Gewaltlegitimation und Etikettenschwindel
Frage: Nach einem Wort von Friedrich Engels ist die Gewalt die "Geburtshelferin" der Geschichte. Sogar in der "Erklärung der Menschenrechte" ist das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung verbürgt. Und auch Martin Luther King hat nicht für alle Fälle Gewalt ausgeschlossen, da ein Krieg, so furchtbar er sei, immer noch besser wäre als ein dauerndes Ausgeliefertsein an ein totalitäres Regime wie den Nationalsozialismus, den Faschismus oder Kommunismus. Das bedeutet also: Legitimierung von Gewalt innerhalb gewisser moralischer Grenzen.
Demgegenüber steht nun Ihre These: "Legitimierung von Gewalt bedient sich des Etikettenschwindels: Eigene Gewalt wird als Notwendigkeit, natürliches Recht, Selbstverteidigung, Dienst an höheren Zielen und Plicht dargestellt und empfunden." Lehnen Sie Gewalt - bei aller Fragwürdigkeit ihrer Legitimierung - grundsätzlich ab?

Hacker: Ich bin nicht gegen Gewalt unter allen Umständen. Ich bin aber gegen jene Umstände, die Gewalt herbeiführen.
Gewalt und die zahlreichen anderen Formen der Aggression sind Phänomene, die zwar eine zuweilen entscheidende psychologische Dimension haben, die jedoch gerade aus psychologischen, psychatrischen und psychoanalytischen Erwägungen heraus nicht psychologisch, psychiatrisch und psychoanalytisch verstanden und behandelt werden sollten.
Gewalt kann nicht losgelöst von den Umständen, die sie verursachen und bedingen, verurteilt werden; die Isolierung von Gewalt aus ihrem genetischen, historischen und politischen Zusammenhang ist bereits aggressive Vereinfachung, Entstellung und Immunisierungsstrategie. Dazu gehören auch alle Versuche einer Psychologisierung von Gewalt (Betrachtung von Gewalt als ausschließlich psychologisch motiviert und verständlich), die alle Aggression nach dem Muster des symptomatischen Kontrollverlust verstehen will und damit alle Aggressionsformen pathologisiert und verharmlost.
Gestatten Sie mir zur Verdeutlichung ausnahmsweise eine Vereinfachung, die sich allerdings als solche deklariert: Es gibt zwei große Modellformen der Aggression und dazwischen alle möglichen Schattierungen. Die eine Form ist die "irrationale" Aggression des Kontrollverlusts, also Aggression als Symptom: Explosion, Sprengung aller Schranken, Wut, Zorn, Amoklauf, Ausbruch usw. Dem steht nun das bisher übersehene Modell der Aggression als Strategie gegenüber, also (unter Umständen sehr) "rationale" Aggression der Planung und Manipulation oder die heiße Aggression in Verteidigung der guten (eigenen) Sache, scheinbar legitime Defensiv-, Straf-, Erziehungs- und Konkurrenzaggression. Diese strategische Aggression ist zweifellos die häufigere, wichtigere und gefährlichere, weil sie sich mit tatsächlichen oder scheinbaren Vernunftsgründen legitimieren und als Aggression verleugnen kann. Die tatsächliche, scheinbare oder nur behauptete Abwehr- und Verteidigungsposition kaschiert die eigene Aggression und schaltet für die Aggressionsposition nach kurzer Zeit sogar das Bewußtsein des wahren Charakters ihrer Handlungen als aggressiv aus, wodurch diese nur unkontrollierbar aggressiv werden.
Wenn man nun die Möglichkeit strategischer Aggression vernachlässigt und an Aggression nur unter der Modellvorstellung des Kontrollverlusts denkt, entstellt man die Aggression ideologisch: automatisch wird dann nur die Aggression des Gegners als Aggression aufgefaßt, nicht aber die eigene, die stets durch Verteidigung oder Plicht gerechtfertigt und durch ihre Zielsetzung entschuldigt wird.
Frage: Manche traditionellen Institutionen unserer Gesellschaft: Kirche, Universität, Gerichtsbarkeit, Militär usw., die sich jetzt in einer Abwehr- oder Verteidigungsposition befinden, tragen mit ihren Argumenten, aus denen häufig gewalttätige Handlungen ableiten, wesentlich dazu bei, da Aggressionsklima weiter anzuheizen.
Wie sehen Sie das Problem?

Hacker: In meinem Buch habe ich zu zeigen versucht, daß der von vielen so plausibel erachtete, ein für allemal feststehende Gegensatz zwischen Angriff und Verteidigung, zwischen attackierender und defensiver Aggression oft nur Resultat naiver Selbsttäuschung und manipulierter Täuschung ist. Besonders in unserer Zeit empfindet sich jede Aggression, manchmal sogar die gefährlichste und grausamste, als rein defensiv. So ist es kein Zufall, daß kaum jemand mehr eigene Aggression zugibt oder als solche erlebt. Heuchlerisch gestatten wir uns allerorten auch keine Kriegsministerien, sondern nur mehr allerdings üppig wuchernde Verteidigungsministerien.
Die Ursache dafür, daß sich heute jeder ununterbrochen gegen alles und alle verteidigt, liegt in unserer frühen und späten Aggressionserziehung. Schon den Kleinkind wird völlige Aggressionslosigkeit gepredigt, während ihm Aggression und selbst Gewaltanwendung modellhaft eindringlich vorgeführt wird. Nun ist das erste Paradoxon bei dieser Erziehung folgendes: Die Erziehung der Kinder zu nichtaggressiven Verhaltensweisen erfolgt höchst aggressiv; Kinder werden geschlagen, weil sie ein anderes Kind geschlagen haben und damit sie nicht mehr schlagen. Von einem Größeren und Stärkeren wird ein Kleinerer und Schwächerer geprügelt, weil dieser einen Kleineren und Schwächeren geprügelt hatte und auf daß er sich derartige Praktiken gar nicht erst angewöhne. Der Konstrast zwischen Erziehungsbotschaft (du sollst Kleinere und Schwächere nicht schlagen) und Erziehungsmethode (du wirst als Kleinerer und Schwächerer geschlagen) ist offensichtlich. Die Folge solch paradoxer Widersprüchlichkeit bleibt nicht lange aus.
Den Kindern wird erklärt, sie dürften nicht aggressiv sein, außer unter gewissen Bedingungen. "Außer" ist hier das gefährliche, verderbliche Wort, Beginn der Scheinheiligkeit und der unbeschränkten Brutalität. Die Ausnahmebestimmungen (nicht taxativ, sondern demonstrativ aufgezählt) sind: Du darfst zuschlagen, wenn du zurückschlägst, d.h. wenn du dich selbst oder einen Schwächeren verteidigst. Nicht verboten, sondern im Gegenteil geboten, ist auch die gewalttätige der höchsten Güter (z.B. des guten Rufs der Mutter) und Institutionen: Familie, Nation, Religion. In diesem Fällen ist, so behaupten die Erzieher, Aggression nicht mehr Aggression sondern Verteidigung, Notwehr, Plicht usw. _Die Ausnahmen des Gewaltverbots werden zu Regeln der Gewaltanwendung._
Die Kinder verstehen diese Lektion nur zu gut, und daher wird im späteren Leben aus eigener Aggression stets und verläßlich nur mehr Verteidigung, nur mehr Notwehr, nur mehr Plicht. Immer hat der andere angefangen. Unablässig treten Menschen und Gruppen, die sich mit gutem Gewissen scheinbar nur verteidigen, aggressiv gegeneinander auf. Die Verteidigungsbehauptung wird zur Bedingung für Gewalttätigkeit. Legitimierung gestattet, provoziert und kaschiert nackte Gewalt.
Das eindrucksvollste historische Beispiel lieferte Adolf Hitler, dessen bekanntlich ungemein wirksame Reden interessante sozialpsychologische Einsichten vermitteln. In der Periode der innerpolitischen Kämpfe begann Hitler stets mit dem berühmten Hinweis auf die jahrelange Schmach und Erniedrigung, die das deutsche Volk zu erleiden hatte. Erst nachdem Hitler eine halbe Stunde lang ausführlich aufgezählt hatte, was dem deutschen Volk alles aggressiv angetan worden war, kündigte er seine gewaltsamen "Gegenmaßnahmen" an.
Diese Methode der emotional aufputschenden Aufzählung erlittener, angeblich unrechtmäßig erduldeter Aggression als Vorbereitung und Rechtfertigung der eigenen, angeblich legitimen Aggression ist keineswegs auf Hitler, auf Diktatoren oder totalitäre Regimes beschränkt, sondern ergibt sich generell aus der Notwendigkeit der Gewaltrechtfertigung zur Gewaltanwendung. Vor allem aggressiven Akten bezichtigen die Machthaber in ihren Reden, die Ankündigung, Vorspiel und oft schon Teil der kriegerischer Gewaltakte sind, den jeweiligen Gegner unerträglicher Aggressionshandlungen, welche die eigene Aggression verbergen, entschuldigen und rechtfertigen sollen. Ohne diese als unentrinnbare Notwendigkeit hingestellte, tatsächlich jedoch manipulativ hingestellte, tatsächlich jedoch manipulativ hergestellte und rationalisierte Verteidigungspose wäre Aggression im großen Stil überhaupt nicht möglich, eben weil sie nur unter dem Schutz scheinbarer Rationalität und Legitimierung stattfinden kann.
Frage: Ein treffendes Beispiel dafür führt D.M. Mantell in seiner Untersuchung "Familie und Aggression" an. Er schreibt: "Die Green Berets beschäftigen sich im wesentlichen nicht mit solchen Fragen, ob man töten oder nicht töten soll und selbst nicht einmal damit, wer getötet werden könnte oder sollte. Diese Angelegenheiten werden von anderen entschieden, und das Interesse der Green Berets an ihnen geht nicht über praktische und strategische Erwägungen hinaus. Für sie ist einzig die Frage von fundamentaler Bedeutung, wer töten, wer exekutieren darf, und auch diese Frage wird von anderen entschieden. Dadurch, daß eine Regierung ihre Handlungen gesetzlich sanktioniert hat, sehen sie sich selbst als legitimierten Arm der Regierungsautorität und daher verständlicherweise nicht gewalttätig an. Für sie sind gewalttätige Menschen diejenigen, die das tun, was sie selbst tun, aber entweder erklärte Feinde sind oder nicht im Namen von Ruhe und Ordnung nach ihrer Vorstellung handeln. Daher ist ein Demonstrant gewalttätig, einfach weil er demonstriert, aber nicht der Polizist oder Soldat, der auf ihn schießt."
Wie sehen Sie das Problem?

Hacker: Wenn zwei das gleiche tun, hängt es von der Legitimation (bzw. Anerkennung der Legitimation) ihrer Taten ab, ob diese als attackierend oder verteidigend eingestuft, ja ob sie überhaupt als gewalttätig und aggressiv empfunden werden.
Frage: Bricht aber nicht in periodischen Intervallen der Aggressionstrieb regelmäßig in Kriegen und Vernichtungsfeldzügen (heute manchmal Polizeiaktionen genannt) durch?
Hacker: Nein, Krieg ist meiner Meinung nach niemals ein natürliches "biologisches" Phänomen. Die direkte Entwicklungs- und Verlängerungslinie des Aggressionstriebs (wenn man einen solchen annimmt) führt niemals zum Krieg, der vielmehr ein besonderer sozialer. legaler Zustand ist. Krieg bedeutet keineswegs Ordnungslosigkeit und Illegalität, sondern ist die Deklaration nicht einer aufgehobenen,, sondern einer veränderten Rechtslage, bei der Aggression nicht wahllos, sondern gezielt nur auf bestimmte Objekte in bestimmter Weise gelenkt und freigegeben wird. Das heißt: Krieg ist keine Blanko-Aggressionserlaubnis; das Kriegsrecht bestraft sogar Überschreitungen der strikt umschriebenen Kompetenz mit besonderer Strenge. Kriegsausbruch (so genannt, auch um den Vergleich mit einer Elementarkatastrophe nahezulegen) ist nicht ein plötzlicher Durchbruch von Aggression, sondern die oft feierliche und zeremonielle Erklärung eines ganz bestimmten Rechtszustandes, der im Friedensvertrag wieder rückgängig gemacht bzw. von einem anderen Rechtszustand abgelöst wird.
Aggressive Handlungen werden nicht nur im Krieg durch ihre Rechtfertigung ermöglicht. Das Wesen des Krieges besteht darin, daß er Menschen zu Taten llegitimiert, die im zivilen Leben als Verbrechen eingestuft und daher von den meisten niemals, im Kriege jedoch von den meisten ohne Zögern und ohne Schuldgefühle begangen werden. Krieg, Aufstände und derartiges mehr haben sehr wenig mit der biologischen Triebnatur zu tun, aber sehr viel mit der Manipulation dieser Triebnatur.
Frage: Norman Mailer hat in seinem Buch "Am Beispiel einer Bärenjagd" den Verdacht geäußert, daß der gewalttätige Volkscharakter des Amerikaners, der Mythos vom Gewehr, das Selbstverständnis des Ranchers, der sich als draufgängerischer Raufbold sieht, der tiefere Grund dafür sei, daß die USA in Asien einen heißen Krieg führen.
Ist Vietnam gewissermaßen eine Psychohygiene auf nationaler Basis?

Hacker: Im Gegensatz zu Norman Mailer glaube ich zwar, daß historische und gesellschaftliche Gründe entscheidend dafür sind, ob und wie sich Aggression kollektiv äußert. Ich glaube aber nicht, daß es einen bestimmten Volkscharakter gibt, einen amerikanischen, deutschen oder japanischen, der sich spezifisch durch besonders aggressiven Grundtendenzen auszeichnet. Aber es gibt aggressivere Erziehungsmethoden, es gibt aggressivere gesellschaftliche Umstände und aggressivierende Ideologien, die, wenn sie von einem ganzen Volk adoptiert werden, den Volkscharakter aggressiver gestalten. Allerdings hat die Forschung eindeutig gezeigt, daß unter veränderten Umständen jedes Volk sowohl der Aggressionsverminderung als auch der Aggressionserhöhung fähig ist.
Die staatliche sanktionierte Regression auf brutale, wenn auch höchst manipulierte und kühl geplante Gewalt soll einen entsühnenden, einigenden, in diesem Sinne auch psychohygienischen Zweck erfüllen; ansonsten verbotene Primitivformen der Aggressionssteuerung auf den Feind hin lenkt von allen anderen Problemen ab; die Verteidigungspose erlaubt scheinbar gerechtfertigten Aggressionsausbruch ohne Schuld und Scham im Dienste der höchsten Sache, der Verteidigung des Vaterlandes. Doch ist gerade das Vertrauen in die problemlösende Macht der Gewalt das Hauptproblem der Aggressionskontrolle. Die versuchte Psychohygiene wird (besonders im Falle der "rationalen" Anwendung primitiver Gewalt) zum Symptom psychologischer Störung.
Frage: Nun heißt es in ihren Thesen zur Gewalt; "Gerechtfertigte Gewalt verführt zur Nachahmung sowohl der Rechtfertigung wie der Gewalt." Und: "Nicht alle Aggression ist Gewalt, aber alle Gewalt ist Aggression." Wie ist Widerstand gegen Gewalt vorstellbar?
Hacker: Zugegebenermaßen bleibt zuweilen - viel seltener, als allgemein angenommen - nichts anderes übrig, als tatsächlicher Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Dies sollte allerdings nur nach genau vorherbestimmten Kriterien erlaubt sein und auf die ganz kurze Zeitspanne der Behebung des durch Gewaltanwendung akut gewordenen Notstandes beschränkt bleiben. Viel öfter und viel wirkungsvoller sollte jedoch der aggressive, aber eben nicht gewalttätige Widerstand gegen Gewalt schon viel früher beginnen, indem Polarisierung und Eskalierung von Konflikten verhindert, Aggressionsspannungen entlastende Maßnahmen getroffen und Alternativen zur Gewalt erprobt werden.
Man könnte von einem Kreislauf der Aggression sprechen, in dem Gewalt die Kreislaufstörung ist. Aggression als biologisch gegebene Bereitschaft ist unvermeidlich und ebensowenig gut oder schlecht wie die Sexualität, aus der sehr Gutes oder sehr Schlechtes entstehen kann. Gewalt ist aber etwas Schlechtes, weil sie die nackte, primitive, nicht mehr rückgängig zu machende Repressionsform der Aggression darstellt.
Ich bin für die Aggression - obwohl Aggression eigentlich nicht etwas ist, wofür man sein kann, weil sei, wie Sexualität, einfach vorhanden ist. Aber ich bin gegen gewisse Formen sowohl der Sexualität wie der Aggression. Spezifisch in Bezug auf Aggression bin ich gegen Gewalt, die nur _eine_, aber keineswegs die einzige, aggressive Ausdrucksform ist.
Zusammenfassend bedeutet das: Aggression ist unvermeidlich, ein biologischer Befund, im vielen der Sexualität analog, in vielen Beziehungen ihr allerdings unähnlich. Gewisse Arten der Aggression sind besser als andere, Gewalt ist ihre schlechteste Form.
Frage: In welcher Weise kann aber diese von Ihnen befürwortete Gewaltverminderung und Gewaltvermeidung organisiert werden?
Hacker: Die sehende Planungskraft und politische Phantasie des Menschen sollte sich im Entwurf und in der Erprobung von gesellschaftlichen Spielregeln für die einer komplexen modernen Gesellschaft angemessenen und geeigneten "Spiele" bewähren. Eine weitere These von mir besagt, daß alle sozialen Institutionen notwendigerweise auch Zwangselemente enthalten, "sachliche Aggression", wie ich es nenne. Bestimmte Sachzwänge, die zwar aggressiv, aber nicht gewaltsam sind, drücken sich in jeder Art sozialer Institution aus. Die einmal notwendige Aggression kann durch Kontrollmangel, Willkür, Habituierung und Trivialisierung überschüssig werden und wird dann vor allem zu Zwecken der Herrschenden verwendet. Doch ein gewisses Maß an Zwang - und in diesem Punkt weiche ich in meinen Behauptungen von denen vieler Sozialforscher weitgehend ab - halte ich nicht nur für notwendig, sondern auch für produktiv.
Betrachten Sie als praktisches Beispiel ein typisches Spielarrangement, z.B. das Schachspiel. Schach bietet ein ausgezeichnetes Aggressionsventil. Unter den Bedingungen des Spiels wird Aggressionserlaubnis gegeben und Aggression sogar prämiert. Hingegen ist die Gewalt auferzwungener, einseitiger Spielregulierung, das Umwerfen der Figuren oder das Zerbrechen des Schachbretts ausgeschlossen. Die erwünschte Aggression muß sich innerhalb der bestehenden Regeln ausdrücken; zum Gewinn des Spiels ist (überlegene) Regelkenntnis erforderlich. Regeln sind beabsichtigte Zwänge, denen sich die Spieler unterwerfen wollen und müssen, Regelgehorsam mag Sieg und Triumph verhindern, Regelungehorsam aber das Spiel selbst. Der König darf - auch wenn er sich in tödlicher Gefahr befindet - nicht anders bewegt werden, als die einschränkenden, sachlichen (versachlichten) Spielzwang, wird vom unbändigen Siegeswillen als restriktiv, repressiv und aggressiv empfunden, obwohl offensichtlich die freiwillige oder erzwungene Regeleinhaltung das Spiel überhaupt erst ermöglicht. Auch und gerade "objektive" Aggression der Regeln kann sehr intensive, subjektive Enttäuschungen und Frustrationen bewirken.
Frage: Warum vergleichen Sie gesellschaftliche Arrangements mit Spielen?
Hacker: Weil gesellschaftliche Vorkehrungen ähnlich Spielen oft erst erzwungenen, dann jedoch freiwilligen Verzicht auf Sieg um jeden Preis, Spielregelgehorsam und Lust an der Teilnahme verlangen. Daher erweist sich die Betonung der Ähnlichkeit zu Spielen als fruchtbar (Spiele, welche die Gesellschaft spielt, nicht Gesellschaftsspiele). Derartige Analogien sollen auch die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß gesellschaftliche Vorkehrungen nicht natürliche Unabwendbarkeit, sondern menschliche Urteilskraft, menschliches Ermessen reflektieren, daß Spielregeln nicht gegeben sondern gemacht und daher prinzipiell veränderungsfähig sind.
Friedrich Hacker Materialien zum Thema Aggression, Gespräche mit Adelbert Reif und Bettina Schattat S.85 ff

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Most recent revision: April 07, 1998

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