ und läßt sich nicht
unbegrenzt unverändert fortschreiben. Was damals aus elementaren Bedürfnis
an Primärbegriffen weniger zur historischen Erklärung des Nationalsozialismus
als zur Distanzierung von ihm entwickelt wurde, ist zumindest im Bereich der empirischen
Zeitgeschichtsforschung schon seit den sechziger Jahren überwunden worden durch
historische Differenzierung, die diese statuatorischen Begriffe relativierte, deswegen
aber keineswegs allgemeinem Werte-Relativismus Vorschub leistete.
So relativiert es zum Beispiel nicht die Beurteilung der katastrophal falschen und
verbrecherischen Konsequenzen, die der Nationalsozialismus aus der politischen,
sozial-ökonomischen und geistig-kulturellen Krise der Zeit gezogen hat, wenn
man die Gründe für die Krisenängste und das historische Gewicht der
durch sie mobilisierten Kräfte, die hierbei mißbraucht wurden und sich
mißbrauchen ließen, aus authentischen Zeitzeugnissen genauer und gerechter
herausarbeitet als dies bei einer pauschalen politisch-moralischen Betrachtung oft
geschieht. Historisierung des statuatorischen Begriffs von totalitärer Herrschaft
bedeutet aber gerade auch, daß die während der Dritten Reiches entfesselte
Gewaltsamkeit nicht nur einem bestimmten politisch-ideologischen System zugeordnet
wird, das wie eine Art omnipotente Fremdherrschaft die autonomen Kräfte und
Normen der Gesellschaft gänzlich niedergedrückt habe. Sie zwingt vielmehr
dazu, die Verankerung von Gewaltpotentialen auch in der Gesellschaft selbst aufzudecken
und die durch diese Potentiale bedingten desperaten Veränderungswünsche,
die glaubten, sich nur mit Gewalt auf Kosten anderer Gruppen und mystifizierter
Feinde Durchbruch schaffen zu können. Während das statische Bild totalitärer
Herrschaft zu der auch pädagogisch problematischen Vorstellung einer unentrinnbar
perfekten Diktatur führt, die dem einzelnen nur die Wahl gelassen habe zwischen
vollständiger Unterwerfung oder alles riskierender märtyrerhaften Widerstand,
öffnet die historische Differenzierung den Blick dafür, daß es auch
im Dritten Reich durchaus möglich war, auf zumutbare Weise Opposition zu leisten
und zivilen Mut wirksam zur Geltung zu bringen.
Die genauere Erforschung des deutschen Widerstands im Dritten Reich hat dabei deutlich
gemacht, daß der Idealtypus einer politisch-moralischen Fundamentallopposition,
die von keinerlei Konzessionen oder mit den Nationalsozialismus vergleichbaren Denkmustern
beeinträchtigt war, daß ein solcher Idealtypus, mit dem die politische
Bildung so gern arbeitet, in der historischen Wirklichkeit kaum aufzufinden ist.
Statt dessen zeigt sich - um beim Beispiel zu bleiben -, daß die "unreine"
Mischung von Anpassung und begrenzten Widerstand, von prinzipiellen und Interessen-Motivation
solcher Resistenz die Regel darstellt und die eigentliche historisch-menschliche
Wirklichkeit der Anti-Hitler-Opposition ausmacht. Diese historischen Wahrheit verpflichtete
Erkenntnis ist zwar geeignet, die "Heiligkeit" des Widerstands ebenso
aufzulösen wie die reinliche Unterscheidung zwischen dem nationalsozialistischen
und dem - im illegalen Untergrund oder Exil überdauernden - "anderen Deutschland".
Sie ist deswegen aber keineswegs "zersetzend", sondern bringt über
die gerechtere Erkenntnis in vollerem Maße erst die nachvollziehbare Realität
des Historischen und Humanen in die Betrachtung der NS-Zeit ein, sie schafft mit
der Abschwächung monumentaler Leitbilder, die allzu leicht auch zu unpolitischen
moralischem Rigorismus führen können, erst die Voraussetzung für
eine Konkretisierung des Moralischen in seiner real-historischen, das heißt
aber fast immer auch gebrochenen menschlichen Gestalt. Historisierung der NS-Zeit
- infolge des gewachsenen Abstandes mehr und mehr geboten - bedeutet in diesem Sinne
selbst "Bildung", indem sie verhindern hilft, daß man es sich -
intellektuell _und_ moralisch - mit der Hitler-Diktatur zu leicht macht. Sie mutet
dem, der sich mit der NS-Zeit gewissenhaft beschäftigt, gerade zu, die Spannung
zwischen Verstehen und Bewerten auszuhalten.
Die Historisierung der NS-Zeit hat dabei zwangsläufig auch kritisch aufzuarbeiten,
was im Zeichen einer primär legitimatorischen Phase und Motivation der Vergangenheitsbewältigung
zu glatt und vordergründig geleistet wurde. Wie sie veränderten Zugang
zum Grundbegriff des Widerstands zu eröffnen vermag, hat sie gerechterweise
auch einzugestehen, daß zum Beispiel die in der unmittelbaren Nachkriegszeit
aus einer Verteidigungshaltung heraus überstrapazierte Erklärung vieler
"Ehemaliger", sie seien auf ihren Posten geblieben oder in die Partei
eingetreten, um "Schlimmeres zu verhüten", nicht generell als feige
Ausrede abzuqualifizieren ist. Steht doch hinter diesem pädagogisch verpöntem
Diktum, wie immer ehrlich oder unehrlich es im Einzelfall war, tatsächlich
ein breites, auch moralisch ernstzunehmendes Spektrum historischer Verhaltensrealität
im Dritten Reich, ohne die eine authentische Geschichte dieser Zeit nicht geschrieben
werden kann. Denn es war natürlich nicht gleichgültig für die reale
Durchsetzungsfähigkeit des Nationalsozialismus zum Beispiel in einem Theater
wie den Münchner Kammerspielen, ob hier weiterhin Otto Falckenberg als Intendant
trotz mancher Konzessionen, die auch er machen mußte, den Spielplan gestalten,
damit aber auch bestimmte Maßstäbe der Theaterkultur und einen gewissen
Bezirk der Immunität aufrechterhalten konnte oder nicht. Gewissenhafte Historisierung
der NS-Zeit wird dabei freilich ebensowenig ausklammern können, daß das
Verbleiben, Stillhalten oder Mitmachen so vieler ansehlicher Repräsentanten
des alten kulturellen Deutschland in der NS-Zeit in eben dem Maße, wie es
resistent wirkte, auch dazu beitrug, das Hitler-Regime aufzuwerten und zu stabilisieren.
Allgemeiner gesprochen: Gerade weil das Arrangement so zahlreicher Nicht-Nationalsozialisten
mit dem Nationalsozialismus Funktionsunfähigkeit und Wesen des Dritten Reiches
so sehr bestimmte, weil eine solche Fülle von gesellschaftlich-politischen
Abhängigkeiten dabei mitwirkte, paßt das holzschnitthaft vereinfachte
Bild einer einheitlich von oben ausgeübten totalitären Herrschaft so wenig,
auch wenn es so gut korrespondiert mit der oft auch nur bequemen Neigung, einfache
Leerformeln aus der NS-Zeit zu destillieren. Die historisch-empirische Kritik an
der Überstrapazierung des Totalitarismus-Begriffs richtet sich dabei keineswegs
in erster Linie gegen die grundsätzlich durchaus zu bejahende Vergleichbarkeit
totalitärer politischer Ideologien und Systeme und auch nicht nur gegen die
Munitionierung politischer Auseinandersetzungen der Gegenwart aus dem Arsenal der
NS-Geschichte. Sie richtet sich vielmehr vor allem gegen die mit dem Totalitarismus-Begriff
gesetzte Pauschalisierung und Versteinerung eines statischen Bildes politischer
Herrschaft, das der realen Geschichte, den vielfältigen Ambivalenzen, prozessualen
Veränderungen so wenig Raum gibt.
Bei alledem ist nicht zu übersehen, daß der so stark von der differenzierten
Realität abgehobene Begriff totalitärer Herrschaft einen idealen gemeinsamen
Nenner bildete, auf den sich nach 1945 in der Bundesrepublik sehr unterschiedliche
Kräfte und Parteilager bei der Distanzierung von der Nazi-Vergangenheit um
so leichter einigen konnten, als sie ihre konkreten, sehr unterschiedlichen Betroffenheiten
während der NS-Zeit zu vergessen oder - um der neuen gemeinsamen Sache willen
- bewußt auszuklammern suchten. (..)Der Totalitarismusbegriff, der niemanden
naß machte, weil Christen wie Sozialdemokraten, Liberale wie Deutschnationale
gegen das Totalitäre waren und sind, bot sich hier an, auch im einer Konkretisierung
gegensätzlicher geschichtlicher Erinnerung zu entgehen,, um Entnazifizierungstoleranz
auch den Globkes und Oberländers zu gewähren. (...)
Historisierung des Dritten Reiches heißt vor allem auch, diesen zwölf
Jahren nicht länger eine falsche negative Zentralisierung in der deutschen
Geschichte einzuräumen, von der her sich vorangegangene oder nachfolgende Perioden
nur als präfaschistisch oder postfaschistisch darstellen. Auch die Zeit des
Dritten Reiches selbst ist nicht ausschließlich Geschichte, die vorher anfing,
die NS-Zeit durchlief und nachher weiterging. Und manche ihrer Aspekte, zum Beispiel
auf dem Gebiet der Sozial-, Rechts- oder Mentalitätsgeschichte, sind unter
der Perspektive einer historisch übergreifenden Betrachtung historisch angemessener
zu bewerten als nur unter dem starren Blickwinkel ihrer Funktion für die NS-Herrschaft.
Gewissenhafte Historisierung des Dritten Reiches bedeutet schließlich auch,
Verständnis zu eröffnen für jene aus der Geschichte nicht wegzudenkenden
"blinden" Zufälle von Konstellationen, die das in jeder Gesellschaft
und in jeder Zeit vorhandene Gemisch positiver und negativer Kräfte in dem
einen Fall zum schlimmen "Unheil", im anderen Fall zu unverdientem "Segen"
zu wenden vermögen. Das ist kein Plädoyer für eine fatalistische
Geschichtsschreibung, aber ein doch notwendiger Hinweis auf die Bedeutung geschichtlicher
Zufälligkeit, die wahrzuhaben sich unser auf Erklärbarkeit fixiertes Denken
so sehr sträubt. Der vielfältigen Zufälligkeiten innezuwerden, die
den Weg des Dritten Reiches bestimmten, ermöglicht es dem Historiker, selbst
der Hitler-Zeit gegenüber ein Maß mitfühlender Identifikation (mit
den Opfern, aber auch mit den in diesem "Unheil"-Kapitel der deutschen
Geschichte fehlinvestierten Leistungen und Tugenden) aufzubringen, ohne das geschichtliche
Verstehen nicht auskommen kann.
Martin Brozat, Nach Hitler. Der Schwierige Umgang mit Hitler S. 210ff
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt