Elias Canetti ist am Sonntag 14.8.1994 gestorben. Hier zum

Andenken einige Passagen von ihm:

»Die Versuche, den Nationen auf den Grund zu kommen, haben meist an einem wesentlichen Faktor gekrankt. Man wollte Definitionen schlechthin; eine Nation, sagte man, ist dies, oder eine Nation ist jenes. Man lebte im Glauben, daß es nur darauf ankäme, die richtige Definition zu finden. Wäre sie einmal da, so ließe sich gleichmäßig auf alle Nationen anwenden. Man nahm die Sprache her oder das Territorium; die geschriebene Literatur; die Geschichte; die Regierung; das sogenannte Nationalgefühl; und immer waren dann die Ausnahmen die Regel. Immer stellte sich heraus, daß man etwas Lebendes am losen Zipfel eines zufälligen Gewandes gepackt hatte; es entwand sich leicht, und man stand mit leeren Händen da.

Neben dieser scheinbar objektiven Methode gab es eine andere, naive, die nur an einer einzigen Nation interessiert war, an der eigenen nämlich, und der alle anderen gleichgültig waren. Sie bestand aus einem unerschütterlichen Anspruch auf Überlegenheit; aus prophetischen Visionen über die eigenen Größe; aus einem eigentümlichen Gemisch aus moralischer und animalischer Prätentionen. Man glaubte aber nicht, daß diese nationalen Ideologien sich auch tatsächliche alle gleichsehen. Es ist nur ihr aufdringlicher Appetit und Anspruch, der sie einander angleicht. Sie wollen alle dasselbe, aber sie sind nicht dasselbe. Sie wollen Vergrößerung, und sie begründen diese mit Vermehrung. Die ganze Erde, so scheint es, ist jeder einzelnen von ihnen natürlich angelobt gewesen, und die ganze Erde wird jeder einzelnen von ihnen natürlich gehören. Alle anderen, die davon vernehmen, fühlen sich bedroht und sehen in ihrer Angst nur die Drohung. So bemerkt man nicht, daß der konkrete Gehalt, die wirklichen Ideologien dieser nationalen Anspruchsformen voneinander sehr verschieden sind. Man muß sich die Mühe nehmen ohne ihre Gier zu teilen -, das Eigentümliche im Falle jeder Nation zu bestimmen. Man muß daneben stehen, keiner von ihnen hörig, aber redlich und zutiefst an ihnen interessiert. Man muß jede von ihnen geistig so in sich aufgehen lassen, als wäre man dazu verurteilt, ihr für einen guten Teil seines Lebens wirklich anzugehören. Aber man darauf keiner von ihnen so angehören, daß man ihr auf Kosten aller übrigen ausgeliefert ist.

Denn es ist eitel, von Nationen zu sprechen, wenn man sie nicht in ihren Unterschieden bestimmt. Sie führen lange Kriege gegeneinander durch. Ein sehr großer Teil der Angehörigen jeder Nation nimmt aktiv an diesen Kriegen Teil. Es ist oft genug die Rede davon, wofür sie kämpfen, das weiß niemand. Sie haben einen Namen dafür, sie dagegen, als Franzosen, als Deutsche, als Engländer, als Japaner.

Aber was bedeutet dieses Wort im Menschen, der es von sich gebraucht? Worin glaubt er anders zu sein, wenn er als als Franzose, als Deutsche, als Engländer, als Japaner in den Krieg zieht? Es kommt hier gar nicht so sehr darauf an, worin er wirklich anders ist. Eine Untersuchung seiner Sitten und Gebräuche, seiner Regierung, seiner Literatur könnte gründlich scheinen und doch an diesem bestimmte Nationalen, das als Glaube da ist, wenn er Kriege führt, ganz vorübergehen.

Es sollen also die Nationen hier so angesehen werden, als wären sie _Religionen_. Sie haben die Tendenz, von Zeit zu Zeit wirklich in diesen Zustand zu geraten. Eine Anlage dazu ist immer da, in Kriegen werden die nationalen Religionen akut.

Es ist von vornherein zu erwarten, daß der Angehörige einer Nation sich nicht allein sieht. Sobald er bezeichnet wird oder sich selbst bezeichnet, rückt etwas Umfassenderes in seine Vorstellung, eine größere Einheit, zu der er sich in Beziehung fühlt. Die Art dieser Einheit ist nicht gleichgültig, so wenig wie seine Beziehung zu ihr. Es ist nicht einfach die geographische Einheit seines Landes, wie man sie auf der Landkarte sieht; diese ist dem normalen Menschen gleichgültig. Grenzen mögen ihre Spannung für ihn haben, nicht das eigentliche Areal eines Landes. Er denkt auch nicht an seine Sprache, wie man sie bestimmt und erkennbar denen anderen gegenüberstellen könnte. Gewiß haben Worte, die ihm vertraut sind, gerade in erregten Zeiten eine große Wirkung auf ihn. Aber er ist nicht ein Wörterbuch, das hinter ihm steht und für das er zu kämpfen bereit ist. Weniger noch bedeutet dem normalen Menschen die Geschichte seiner Nation. Er kennt weder ihren wirklichen Verlauf noch die Fülle ihrer Kontinuität; nicht das Leben, wie es früher war; und nur wenige Namen derer, die früher gelebt haben. Die Figuren und Augenblicke, die in sein Bewußtsein eingegangen sind, sind jenseits von allem, was der ordentliche Historiker unter Geschichte versteht.

Die größere Einheit, zu der er sich in Beziehung fühlt, ist immer eine Masse oder ein Massensymbol_. Sie hat immer einige der Züge, die für Massen oder ihre Symbole charakteristisch sind: Dichte, Wachstum und Offenheit ins Unendliche, überraschender oder sehr auffallender Zusammenhang, gemeinsamer Rhythmus, plötzliche Entladung. (...) Aber diese Symbole erscheinen nie nackt, nie allein: Der Angehörige einer Nation sieht immer sich selbst, auf _seine Weise verkleidet, in starrer Beziehung zu einem bestimmten Massensymbol, das einer Nation wichtig geworden ist. In dessen regelmäßiger Wiederkehr, in dessen Auftauchen, wenn es der Augenblick erfordert, liegt die Kontinuität des Nationalgefühls. Mit ihm und um allein verändert sich das Selbstbewußtsein der Nation. Es ist veränderlicher als man denkt, und man mag daraus einige Hoffnung auf den Weiterbestand der Menschheit schöpfen.«

»Das Massensymbol der Deutschen war das Heer_. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der _marschierende Wald. In keinem modernem Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wir in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit Bäumen.

Ihre Sauberkeit und Abgegrenztheit gegeneinander, die Betonung des Vertikalen, unterscheidet diesen Wald von dem tropischen, wo Schlinggewächse in jede Dichtung durcheinanderwachsen. Im tropischen Wald verliert sich das Auge in der Nähe, es ist eine chaotische, ungegliederte Masse, auf eine bunteste Wiese belebt, die jedes Gefühl der Regel und gleichmäßiger Wiederholung ausschließt.

Der Wald der gemäßigten Zone hat seinen anschaulichen Rhythmus.

Das Auge verliert sich, an sichtbaren Stämmen entlang, in eine immer gleiche Ferne. Der einzelne Baum aber ist größer als der einzelne Mensch und wächst immer weiter ins Reckenhafte. Seine Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers. Die Rinden, die einem erst wie Panzer erscheinen möchten, gleichen im Walde, wo so viele Bäume derselben Art beisammen sind, mehr den Uniformen einer Heeresabteilung. Heer und Wald waren für den Deutschen, ohne daß er sich darüber im klaren war, auf jede Weise zusammengeflossen. Was andere am Heere kahl und öde erscheinen mag, hatte für den Deutschen das Leben und Leuchten des Waldes. Er fürchtet sich da nicht; er fühlte sich beschützt, einer von diesen allen. Das Schroffe und Gerade der Bäume nahm er sich zur Regel.« (Elias Cannetti, Masse und Macht, 185f, 190)

»Das Massensymbol der geeinten deutschen Nation, wie sie sich nach dem französischen Kriege von 1870 bildete, war und blieb das Heer Jeder Deutsche war stolz darauf; es gab nur vereinzelte, die sich dem überwältigenden Einfluß des Symbols zu entziehen vermochten. Ein Denker von der universalen Kultur Nietzsches empfing den Anstoß zu seinem Hauptwerk, dem »Willen zur Macht«, in jenem Krieg: es war der Anblick der Reiterschwadronen, den er nicht vergaß. Dieser Hinweis ist nicht müßig; er zeigt, wie allgemein die Bedeutung des Herres für den Deutschen war, die sich hochmütig gegen alles, was an Menge gemahnte, abzugrenzen verstanden. Bürger, Bauern, Arbeiter, Gelehrte, Katholiken, Protestanten, Bayern, Preußen, alle sahen in der Armee das Sinnbild der Nation. Die tieferen Wurzeln dieses Symbols, seine Herkunft aus dem Wald, sind an anderer Stelle aufgedeckt worden. Wald und Herr hängen für den Deutschen auf das innigste zusammen, und es läßt sich das eine so gut wie das andere als das Massensymbol der Nation bezeichnen; sie sind in dieser Hinsicht dassselbe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, daß das Heer neben seiner symbolischen Wirksamkeit auch konkret bestand. Ein Symbol lebt in der Vorstellung und im Gefühl der Menschen; als solches war es das merkwürdige Gebilde Wald- Heer. Die wirkliche Armee dagegen, in der jeder junge Deutsche diente, hatte die Funktion einer geschlossenen Masse. Der Glaube an die allgemeine Wehrplicht, die Überzeugung von ihrem tiefen Sinn, die Ehrfurcht von ihr reichten weiter als die traditionellen Religionen, er erfaßte Katholiken so gut wie Protestanten. Wer sich ausschloß, war kein Deutscher. Es ist gesagt worden, daß man Armeen nur in recht eingeschränkten Sinne als Masse bezeichnen darf. Doch war das Im Falle der Deutschen anders: er erlebte die Armee als eine weitaus wichtigste geschlossene Masse. Sie war geschlossen, da nur bestimmte Jahrgänge von jungen Männern auf begrenzte Zeit in ihr dienten. Bei den übrigen war sie ein Beruf, also schon darum nicht allgemein. Aber jeder Mann ging einmal durch sie hindurch und blieb für sein Leben innerlich an sie gebunden.«(197f)

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Most recent revision: April 07, 1998

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