Vererbtes Multikulti

Ein Genforscher vergleicht die Menschenrassen. Sein Schluß: Es gibt sie nicht.


Minderwertiges Erbgut attestierte der Professor dem großdeutschen Reichsführer in spe: "Gesicht und Kopf schlechte Rasse, Mischling. Niedere, fliehende Stirn, unschöne Nase, breite Backenknochen", notierte sich 1923 Deutschlands führender Rassenbiologe Max von Gruber, nachdem er Hitler zum erstenmal begegnet war. Der Gesichtsausdruck des NSDAP-Anführers erwecke, konstatierte der Forscher hellsichtig, den Eindruck "eines wahnwitzig Erregten".
Schon lange vor 1933 hatten vor allem deutsche Erbbiologen jene virulente Mixtur pseudowissenschaftlicher Rassentheorien angerührt, die in letzter Konsequenz zur Selektionsrampe von Auschwitz führte.
Bei der von NS-Ideologen geforderten "Verhütung erbkranken Nachwuchses", aber auch später beim in die Tat umgesetzten "Ausmerzen" von "gemeinschaftsunfähigen Minusvarianten" und "lebensunwertem Leben" - stets ging es den Verfechtern der Rassenhygiene darum, die angebliche Überlegenheit der arischen Rasse zu sichern.
Derlei rassistischer Größenwahn scheint unausrottbar. Unbeirrt versuchten wirre Geister die genetische Überlegenheit - vorzugsweise der weißen Rasse - "wissenschaftlich" zu belegen. Noch 1969 ortete der US-Wissenschaftler Arthur Jensen bei schwarzen US-Amerikanern eine größtenteils erbliche Minderintelligenz von 15 IQ-Punkten. Um die These zu untermauern, hatte man unverfroren schwarze Schulkinder aus Slumgebieten mit weißen Wohlstandszöglingen verglichen.
Solcher Unfug, urteilt der Humangenetiker Luca Cavalli-Sforza von der Stanford-University in Kalifornien, sei längst wissenschaftlich widerlegt. In seinem soeben erschienenen neuen Buch geht der gebürtige Italiener, bekanntgeworden durch seine Forschungen zum Stammbaum der Menschheit ("Eva kam aus Afrika", SPIEGEL 6/1992), noch weiter: Schon die Einteilung der Menschheit in Rassen sei nicht haltbar. Die äußeren Unterschiede zwischen Nordeuropäern und afrikanischen Pygmäen oder den südamerikanischen Indios und chinesischen Reisbauern, so Cavalli-Sforzas Kernthese, seien lediglich Anpassung an klimatische Bedingungen; die Vererbung von Hautfarbe und Gesichtsform werde allenfalls durch einige Dutzend Gene geregelt. Ansonsten herrsche genetisches Multikulti.
Beim Vergleich der Gendaten verschiedener Populationen auf der Erde beobachtete der Forscher "eine endlose Reihe von Variationen". Dabei zeigte sich, daß die genetische Vielfalt innerhalb eines Volkes meist weit größer ist als die Unterschiede der Völker untereinander. Die Gemeinsamkeiten zwischen zwei deutschen Hohlköpfen der kahlgeschorenen Sorte beschränken sich demnach oft nur auf ihr wirres Gedankengut; genetisch könnten sie einander im Extremfall fremder sein als dem vietnamesischen Gastarbeiter, den sie "aufzuklatschen" trachten.
Seit Cavalli-Sforza und seine Kollegen mit Genvergleichen minutiös rekonstruiert haben, auf welchen Wegen der moderne Mensch vor rund 100 000 Jahren, ausgehend von seiner afrikanischen Urheimat, die Erde besiedelte, fällt auch einiges Licht auf die Abkunft der hellhäutigen Europäer.
Erst seit rund 35 000 Jahren lebt der moderne Mensch demzufolge in Europa; zunächst fand er als Jäger und Sammler sein Auskommen. Dann jedoch rückten über die heutige Türkei die ersten Ackerbauern aus Kleinasien und dem fruchtbaren Land zwischen Euphrat und Tigris vor.
Mittlerweile scheint auch erwiesen, daß vor rund 6000 Jahren hinteruralische Steppenvölker nach Europa vorgedrungen sind - gleichfalls ein schwerer Schlag gegen die NS-Ideologie vom "nordisch reinen Blut". Als letzte Bastion der europäischen Urbevölkerung können allenfalls die Basken gelten - doch von Blond und Blauäugig findet sich im Baskenland keine Spur.
Selbst die weiße Hautfarbe gibt für die Theorie vom Übermenschentum nichts her. Den Verlust der Hautpigmente erklärt Cavalli-Sforza vielmehr mit einem Vitamin-D-Mangel, der sich in Europa durch die einseitige Getreidekost der frühen Bauern ergeben habe: Nur in blasse Haut kann das Sonnen-UV-Licht so tief eindringen, daß es die körpereigene Herstellung des Vitamins ankurbelt.
So verhalf die Hellhäutigkeit dem Früh-Europäer zwar zur lebensnotwendigen Vitamindosis; seine reichlich mit Vitaminen versorgten Nachkommen können dagegen nur noch als Mangelmutanten gelten, die dem Hautkrebs schutzlos anheimgegeben sind.
Gänzlich offenbar wird der rassenbiologische Wahn schließlich, zieht man die individuellen Genunterschiede zwischen einzelnen Menschen in Betracht. Drei bis sechs Millionen unter den drei Milliarden DNS-Bausteinen der menschlichen Erbanlagen sind innerhalb der Bevölkerung hochvariabel; jeder Mensch erscheint den Genforschern inzwischen als genetischer Mikrokosmos - die als Rassemerkmale gewerteten Eigenheiten verblassen vor dieser Genvielfalt.
Dem gleichwohl fortdauernden Rassismus, fordert Cavalli-Sforza, müsse energisch entgegengetreten werden. Das wahre Heilmittel gegen die Wiederkehr der rassenbiologischen Gespenster sieht er jedoch in der Vermischung der Völker - soweit die Gesellschaften dies politisch verkraften könnten.
Auf solche Weise, prognostiziert der Gelehrte, könne der Mensch ohne Schaden werden, wie er mutmaßlich vor 100 000 Jahren war: von mehr oder minder brauner Hautfarbe.

aus: Der Spiegel (29.08.1994/Nr.35)