Antideutsch für Einsteiger

Antideutsche Positionen sind mit dem Ende der DDR als Reaktion auf die neuen deutschen Verhältnisse entstanden. Sie wurden vor allem in linken Zeitungen und Zeitschriften wie »konkret«, »junge welt«, »jungle world«, »bahamas« und »17°C« von verschiedenen Autoren mit disparaten theoretischen Orientierungen formuliert. Im folgenden fasse ich die für mich wichtigsten Argumente und meine eigenen Überlegungen zusammen. Wie lässt sich eine antideutsche Position begründen?

Hin zu Auschwitz

Eine Reihe von Historikern - etwa Reinhard Kühnl und Norbert Elias, neuerdings Daniel Goldhagen und John Weiss, haben sich die Frage gestellt, ob es so etwas wie einen deutschen Sonderweg gegeben hat, der zu Auschwitz geführt hat. Hätten auch die Eliten in anderen Nationen ihre Bevölkerung dazu motivieren können, einen industriellen Massenmord auszuführen, oder existierten in Deutschland Einzigartigkeiten, die seine Eliten und seine Bevölkerung für eine solche Tat besonders prädestinieren? Die wichtigsten Argumente verschiedener Wissenschaftler möchte ich hier kurz aufzählen:
ò Die »verspätete Nation« Deutschland ist besonders stark von Nationalismus geprägt, der in hohem Maße mit Antisemitismus verknüpft ist. Die »Liebe« zu Deutschland war überaus häufig mit dem Haß auf Juden verbunden, was bis zu Vernichtungswünschen reichte (etwa bei Martin Luther (1) oder bei Johann Gottlieb Fichte (2))

ò Die lange Kleinstaaterei und eine damit verbunden stärkere Gefährdung durch mächtige Nachbarstaaten hat ein stärkeres Bedrohungsgefühl durch die Außenwelt bzw. das Ausland hervorgerufen, das sich v.a. in Krisensituationen bis zu Paranoia steigern konnte. Eine solche Wahrnehmung der Welt kann sich in bei den Eliten wie bei der Bevölkerung in »mentalen Traditionen« oder »mentalen Dispositionen« niederschlagen, die die verursachende historische Konstellation überleben, da sie auch auf andere Situationen übertragen - also in der Tendenz generalisiert - werden und natürlich auch von intelligent agierenden politischen und ökonomischen Eliten instrumentalisiert werden können. Die »mentale Tradition« erhält eine Eigendynamik, die natürlich nie zu etwas Überhistorischem werden kann - unter anderenHerrschaftverhältnissen, einer anderen Gesellschaftsformation etc. könnten sich diese Haltungen wieder ändern. Dass dies jedoch bis heute nicht geschehen ist, zeigt sich etwa in der wahnhaften Angst vieler Deutschen vor britischem Rindfleisch, afrikanischen Flüchtlingen und Übernahmeversuchen ausländischer Firmen.

ò Die starke Verankerung »preußischer Tugenden« wie Gehorsam, Pflichterfüllung etc. und die historisch gebildete militaristische Gesinnung großer Teile der Bevölkerung ist auch von bürgerlichen Historikern ausführlich dargestellt worden.

ò Stark irrationale Tendenzen, etwa in der deutschen Romantik und im deutschen Idealismus, sind Teil der deutschen Geistesgeschichte und haben ihre Spuren im Denken der Nationalsozialisten (Politiker wie Kapitalisten) hinterlassen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, etwa deutsche Heldensagen, die häufig in völliger Vernichtung enden (z.B. das Nibelungenlied) zum einen mit Sagen aus anderen Ländern und zum anderen mit dem tatsächlichen Verlauf des II. Weltkriegs zu vergleichen: Untergangssehnsucht hat im deutschen Denken sicher eine lange Tradition

ò Die besondere Situation des deutschen Kapitals (kaum Kolonien, hohes Wirtschaftswachstum, fehlende Absatzmärkte etc.) verursachten einen starken Expansionsdrang verschiedener Kapitalfraktionen, ohne den es sicher keinen der beiden Weltkriege gegeben hätte. Diese und andere ökonomische Aspekte können den Faschismus auch in anderen Nationen wie Italien und die Weltkriege sicher zum guten Teil erklären, reichen aber nicht für den Judenmord aus, da sie auch andere Länder wie Italien und Japan betreffen, die »nur« faschistisch, aber eben nicht in dem Maße völkermörderisch waren wie Deutschland. Hierfür sind zum einen die antisemitische Tradition in Deutschland und zum anderen ein besonderes »deutsches« Verständnis von Kapitalismus, in dem die Produktion (das »schaffende« Kapital) mit den nichtjüdischen Deutschen und die Zirkulationssphäre (das »raffende« Kapital) mit den Juden assoziiert wurden. Von der Auslöschung der Juden erwarteten die Propagandisten dieser Ideologie den Sieg über die Schattenseiten des Kapitalismus und konnten zahllose Deutsche für dieses »deutsche Projekt« begeistern (vgl. Holger Schatz u. Andrea Woeldike, Freiheit und Wahn deutscher Arbeit)

ò Wichtig erscheint mir die Tatsache, dass Deutschland - im Gegensatz zu den USA, England und Frankreich, keine erfolgreich bürgerliche Revolution zustandegebracht hat. Der Adel war bis ins 3. Reich hinein sehr einflussreich, und was noch wichtiger ist, die Freiheitswerte des bürgerlichen Liberalismus konnten keine starke Verankerung in der Bevölkerung finden. Einiges spricht für die These, »daß sich ein selbstbewußtes, seinen Erfolg genießendes Bürgertum in Deutschland einfach nie entwickelt hat. Erst hatten die Bürger Angst vor dem Adel und vor der Krone, dann hatten sie auch schon Angst vor dem Proletariat...« (Wolfgang Pohrt, Das Jahr danach, Seite 311). Zwar war auch in Spanien die bürgerliche Emanzipation gescheitert, jedoch hatte Spanien nicht die Macht, einen Weltkrieg zu entfesseln - man brachte dort nur einen »normalen« Faschismus zustande. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die fehlende Verankerung bürgerlicher Freiheitswerte die Entwicklung in der DDR wie auch anderer Länder massgeblich beeinflusst hat. Es fällt schwer, sich einen Mussolini oder Hitler in England oder Frankreich vorzustellen - die dortige Bevölkerung hatte nicht das entsprechende Bewusstsein, sprich die erforderliche Bereitschaft zur Unterwerfung, da hier eben bürgerliche Freiheit- und Gleichheitsswerte im Bewusstsein von Bevölkerung und Eliten eine größere Bedeutung hatten

Zur Einzigartigkeit von Auschwitz

»Um die volle Bedeutung dessen zu begreifen, was diese Männer taten, müssen wir uns bewußtmachen, daß es sich keineswegs um Individuen handelte, die eigene, besondere moralische Maßstäbe besaßen. Die Bürokraten, die mit dem Vernichtungsprozeß befaßt waren, unterschieden sich in ihrer moralischen Gesinnung nicht vom Rest der Bevölkerung. Der deutsche Täter war kein besonderer Deutscher.« (Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, S.

1079f.)

»Man muß den Tatsachen ins Auge sehen: Die deutsche Politik und Kultur hatte sich bis zu einem Punkt entwickelt, an dem die meisten Deutschen hätten werden können, was eine ungeheure Zahl ganz gewöhnlicher Deutscher tatsächlich wurde: Hitlers willige Vollstrecker.« (Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 531)

Bürokratisch geplanter, industrieller Massenmord in Verbindung mit dem Versuch, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe auszurotten, ist in der bisherigen Menschheitsgeschichte einzigartig. Man könnte durchaus den amerikanischen Siedlern den Willen unterstellen, die Indianer auszurotten, der Versuch wurde jedoch nicht mit industriellen »Fließbandmethoden« unternommen, die damals erst entstanden, und, was wichtiger ist, zum Ende es 19. Jahrhunderts wurde die Ermordung der amerikanischen Ureinwohner freiwillig beendet - etwas, das die Nazis nie getan hätten. Manchmal behaupten Gegner der »Einzigartigkeitsthese«, dass die beiden Atombombenabwürfe der USA auf Hiroshima und Nagasaki etwas Ähnliches darstellten, hier fehlt jedoch der Aspekt des Ausrottungsversuchs - die US-amerikanische Regierung hatte bestimmt nicht vor, alle Japaner zu töten; zudem sind die Opferzahlen weitaus niedriger.. In den sowjetischen Gulags wiederum ging es nicht um die »Ausrottung« einer bestimmten Gruppe, auch kann man die dort verwandten Methoden kaum als »industriell« bezeichnen.

Weiterhin ist die Größe des »deutschen Projektes« eine neue Qualität: Nach Goldhagen waren mehr als 100.000 Deutsche an der Ermordung der Juden beteiligt. Die Deutschen suchten die Juden in ganz Europa, um sie umzubringen (was nicht heißt, dass sie deshalb den Krieg begannen), und gaben sich noch als die Niederlage längst feststand, große Mühe, so viele Juden wie möglich zu töten (etwa auf den »Todesmärschen«).

Eine Zeitlang hielt sich das Argument, man sei bei der Ermordung der Juden streng rational und ohne immer streng nach Befehl vorgegangen. Heute wissen jedoch alle, die es wissen wollen, dass dies nur für die bürokratischen Planer des Judenmords - das klassische Beispiel hierfür ist Eichmann - zutrifft. Die physischen Vollstrecker des Judenmordes - SS, Wehrmacht und Polizeidienste sowie das Personal in KZÆs und Vernichtungslagern - sind in unendlich vielen Fällen extrem grausam vorgegangen, ohne dazu genötigt worden zu sein. Sie taten dies also oft freiwillig und töteten zahllose Menschen, die noch als Arbeitskräfte hätten »verwertet« werden können, was auch die Grenzen der ökonomischen Rationalität des Judenmordes zeigt.

Es gibt wenig, was eindeutiger sein kann als diese Argumente. Sie sind historisch gut belegt, und ihnen wird - außer von Alt- und Neonazis - nicht offen wiedersprochen. In dieser Schärfe und Zuspitzung sind sie aber in öffentlichen Diskursen nicht zu finden.

Das ermöglichte es Politikern wie Joseph Fischer und Rudolf Scharping, von einem »neuen Auschwitz« und von »Völkermord« im Kosovo zu reden (übrigens in verblüffender Analogie zu 1939, als der deutsche Angriff auf Polen gerechtfertigt werden musste (2a) ). Sie wussten, dass sie dies nicht den Tatsachen entsprach - bis heute hat man kein »KZ« im Kosovo gefunden - aber einer Bevölkerung, die nach Befreiung von diesem Teil der deutschen Geschichte suchte, konnten sie leicht für ihre Zwecke instrumentalisieren. Fischer und Scharping ermöglichten es den Deutschen, Auschwitz an das Ausland loszuwerden - ein Angebot, das von der Bevölkerung, bis tief in linksalternative und pazifistische Kreise hinein, gerne angenommen wurde.

Nach dem II. Weltkrieg

Wie bestraft man eine Nation, deren Angehörige zwei Weltkriege begonnen haben, über 60 Millionen Menschen sowie die Verwüstung und Ausplünderung eines ganzen Kontinents auf dem Gewissen haben, die die extremste vorstellbare Form des Völkermordes begangen haben, und die sich damit so weit von allen anderen »zivilisierten« Nationen entfernt haben, dass Hoffnung auf eine Besserung der Täter nur auf eine Verhöhnung der Opfer hinauslaufen kann?

In der DDR gab man sich redlich Mühe: man enteignete alle deutschen Kapitalisten, derer man habhaft werden konnte, brachte einen Teil der deutschen Industrieanlagen in die verwüstete Sowjetunion, bestrafte die bekannten und erreichbaren Kriegsverbrecher und versuchte eine Gesellschaftsordnung zu schaffen, die die Wiederholung des Faschismus unmöglich machen würde. Dazu brauchte man die Bevölkerung, die deshalb allzu schnell »entnazifiziert« wurde. Den DDR-Bürgern wurde das Angebot gemacht, sich als Opfer des Faschismus zu fühlen, was den vielen Mitläufern sicher moralische Erleichterung verschaffte, ihnen jedoch die für die Beschäftigung mit den eigenen Taten und Unterlassungen nötige Motivation nahm. Auch hielt man es nicht für nötig, Reparationen an den Staat Israel (weil kein eigenständiger Staat, sondern »imperialistische Speerspitze der USA«) zu zahlen, sondern unterstützte jene arabischen Staaten, die Israel als ihren Todfeind betrachteten (2b). Nach dem Ende der DDR stellte sich dann heraus, dass die Mehrzahl der Zonenbewohner die DDR für die Strafe gehalten hatte.

In der BRD begannen die Alliierten mit der Anklage und Verurteilung der Kriegsverbrecher, brachen dieses jedoch vorzeitig ab, da die politische Lage sich geändert hatte: Westdeutschland wurde in der Systemauseinandersetzung mit dem kommunistischen Ostblock gebraucht, so dass die alten faschistischen Eliten eine neue Chance erhielten. Somit konnte die Mehrzahl der Nazi-Kapitalisten ihr durch Massenmord, Plünderung und Arisierung erworbenes Vermögen behalten, das dann zum Grundstock des westdeutschen Nachkriegsaufschwungs wurde. Dieser Vorgang ist historisch wohl einzigartig: Eine Nation, die einen ganzen Kontinent mit einem Angriffs- und Vernichtungskrieg überzogen hat, wird von ihren Gegnern nicht bestraft, sondern vielmehr wiederaufgebaut!

Wir wissen nicht, was dieser Schritt die Welt noch kosten wird. Wir können jedoch ahnen, was der Wiederaufbau Deutschlands und die Nichtverfolgung zahlloser Verbrechen im Bewusstsein der Deutschen bewirkt hat. Statt Bestrafung der Täter und Entschädigung der Opfer ließ man zu, dass mit dem durch Mord, Plünderung und Sklavenarbeit akkumulierten Vermögen plus Marshallplan ein »Wirschaftswunder« stattfand, das auch die Angehörigen zivilisierterer Nationen als Deutschland auf dumme Gedanken gebracht hätte.

Was passiert mit Menschen, die für ihre Verbrechen nicht bestraft werden, sondern im Gegenteil mit dem durch beispiellose Verbrechen erworbenen Kapital noch weiterarbeiten können?

Meine These ist, dass hierdurch im Unbewussten (bei den überzeugten Rechten auch im Bewusstsein) zahlreicher Deutscher Überzeugungen installiert wurden die - in vielen Variationen - etwa folgenden Inhalt haben: »Man kann diese Dinge (millionenfachen Mord, Weltkriege) tun und wird dafür nur gering bestraft bzw. sogar belohnt«; »Da die Bestrafung so milde ausfiel und wir heute wieder so gut dastehen, kann das, was wir getan haben, nicht so schlimm gewesen sein«; »Wenn wir nicht wirklich bestraft werden, dann deshalb, weil man uns im (etwa im Bezug auf Juden, »Untermenschen«, die besondere »Größe« Deutschlands) Grunde zustimmt«

Natürlich war die deutsche Teilung, der Verlust von Gebieten und die Bestrafung zumindest eines Teils der Kriegsverbrecher ein Versuch der Bestrafung, jedoch überwiegen bei weitem die Vorteile: Die westdeutsche Íkonomie war am Ende des Krieges moderner und leistungsfähiger als vor seinem Beginn, und auf dieser Basis sowie mit Hilfe des Marshallplans konnte neu akkumuliert werden.

Bewusste und unbewusste Überzeugungen können unter bestimmten Bedingungen zu konkretem Verhalten führen, unter anderen nicht. Manchmal sind sie so gut versteckt, dass man sie kaum findet. Vor 1989 waren weite Teile der Linken davon überzeugt, dass es mit den Großmachtambitionen Deutschlands vorbei sei (3). Seit dem Anschluss der DDR hat sich die deutsche Außenpolitik jedoch dramatisch verändert. Wir können heute deutlich sehen, dass die bundesdeutschen Eliten auf die Möglichkeit hingearbeitet haben, wieder Krieg führen zu können. Sicher wusste Joschka Fischer etwa 1995 nicht, dass er dies tat. Es erscheint jedoch wahrscheinlich, dass er mit seinem schrittweisen Abfall vom Pazifismus (wegen Auschwitz haben deutsche Soldaten in Jugoslawien nichts zu suchen) hin zum Bellizismus (wegen Auschwitz müssen deutsche Soldaten in Jugoslawien eingreifen) unbewussten »Programmen« folgte, die nicht nur in ihm, sondern auch in vielen anderen Deutschen existieren und dabei nur so stark auf das aktuelle Verhalten einwirken, wie es die Umstände gerade erlauben: 1995 war die Welt, insbesondere Europa, noch nicht soweit, deutsche Soldaten in Kriegseinsätzen zu akzeptieren, und auch die eigene Bevölkerung stand dem ablehnend gegenüber. Durch die schrittweise Veränderung von SPD und Grünen konnte ein großer Teil der Bevölkerung in die neuen Verhältnisse integriert und auf weiteres vorbereitet werden. Auch die anderen NATO-Mitgliedsstaaten waren 1999 dazu bereit, deutsche Soldaten als Kriegsteilnehmer zu akzeptieren. Dies hängt wohl zum Teil damit zusammen, dass immer weniger Opfer des II. Weltkriegs leben. Letzten Endes aber bleibt unklar, was die Welt dazu bewegt, die Deutschen so schnell wieder »von der Leine zu lassen« (Wolfgang Pohrt).

Deutscher Nationalcharakter?

Der Soziologe Wolfgang Pohrt stellte bereits 1990 Eigenschaften an einer Vielzahl von befragten Deutschen fest, die für entschlossene Eliten leicht auszunutzen sein dürften:

1 Es gibt nach wie vor starke autoritäre Dispositionen (Sehnsucht nach einer starken Führungspersönlichkeit, Ablehnung von Freiheitswerten etc.);

2 Es gibt eine starke Disposition zu pathischer Projektion: Eigene negative Eigenschaften werden auf andere projiziert und als Bedrohung empfunden, was zu paranoiden Wahrnehmungen etwa des Auslandes führt;

3 Die Fähigkeit, eigene Verbrechen und Missetaten unentwegt zu erklären, zu entschuldigen und zu rationalisieren, ist stark ausgeprägt - die Landsleute sind natürlich gut in Übung, da sie u.a. zwei Weltkriege wegzurechtfertigen hatten. Man ist darauf eingerichtet, so etwas bei Bedarf wieder tun zu können;

4 Laut Pohrt kann man zudem »auf eine antizivilisatorische, antidemokratische Überzeugung schließen, deren unerhörte Einhelligkeit ferner die ungebrochene Neigung zur freiwilligen Selbstgleichschaltung verrät, den Hang, sich unbekümmert um die eigenen Erfahrungen und die eigene Interessenlage zum Sprachrohr der jeweils gerade gängigen Parolen zu machen« («Der Weg zur inneren Einheit«, S. 270)

Was wird?

Aus all dem folgt natürlich nicht, dass die Deutschen zielstrebig ein neues Auschwitz bzw. neue Weltkriege vorbereiten. Aber: Wir wissen nicht, wozu die Deutschen heute fähig wären, hätten sie die Möglichkeit dazu. Schon jetzt wird deutlich, dass Deutschland
ò innerhalb der EU die ökonomisch und politisch vorherrschende Macht ist;

ò sich immer offener in Konkurrenz zu den USA setzt, jedoch v.a. im militärischen Bereich noch nicht konkurrenzfähig ist. Osteuropa wird zunehmend der Hinterhof Deutschlands, so wie Lateinamerika der Hinterhof der USA ist;

ò anscheinend seine nach dem I. Weltkrieg begonnene und unter Hitler etwa in der Tschechoslowakei betriebene »Volksgruppenpolitik« wieder aufgenommen hat. Dass Deutschland als erstes Land Anerkennung Slowenien und Kroatien anerkannt hat, ist kein Zufall, sondern nur ein herausragendes Beispiel von vielen für eine teils offene, teils verdeckt betriebene Förderung von völkischen und Sezessionsbewegungen besonders, aber nicht nur in Ost- und Südosteuropa. Jugoslawien war das erste Opfer deutscher Bestrebungen, Nationalstaaten in völkisch organisierte Kleinstaaten zu zerschlagen, andere werden vermutlich folgen (4).

Darüber hinaus gehende Prognosen sind schwierig. Viel hängt vom Verhalten des Auslands - v.a. den USA und den anderen europäischen Staaten - ab. Vielleicht ist man wenigstens dort in der Lage, aus der Geschichte zu lernen und diesmal rechtzeitig mit dem Appeasement aufzuhören. Zweifellos hat die derzeitige Exportabhängigkeit Deutschlands einen zivilisierenden Einfluss, zumindest was die Ambitionen des deutschen Kapitals betrifft.

Auch kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass in Deutschland irgendwann einmal nennenswerter Widerstand gegen erneute Großmachtambitionen entstehen wird, jedoch geben die Erfahrungen der Antikriegsbewegung während des Kosovokrieges nicht den mindesten Anlass zu einer solchen Hoffnung.

Grundsätzlich

Dass die Deutschen nach dem Anschluss der DDR eine neue Chance erhielten, zur Großmacht aufzusteigen, könnte die Vorbereitung einer Katastrophe gewesen sein. Nach dem II. Weltkrieg war der kulturelle und politische Zusammenhang Deutschland so delegitimiert, dass die Alliierten einen Schlussstrich hätten ziehen müssen. Es wäre durchaus möglich gewesen, etwa die deutschen Gebiete den Nachbarländern zuzuschlagen, u.a. Polen, das seine Bevölkerung verloren hatte.

Deutschland ist das Land, das es nicht mehr geben dürfte.

Es gibt derzeit nicht die Chance einer Systemumwälzung hin zu einem neuen, besseren Sozialismus. Es gibt aber die USA, die eine blutige Geschichte hinter und wohl auch vor sich haben, bei deren Bevölkerung und gesellschaftlich Herrschenden jedoch (Todesstrafe hin, Rassimus her) zivilisatorische Grundwerte stärker verinnerlicht sind als in der »Kulturnation« Deutschland. An Amerika - seiner ökonomischen Macht und seinem »kulturellen Imperialismus«, der die in einem erschreckenden Maße nazifizierte ostdeutsche Jugend leider viel zu wenig infiltriert hat - kommt Deutschland derzeit noch nicht vorbei.

Dies ist die beste Hoffnung, welche Antifaschisten derzeit haben.

Anmerkungen

(1) «Man soll erstens ihre Synagogen verbrennen und dem Erdboden gleichmachen, zweitens ihre Häuser zerstören und sie wie die Zigeuner unter Dächer und Ställe tun ..., damit wir Deutschen in geschichtlicher Begründung auch wissen möchten, was ein Jude sei, unser Christentum vor ihnen als dem Teufel selbst zu warnen.«(Martin Luther, »Tischreden«)

(2) «Aber ihnen die Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch keine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen das gelobte Land zu erobern, und sie alle dorthin zu schicken.« (Fichte, zitiert nach Otto Köhler »Unter Deutschen« in konkret 10/96)

(2a) Auswärtiges Amt, September 1939: »Die deutsche Regierung hat, ergriffen vom Leid der von Polen gequälten und unmenschlich behandelten Bevölkerung, dennoch fünf Monate lang geduldig zugesehen, ohne auch nur einmal gegen Polen eine ähnlich aggressive Handlung zu betätigen. Sie hat nur Polen gewarnt, dass diese Vorgänge auf die Dauer unerträglich sein würden« (zit. Nach Hannes Hofbauer: Balkankrieg, S. 170). »'Am vorigen Sonntag', schrieb der deutsche Generalkonsul in Thorn am 28. August 1939 an sein Auswärtiges Amt, 'hielten die Polen die Stunde für gekommen, um Rache an der deutschen Bevölkerung zu nehmen. Im Rahmen der Evakuierungsmaßnahmen wurde der größte Teil der Volksdeutschen wie ein Herde zusammengetrieben und ins Innere des Landes in Marsch gesetzt. ... Eine schwangere Frau, die einfach nicht mehr weitermarschieren konnte, wurde von der Begleitmannschaft so schwer geschlagen, daß sie frühzeitig niederkam und dabei verstarb. Die Volksdeutschen dürften in eines der zahlreichen Konzentrationslager getrieben worden sein.'

(2b)Ich möchte nicht unterstellen, dass der ausschlaggebende Grund hierfür Antisemitismus gewesen ist. Laut Angelika Timm war die Israelpolitik der DDR nur bis zu Stalins Tod antisemitisch geprägt. Was bis zuletzt blieb, war jedoch die Unfähigkeit der DDR-Führung, den Staat Israel als Ergebnis der Judenvernichtung zu begreifen. »Andererseits hat die SED seit Ende der sechziger Jahre versucht, extremistische Politiker in den arabischen Staaten und in der PLO, die sich für die Zerstörung Israels aussprachen, zu beschwichtigen oder zu isolieren«(Angelika Timm). Allerdings muss auch darauf hingewiesen werden, dass die DDR noch 1988 einen Staat »Palästina« anerkannte - zwei Jahre vor der Sowjetunion.

(3) Wir wissen allerdings heute, dass es in der BRD seit Anfang der 50er Jahre Planungen für eine Wiedervereinigung gegeben hat, die sich zum Teil verblüffend mit dem decken, was später tatsächlich gemacht wurde (vgl. Etwa Karl Heinz Roth »Anschließen Angleichen Abwickeln. Die westdeutschen Planungen für die Übernahme der DDR 1952-1990«)

(4) vgl. hierzu: Walter von Goldendach u.a.: Von Krieg zu Krieg. Die deutsche Außenpolitik und die ethnische Parzellierung Europas.

*

Als Ergänzung zu meinem Text »Antideutsch für Einsteiger«, der eine systematische Einführung in das Thema ist, antworte ich im folgenden auf die übliche Kritik an der antideutschen Linken, wie sie von anderen Linken und Linksliberalen geäußert wird. Grundsätzlich sollte man keine Abitur haben müssen, um gegen Deutschland sein zu können.

Die grundlegenden Argumente sind sehr einfach, da Deutschland und seine Geschichte so übel sind, dass man keine besondere Ausbildung benötigt, um dieses zu bemerken. Es erfordert im Gegenteil eine besondere intellektuelle Zurichtung, um sich und andere über die deutschen Verhältnisse täuschen zu können. Da Politik und Massenmedien dieser Aufgabe effizient und zuverlässig nachkommen, ist es leider erforderlich, hier auf einige Selbstverständlichkeiten hinzuweisen, die antideutschen Linken sicher klar sind, darüber hinaus jedoch kaum Verbreitung gefunden haben.

(letzte Überarbeitung: 9.9.01)

Zur Kritik an antideutschen Positionen

»Antideutsche übersehen, dass es überall in Europa Rassismus und neofaschistische Erscheinungen gibt, nicht nur in Deutschland.«
Kein Antideutscher würde bestreiten, dass es auch in anderen Ländern Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Faschisten en masse gibt, und zwar ziemlich flächendeckend dort, wo Kapitalismus herrscht.

Gleichzeitig gibt es wesentliche Unterschiede, auf die verschiedene Autoren schon vor Jahren hingewiesen haben

Wolfgang Pohrt schrieb 1991 über einige dieser Unterschiede:

»In Polen gabe es vor dem [2.Welt-] Krieg einen widerlichen Antisemitismus, aber die Juden stellten auch einen nennenswerten Anteil an der Bevölkerung - der klassische Fall von modernem Tribalismus. Die Nation zerfällt in Religionsgemeinschaften oder ethnische Kollektive, die es in der bürgerlichen Gesellschaft ihrem Begriff nach gar nicht mehr geben dürfte, und der Mensch benimmt sich wie das liebe Vieh, d.h. ein Stamm will den anderen aus seinem Revier vertreiben. In Deutschland war das anders. Da betrug der Anteil der Juden an der Bevölkerung 1 Prozent, die meisten Deutschen dürften keinen Juden persönlich gekannt haben. Nur 10 Prozent der Juden, die von den Deutschen umgebracht worden sind, haben die Deutschen im eigenen Land gefunden, die anderen haben sie in ganz Europa aufsuchen müssen. In Polen also ein Antisemitismus, dessen Praxis nach dem Modell der Wirtshausschlägerei funktioniert, in Deutschland Spürtrupps und Exekutionskommandos.

Analog dazu betragt der Ausländeranteil heute in der ehemaligen DDR 1 Prozent, eine Zahl, die man nicht oft genug wiederholen kann... In London, Paris und Marseille gibt es ganze Stadtteile, in denen nur Araber wohnen, und wenn es dort zu Feindseligkeiten kommt, ist das wieder der klassische Fall von modernem Tribalismus. In der Zone dagegen sind die Ausländer kein Kollektiv, sie sind verstreute Einzelne, an denen man sich im Alltag nicht reiben kann, die man vielmehr erst aufspüren muß, um sie quälen und töten zu können. » (aus »Das Jahr danach«)

Ergänzend hierzu Hermann Gremliza 1993:

»Rassismus, Xenophobie, die gibt es tatsächlich überall, auch in den Nachbarländern. Aber fällt wirklich niemandem der eine Unterschied auf zwischen den Straßenschlachten, die in England und auch in Frankreich geschlagen werden, bei denen sich Kerle gleichen Alters, gleicher Stärke und vergleichbarer Bewaffnung offen entgegentreten und einander die Figur polieren, und den Tausenden durchweg heimtückischen Anschlägen hierzulande, deren Opfer ja nicht zufällig fast immer nur Frauen und Kinder werden?«

Ich empfehle jedem, der daran zweifelt, hierzu Zeitungsmeldungen zu studieren. Wer eine Meldung mit einem Titel wie »Straßenschlacht zwischen rechten und ausländischen Jugendlichen in Frankfurt« findet, möge mir eine Mail schicken, denn solche Meldungen sind in Deutschland selten, und ich lerne gerne dazu. Die Meldungen, die man in Deutschland liest, funktionieren fast immer nach dem Schema »20 rechte Jugendliche hetzen einen Afrikaner durch die Innenstadt - niemand greift ein«. Im Ausland überwiegt bei weitem das Prinzip »Prügelei zwischen rechter und ausländischer Gang«, während Vernichtungsoperationen des rechten Mobs nur einen Bruchteil der Vorfälle ausmachen.

(für Fans des Kritischen Rationalismus: Eine gegenläufige Meldung falsifiziert gar nichts, denn ich habe eine Wahrscheinlichkeitsaussage getroffen, wenn auch eine entschiedene)

»Manche Antideutsche hypostasieren die USA als zivilisatorisch weiter fortgeschrittenes Land. Dort gibt es jedoch die Todesstrafe, massiven Rassismus, jährlich hunderte von toten Mexikanern an der Grenze. Die USA sind das Land, das nach 1945 die meisten Kriege geführt hat. Die USA sind die derzeit mächtigste und mörderischste imperialistische Nation und man darf sich ihnen nicht an den Hals werfen, wenn man nicht jede vernünftige linke Politik verraten möchte.«

Zu sagen, die USA seien das kleinere Übel, heißt nicht, sich ihnen an den Hals zu werfen. Hermann L. Gremliza schrieb 1989:

»Die USA waren und sind, spätestens seit dem Korea-Krieg, die bei weitem aggressivste imperialistische Macht; ihre Opfer zählen nach Millionen; wer, wie ich, ihr mörderisches, verhaßtes Militär auffordert, in der BRD zu bleiben und die Reste des Besatzungsrechts nicht aufzugeben, sondern notfalls mit aller Macht wahrzunehmen, muß Schlimmeres fürchten: eine große Koalition der Wähler von Kohl, Mayer-Vorfelder, Schönhuber und Gorbatschow, den Abriß der Mauer, die Wiedervereinigung, »die Deutschen« und Deutschland, Deutschland über alles. Ami stay here!«

Wen das noch nicht überzeugt, den möchte ich zu einem kleinen Gedankenexperiment einladen: Man stelle sich vor, nach dem II. Weltkrieg wäre zwar der Nationalsozialismus beseitigt und die BRD wäre eine kapitalistische Demokratie, hätte jedoch die Stellung in der Welt eingenommen, welche die USA in den letzten Jahrzehnten innegehabt haben. Get the picture? Hätten die Deutschen an Stelle der USA in Vietnam mit dem Morden aufgehört? Die USA haben in ihrer Geschichte meist eine relativ rationale Machtpolitik betrieben und mit Massenmorden immer dann aufgehört, wenn sie keinen Vorteil mehr brachten. In Deutschland sieht das anders aus (siehe etwa den Versuch, die Judenvernichtung noch in den letzten Kriegstagen - nach Hitlers Tod - zu vollenden). Man kann das natürlich alles auf »die Nazis« schieben, aber das führt nicht weit: Mehr als 100.000 - nach Goldhagen in zahllosen Fällen, etwa bei den an den Morden beteiligten Polizeieinheiten, zufällig ausgewählte - Deutsche (in der Regel keine Parteimitglieder) haben sich an dem »Projekt Judenvernichtung« beteiligt und bis zuletzt, als das III. Reich schon praktisch am Ende war, haben sie ihre Aufgabe mit großem Eifer erfüllt.

Die Deutschen haben seit dem II. Weltkrieg aus meiner Sicht nicht die weniger mörderische Bilanz, weil man hier die Sonne im Herzen hat, sondern weil sie a) keine Gelegenheit hatten (alliierte Aufsicht), und b) es im Interesse einer autonomen Zukunft war, den energischsten Verfechter von freedom und democracy zu mimen. Diese Zeit neigt sich nun dem Ende zu, und zwar um so schneller, je mehr sich die ökonomische, politische und militärische Macht Macht Deutschlands der der USA annähert.

(Für alle Fans des Kritischen Rationalismus, die gerade darüber nachdenken, mir etwas ganz Kluges zu mailen: Die Punkte a) und b) und auch einige andere Statements auf dieser Seite sind keine wissenschaftlichen Aussagen im Sinne von Poppers Theorie, denn sie lassen sich nicht falsifizieren. Sie sind spekulativ. Ich könnte falsch liegen. Und ich weiß es).

»Antideutsch sein ist eine Form des Rassismus, die sich nur nicht gegen Fremde, sondern gegen die eigene Nation richtet. Antideutsche sind deshalb nicht besser als andere rassistische Deutsche.«
Hierauf hat Wolfgang Pohrt 1993 geantwortet: »Den Deutschen Rassismus vorzuwerfen heißt gerade nicht, der großen, starken Partei zu erklären, eine andere, kleinere, schwächere sei schuld. Das aber ist das Funktionsprinzip aller rassistischen Demagogie... Den Deutschen Rassismus vorzuwerfen heißt, die Schuld bei der Mehrheit zu suchen, statt bei irgendwelchen Minderheiten und kleinen Randgruppen.«

Man könnte hinzufügen: Antideutsche zünden keine von Deutschen bewohnten Häuser an, fordern keine Abschaffung des Asylrechts für Deutsche, haben mit gleichen Rechten für Deutsche und Nichtdeutsche überhaupt kein Problem, und sind ansonsten auch gar nicht so übel!

»Antideutsche unterstellen, die Deutschen besäßen einen unveränderbaren, überhistorischen »Nationalcharakter«, was im Grunde eine rassistische Position ist. Menschen aber verändern sich ständig mit den Umständen, entscheidend sind Erziehung und gesellschaftliche Verhältnisse.«
Ich kenne keine Antideutschen, die den Deutschen jegliche Veränderungsfähigkeit absprechen. Andererseits sind Menschen aber auch keine »black boxes«, denen man nur den richtigen »input« verpassen muss, damit sie sich in die gewünschte Richtung ändern. Es gibt so etwas wie Charakterstruktur und deren Tradierung über Generationen hinweg, sprich Mentalitätsgeschichte. Auch wenn es reaktionäre (biologistische, unhistorische) Definitionen von »Nationalcharakter« geben mag, gibt es ebenso fortschrittliche, wie die von Reinhard Kühnl, der »Nationalcharakter« begreift »als ein Ensemble von Denk- und Verhaltensformen, von Gewohnheiten und Mentalitäten..., das sich als Produkt bestimmter historischer Bedingungen und Erfahrungen herausgebildet hat, also... als Resultat der Geschichte und nicht der Biologie. Einmal entstanden, entwickelt ein solcher Nationalcharakter dann freilich eine gewisse Eigendynamik, wird selber zur geschichtlich wirkenden Potenz, modifiziert sich aber gleichwohl permanent durch neue Bedingungen und Erfahrungen, ist also niemals nur fertiges Faktum, sondern immer auch Prozeß.«

Gerade die Geschichte der DDR, wo die die aus Exil und KZ zurückgekehrten Antifaschisten »im fast aussichtslosen Kampf gegen 17 Millionen auf verlorenem Posten« (Wolfgang Pohrt) standen, hat übrigens gezeigt, wie resistent Menschen gegenüber Versuchen der »Umerziehung« sein können. Die »deutschen Verhältnisse« haben bisher noch jeden Versuch der Aufklärung überdauert, was keine Voraussage für die Zukunft sein soll - ich würde mich freuen, würden sich diese ändern. Der Glaube daran, den Deutschen etwa mit den »besseren Argumenten« à la Habermas beizukommen, ist nichts als die Vorbereitung von Enttäuschung, die dann bei allzu vielen Linken in die Entpolitisierung und manchmal auch zu Schlimmerem führt.

»Antideutsche überschätzen die Bedeutung der Nationalität auf Verhalten und Einstellungen von Menschen. Wichtiger ist die Klassenzugehörigkeit.«
Keineswegs soll die Bedeutung der Klassenzugehörigkeit, sowohl an sich als auch erst recht für sich, hier negiert werden. Es bleibt jedoch Fakt, dass in entscheidenden Momenten der deutschen Geschichte die Klassenzugehörigkeit hinter dem Deutschsein zurückstehen musste: 1914 stimmte die damalige Arbeiterpartei SPD den Kriegskrediten zu, und die SPD-Abgeordneten sangen im Reichstag die Nationalhymne. Saul Padover , der 1944/45 zahlreiche Deutsche interviewte, beobachtete, dass bis zum Ende des II. Weltkriegs selbst Kommunisten und Sozialdemokraten anstandslos in den Fabriken mitarbeiteten und es praktisch keine Sabotageakte gab. Diese Menschen waren gegen Hitler, es hatte jedoch kaum Folgen für ihr Verhalten. Deshalb kann man sich in Deutschland dann, wenn Widerstand gegen den Faschismus zu leisten ist, nicht auf den Faktor Klassenzugehörigkeit verlassen. Das würde womöglich wieder schiefgehen, und das sollte man der Welt nicht antun, vor allem als von gutem Willen beseelter Linker. Es ist für Herrschende immer von großer Wichtigkeit, das Entstehen einer Arbeiterklasse »für sich« zu verhindern, und es wäre eine ziemliche Überraschung, wenn dieses so völlig erfolglos geblieben wäre. Auch wenn man als wackerer linker Geschichtsphilosoph davon ausgeht, dass in letzter Instanz Fragen der Klassenzugehörigkeit den Ausschlag geben werden, kann man ohne weiteres zugestehen, dass bis dahin andere Faktoren die ausschlaggebende Rolle spielen können.
»Antideutsche sind im Grunde Menschen, die sich selbst hassen. Man kann sich nur selbst achten, wenn man seine nationale Identität annimmt.«
Nachdem ich kurz nach nebenan gegangen bin, um mich ein wenig auszupeitschen, fühle ich mich in der Lage, auch hierauf zu antworten.

Grundsätzlich ist es der Traum aller Herrschenden, eine so tiefe Identifikation von Menschen mit ihrer Nation zu erzeugen, dass deren Selbstachtung, gar ihre Liebefähigkeit hiervon abhängt. Widerstand besteht auch darin, die Identifikationsangebote der Nation, welcher man angehört, zurückzuweisen.

Natürlich werden wir geprägt von der Nation, in der wir aufwachsen, von unseren Eltern, unserer Familiengeschichte etc. Gleichzeitig gibt es die Möglichkeit der Selbsterziehung. Wir tragen letztlich die Verantwortung dafür, uns zu ändern, wenn wir Dinge an uns feststellen, die wir nicht mögen.

Eine ganze Menge der Eigenschaften, die Deutschen zugeschrieben werden, sind Merkmale, die für sich genommen harmlos sind. Worauf es ankommt, ist u.a.: Gibt es

ò die Sehnsucht nach einem starken Führer?

ò die Bereitschaft zu »pathischer Projektion«?

ò die Bereitschaft, eigene Missetaten zu verdrängen und wegzurationalisieren?

ò eine antizivilisatorische Grundhaltung? (diese Merkmale vgl. »Antideutsch für Einsteiger«)

Wer diese Eigenschaften bei sich selbst nicht aufweist, hat sich das Recht verdient zu sagen, dass er zwar ein »Deutscher an sich«, sprich Inhaber eines deutschen Passes, jedoch kein »Deutscher für sich«, also Inhaber einer deutschen Identität ist.

Das Gerede über die »nationale Identität« hört man hierzulande seit den 80er Jahren, und zwar auch aus linksliberalen Kreisen. Deren Variante finden wir etwa bei Jürgen Habermas, der schrieb:

»Nach Auschwitz können wir nationales Selbstbewusstsein allein aus den besseren Traditionen unserer nicht unbesehenen, sondern kritisch angeeigneten Geschichte schöpfen«

Hierzu bemerkte Wolfgang Pohrt seinerzeit (1987), dass Habermas »sich den Einwand gefallen lassen muss, dass noch unverfrorener als die Verharmlosung der Vergangenheit nur der Wille ist, aus einer nicht verharmlosten Vergangenheit nationales Selbstbewusstsein zu schöpfen. Fast rührend erscheint daneben in ihrer unvermeidlichen Stümperhaftigkeit die Geschichtsklitterung der Nationalkonservativen, die sich immerhin den Blick dafür bewahrt zu haben scheinen, dass aus der Vergangenheit, wie sie wirklich war, sich ein brauchbares nationales Selbstbewusstsein beim besten Willen nicht zu destillieren läßt und die deshalb zum Mittel der Retusche greifen. Wenn im Unterschied Habermas es wagt, Auschwitz und nationales Selbstbewusstsein in einem Atem zu nennen, wenn er den seichten pädagogischen Imperativ »kritische Aneignung« als zweckdienliches Mittel betrachtet, die deutsche Geschichte inklusive Auschwitz als Quelle für nationales Selbstbewusstsein, zu erschließen, dannn deshalb, weil die Verleugnung oder Verharmlosung von Auschwitz für ihn den Teilverlust jener nationalen Identität bedeuten würde, zu welcher er sich mit besorgniserregender Vehemenz bekennt, wenn er postuliert, was das Ausland oder der Himmel verhindern möge: 'Wir müssen also zu unseren Traditionen stehen, wenn wir uns nicht selber verleugnen wollen'. Weit radikaler noch als sein Gegner verwirft Habermas die nationale Selbstverleugnung, obgleich der selbstverleugnende Vorsatz, anders zu werden, als man ist und zur eigenen Tradition nicht zu stehen, sondern mit ihr zu brechen, von jedem Taschendieb erwartet werden darf und viel mehr noch von einem Kollektiv, dessen Sündenregister die fabrikmäßig betriebene Massenvernichtung von Menschen einschließt.« Volker Radke