Die "Multikulturelle" Gesellschaft Lebensform der Gegenwart und Zukunft

Die heutige Gesellschaft ist, wenn man darunter versteht: eine Vielfalt von Lebensformen und Werten, eine multikulturelle. Es sei denn man hat einen strikteren Begriff von Kultur, der einen Gebrauch von Kultur im Plural ausschließt, dann ist Kultur als Gegensatz zu Barbarei oder zu Natur gemeint und sie ist Weltkultur. Dies schließt aber gerade ein: eine Pluralität von Ausprägungen von Kultur. Kulturelle Äußerungen sind gerade geprägt dadurch, daß sie allgemein-menschliche Äußerungen sind. Die alte homerische Dichtung und die alten Skulpturen können genauso wie die Kunst der alten Azteken, chinesisches Feuerwerk oder Beethovens Symphonien überall mit Freude gesehen, gelesen oder gehört werden. Gerade die Kultur ist dasjenige, was die Menschen jeglicher Herkunft verbindet. Es macht das Menschsein aus, nicht bloß Natur, sondern Kultur zu haben.
Jedes Kunstwerk hat dank seines Rätselcharakters die ihm eigentümliche Fremdheit gegenüber dem Alltag. Durch das Zurkenntnisnehmen und Begreifen von Kultur, erkennen wir die Momente des Eigenen im Fremden. Im Fremden das Eigene zu erkennen und die Fremden nicht die Exoten spielen zu lassen, indem man sie ausgrenzt - wie im "multikulturelle Rassismus" der Fangemeinde der "Edlen Wilden"- ist ein wesentliches lebensbereicherndes Moment, das sich Rassisten und Nationalisten nehmen. Noch im Pogrom kann man an Gestik und Haß erkennen, daß sie auch sich selber das Leben nehmen. Sie fürchten das Fremde, den Kontrast, weil sie erkennen müßten, daß sie selber hohl und leer sind und eines garantiert nicht haben: Kultur. Nach ihrer eigenen Aussage, daß die "kulturelle Überfremdung" beseitigt werden solle, müßten sie sich selber die Kugel geben oder den Strick nehmen, denn ihr Beitrag zur Kultur ist weniger als Null, daher überfremden sie uns mit ihrem Rassismus und Nationalismus.
Sie leben immer noch in der Vergangenheit. An die Erfordernisse moderner Gesellschaft sind sie nicht zureichend angepaßt und deswegen nicht überlebensfähig. "Was fällt soll man stoßen."(Nietzsche)
Wie sieht ihre alte Welt aus?
"Der klassische Nationalstaat des 19.Jahrhunderts entstand in einer Welt noch relativ schwacher wirtschaftlicher Verpflechtung, geringer räumlicher Mobilität und Kommunikation zwischen den Menschen. Staat und Territorium konnten nicht nur in der nationalen Ideologie, sondern in der Realität eine relativ in sich ruhende Einheit bilden. Der Nationalstaat bildete sich auch als Reaktion auf die Auflösung der alten feudalen Ordnung und der bäuerlichen Lebensformen durch die Industrialisierung und die Verstädterung. Die nationalen Ideologien schufen eine neue Möglichkeit der Identifikation und Geborgenheit." (D.Oberndörfer, Der Wahn des Nationalen S.19)
Der Nationalstaat ist demnach eine Übergangsform, die aus dem Verfall der alten europäischen Gesellschaft hervorging. Die mittelalterlich traditionale Gesellschaft in Europa war durch das Christentum dominiert, der Universalienrealismus, die Auffassung nach der die Begriffe objektive Wesenheiten der Sache war, zerfiel als die einheitliche Ordnung durch Schismen und schließlich die Reformation zerbrach. Nach den Religionskriegen hatten sich die neu entstanden "Kulturen" (Katholisch und Protestantisch) wieder vertragen müssen und heute leben sie einvernehmlich zusammen mit anderen religiösen Richtungen. Der Prozeß der die Ordnung des Mittelalters zerstörte, die Entstehung des Industriekapitalismus, zerstört auch die nationalstaatliche Ordnung, die er temporär hervorgebracht hatte. Da die alte Vergesellschaftungsform der Gemeinschaft, der überschaubaren Face-to-face Interaktion, unwiderruflich verloren ist, sind ideologische Denkformen entstanden, nationale Ideologien (Ideologie = notwendig falsches Bewußtsein), die die Funktion haben das unwiderruflich Verlorene festzuhalten. Das sind pathologische Wahnvorstellungen, die schwerlich mit der Realität zu vereinbaren sind. Schon am Frühstückstisch vereinen sich die Produkte aus allen Kontinenten.
Außerhalb des nationalen Wahnes existiert nur die auf Konkurrenz basierende bürgerliche Gesellschaft, das "geistige Tierreich"(Hegel), der "Kampf eines jeden gegen jeden"(Hobbes). Eine menschliche Gesellschaft ist vorläufig noch nicht in Sicht, da die sozialistischen Bewegungen, die sie projektierten, selber der nationalistischen Ideologie verfielen und im Massenbewußtsein keine Rolle spielen können. Mit dem Begriff "Sozialnationalismus" sind die Fehlgeburten der Arbeiterbewegung am besten bezeichnet. Die soziale Revolution, die der politischen hätte folgen sollen, blieb aus, weil diese eine weltweite Revolution voraussetzte, auf die die Bolschewiki vergeblich hofften. So war es nur eine proletarisch- nationalistische Revolution, die aufgrund ihres Nationalismus stecken bleiben mußte. Eine Mauer zwischen zwei Staaten, der BRD und der DDR, symbolisierte sehr schön, welche Folgen nationaler Wahn haben kann, an die Stelle proletarischer Revolution trat der proletarische Nationalismus, das "sozialistische Vaterland", die "Revolution in einem Lande"(Stalin). Schon nach 1968 machte man sich über die Vaterlandsverteidiger mit Recht lustig, hatte aber selber in der Regel das Vaterland nicht gründlich genug verraten.
Eine soziale Revolution, die sich sozialistisch mit Recht nennen könnte, konnte allerdings, wenn man Marx ernst nimmt, der davon sprach, daß eine sozialistische Revolution nur weltweit auf einmal, auf Basis hochindustrialisierter Weltgesellschaft, möglich sei, gar nicht möglich sein. Real war am "Realen Sozialismus" nicht der Sozialismus, sondern ein Nationalismus, der sehr an Fichtes "Geschlossenen Handelsstaat" erinnert, bei dessen Lektüre man sofort an DDR-Verhältnisse erinnert wird.
Mit dem Zerbrechen der sozialnationalistischen Illusionen, die man mit dem Jahr 1989 symbolisch andeuten kann, sind die nationalistischen Illusionen noch nicht zerbrochen, weil der Nationalismus als Sozialismus ausgegeben wurde. Es ist im Ostblock nur die soziale Komponente ausgetilgt worden und der Nationalismus und Antisemitismus tritt in reiner Form hervor. Und die alte realsozialistische Welt teilte sich in Segmente, die um Anteile an der Weltproduktion konkurrieren, aus denen sich die westlichen Staaten die Sahnestückchen abschneiden wollen, während die armen Bereich sich selbst überlassen bleiben.
Das Projekt, alle Juden nach Sibirien zu deportieren, ist nur durch den glücklichen Umstand, daß Stalin vorher starb, gestoppt worden. Der Nationalismus, der spätestens seit Lenin die Arbeiterbewegungen prägte, ist zu seiner brutalen Kenntlichkeit gekommen. Leider waren die arbeiterbewegten politischen Bewegungen nicht die vaterlandslosen Gesellen, wie man ihnen es vorwarf.
Die Bedingungen, die Marx zufolge Voraussetzungen der Revolution sein sollten, reifen ständig heran, auch wenn niemand sich Hoffnung macht, daß die Menschen ihre Chance zu einem besseren Leben auf ergreifen. Die Bedingungen sah Marx in der Entwicklung Produktivkräfte und in der weltweiten Vernetzung durch den universellen Verkehr. Eine entsprechende Organisationsform, die sich nicht am Nationalstaat orientiert, hat bislang nicht einmal die radikale Linke gefunden, obwohl da immerhin schon Ansätze vorhanden sind.
Es ist daher auch kein Wunder, daß die Linke, sofern sie noch im politischen System wirksam ist, _liberale_ Positionen vertritt, bzw. nur sofern wirksam ist, wenn sie das tut. Das Moment der Verteidigung der Demokratie und der Grundrechte war auch vorher schon immer ein wichtiger Programm-Punkt der Linken. Dem müßte, wenn sie nicht vollständig untergehen will, das antinationale Moment sich hinzugesellen. Damit wäre ein für die Menschheit überlebenswichtiges Moment betroffen. Denn:
Der Nationalismus ist ein Hemmnis für das Überleben der Menschheit

Das besagt nicht nur, daß Rechte mit Benzin-Ölgemischen herumrennen oder Briefbomben verschicken und sofern eine Gefahr sind, das wäre nur ein Polizeiproblem. - Das bedeutet, daß selbst in gemäßigter Form jede Propagierung des Nationalismus die Menschheit bedroht. Denn der Nationalismus, der den Verhältnissen keinesfalls angemessen ist, ist gerade wegen seiner Unangemessenheit und Unzweckmäßigkeit für das Überleben der Menschheit ein Risiko. Die materielle Basis für den Nationalismus ist am Schwinden, trotzdem ist der Wahn noch nicht aus den Köpfen verschwunden.
"Heute löst sich die Lebenswelt, die den Nationalstaat geboren hat, wieder auf. So schrumpfen die räumlichen Distanzen. Die Welt wird immer kleiner. Auch durch die modernen Medien wächst sie in sich ständig beschleunigendem Tempo zu einer zunehmend miteinander verwobenen Einheit zusammen. Tourismus, Sateliten- und Videofernsehen oder Massenwanderungen als Folge wirtschaftlicher Not und politischer Verfolgung sowie viele anderen Faktoren des in Zukunft sich eher noch stark beschleunigenden Austausches von Menschen und Ideen machen die nationalen Grenzen durchlässig und schleifen sie ab. Mit der fortschreitenden Ausweitung und Verdichtung der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und als Folge der großen, die Staatsgrenzen übergreifenden ökologischen Probleme werden die überlieferten nationalen Souveränitätsvorstellungen immer unzeitgemäßer. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind die natürliche Lebensgrundlagen der Menschheit durch die Sekundärfolgen des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts ernstlich bedroht. Die Erde, das Wasser und die Luft werden durch Schadstoffe der industriellen Produktion vergiftet. Riesige Gebiete werden durch Entwaldung und Bodenerosion unfruchtbar. Die Weltmeere werden zunehmend zu Müllhalden des Zivilisationschutts. Die Belastung der Luft mit Schadstoffen gefährdet die Vegetation und das Leben von Tier und Mensch. Die Aufwärmung der Atmospähre, der Treibhauseffekt, bewirkt möglicherweise tiefgreifende Veränderungen des Weltklimas mit apokalyptischen Folgen für die Menschheit. Durch das Ansteigen des Meeresspiegels würden große Küstengebiete mit hoher Bevölkerungskonzentration überschwemmt und riesige Flüchtlingsströme in Bewegung gesetzt werden. Der Fortschritt der Technologie macht erpresserische Aktionen gegen die Menschheit immer leichter. Kriminelle Regierungen könnten durch Atommüll Meer vergiften. Andere Formen ökologischer Erpressung der Weltgesellschaft, etwa mit einem angedrohten künstlichen Tschernobyl, sind vorstellbar. Chemische, biologische und nukleare Waffen eröffnen schauerliche neue Möglichkeiten der Unterdrückung im Innern und der Aggression nach außen."(a.a.O. 19f)
Man kann das zusammenfassen:
Die Nation muß sterben, wenn die Menschen leben wollen.

Da Dummheit und Bosheit die Konstanten der negativen Anthropologie der Menschen sind, werden wir vermutlich darauf warten müssen, daß der Nationalismus seine Wirkungen zeitigt. Daß die Menschen auf offener Straße vergiftet von den Schadstoffen, verbrannt durch übermäßige UV-Strahlung oder was auch immer, einfach wie die Fliegen sterben, ist wohl noch eine harmlose Vorstellung. Trotzdem besteht die Möglichkeit, dem Tod der Menschheit zu entgehen. Dazu müssen die nationalen Ideologien sterben, ein erster Schritt ließe sich etwa so denken:
"Übernationale Kooperation und Zusammenschlüsse werden jetzt zu einem Gebot der Vernunft für das Überleben der Menschheit. Die Idee der offenen Republik als einer politischen Gemeinschaft für Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und kultureller Überlieferungen und das mit ihr verbundene Ziel einer republikanischen Weltkonföderation waren zunächst eine ferne Utopie. Heute müssen sie konkrete Gestalt annehmen. Sie werden nun zum moralischen Imperativ und zur notwendigen praktischen politischen Gestaltungsaufgabe. Trotz aller Triumphe, die der Nationalstaatsgedanke in der Dritten Welt und mit der Wiedergeburt des ethnischen Nationalismus in Ost- und SÜdosteuropa feiert, handelt es sich bei ihm letztlich um rückwärtsgewandte Überlieferungen aus der politischen Vorstellungswelt des 19.Jahrhunderts. Demgegenüber ist die offen Republik in der immer mehr zur Einheit zusammenwachsenden Weltgesellschaft die Staatsform der Zukunft. Die Idee der Republik fordert auf zur Überwindung des "Tribalismus" der Nation, der atavistischen Aufsplitterung der Menschheit in sich voneinander abschottende stammesförmige Nationalstaaten. Die Prinzipien und die Organisationsformen der Republik, nämlich politische und soziale Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung im umfassenden Sinne, also auch Föderalismus, eröffnen die Chance des Schutzes religiöser und ethnischer Minderheiten.
Die Orientierung an der Idee der Republik zwingt dazu, sich aus der Verstrickung in die Geschichte zu lösen und die Aufgaben der Zukunft nicht restaurativ, sondern in Schöpferischer Neugestaltung zu bewältigen. Befreit vom Frondienst für "die" Nation, kann die Mitwirkung am Bau einer weltweiten, freien und gerechten menschlichen Ordnung für das politische Handlung werden. Nur in einer republikanischen Konföderation der Weltgesellschaft können die Dämonen des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts, neue, menschheitsgeschichtlich präzendenzlose Möglichkeiten der Unterdrückung und Vernichtung von Menschen durch Menschen, in halbwegs human Ordnung gebändigt werden."(a.a.O. 20f)
Etwas anderes als eine zukünftige Multikulturelle Gesellschaft kann nur das Auslöschen der Menschheit sein.
Die Nationen müssen sterben, damit die Menschen leben können.

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Most recent revision: April 07, 1998

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