Moral und Zeitordnung. - Während die Literatur alle psychologischen
Arten erotischer Konflikte behandelt hat, ist der einfachste auswendige Konfliktstoff
unbeachtet geblieben um seiner Selbstverständlichkeit willen. Das ist das Phänomen
des Besetztseins: daß ein geliebter Mensch sich uns versagt nicht wegen innerer
Antagonismen und Hemmungen, wegen zuviel Kälte oder zuviel verdrängter
Wärme, sondern weil bereits eine Beziehung besteht, die eine neue ausschließt.
Die abstrakte Zeitordnung spielt in Wahrheit die Rolle, die man der Hierarchie der
Gefühle zuschreiben möchte. Es liegt im Vergebensein, außer der
Freiheit von Wahl und Entschluß, auch ein Zufälliges, das dem Anspruch
der Freiheit durchaus zu widersprechen scheint. Selbst und gerade in einer von der
Anarchie der Warenproduktion geheilten Gesellschaft würden schwerlich Regeln
darüber wachen, in welcher Reihenfolge man Menschen kennenlernt. Wäre
es anders, so müßte ein solches Arrangement dem unerträglichsten
Eingriff in die Freiheit gleichkommen. Daher hat denn auch die Priorität des
Zufälligen mächtige Gründe auf ihrer Seite: wird einem Menschen ein
neuer vorgezogen, so tut man jenem allemal Böses an, indem die Vergangenheit
des gemeinsamen Lebens annulliert, Erfahrung selber gleichsam durchgestrichen wird.
Die Irreversibilität der Zeit gibt ein objektives moralisches Kriterium ab.
Aber es ist mit dem Mythos verschwistert wie die abstrakte Zeit selbst. Die in ihr
gesetzte Ausschließlichkeit entfaltet sich ihrem eigenen Begriff nach zur
ausschließenden Herrschaft hermetisch dichter Gruppen, schließlich der
großen Industrie. Nichts rührender als das Bangen der Liebenden, die
Neue könnte Liebe und Zärtlichkeit, ihren besten Besitz, eben weil sie
sich nicht besitzen lassen, auf sich ziehen, gerade vermöge der Neuheit, die
vom Vorrecht des Älteren selber hervorgebracht wird. Aber von diesem Rührenden,
mit dem zugleich alle Wärme und alles Geborgensein zerginge, führt ein
unaufhaltsamer Weg über die Abneigung des Brüderchens gegen den Neugeborenen
und die Verachtung des Verbindungsstudenten für seinen Fuchs zu den Immigrationsgesetzen,
die im sozialdemokratischen Australien alle Nichtkaukasier draußen halten,
bis zur Ausrottung der Rassenminorität, womit dann in der Tat Wärme und
Geborgensein ins Nichts explodieren. Nicht nur sind, wie Nietzsche es wußte,
alle guten Dinge einmal böse Dinge gewesen: die zartesten, ihrer eigenen Schwerkraft
überlassen, haben die Tendenz, in der unausdenkbaren Roheit sich zu vollenden.
Es wäre müßig, aus solcher Verstricktheit den Ausweg weisen zu wollen.
Doch läßt sich wohl das unheilvolle Moment benennen, das jene ganze Dialektik
ins Spiel bringt. Es liegt beim ausschließenden Charakter des Ersten. Die
ursprüngliche Beziehung, in ihrer bloßen Unmittelbarkeit, setzt bereits
eben jene abstrakte Zeitordnung voraus. Historisch ist der Zeitbegriff selber auf
Grund der Eigentumsordnung gebildet. Aber das Besitzenwollen reflektiert die Zeit
als Angst vor dem Verlieren, der Unwiederbringlichkeit. Was ist, wird in Beziehung
zu seinem möglichen Nichtsein erfahren. Damit wird es erst recht zum Besitz
gemacht und gerade in solcher Starrheit zu einem Funktionellen, das für anderen
äquivalenten Besitz sich austauschen ließe. Einmal ganz Besitz geworden,
wird der geliebte Mensch eigentlich gar nicht mehr angesehen. Abstraktheit in der
Liebe ist das Komplement der Ausschließlichkeit, die trügerisch als das
Gegenteil, als das sich Anklammern an dies eine Seiende in Erscheinung tritt. Dies
Festhalten verliert gerade sein Objekt aus den Händen, indem es zum Objekt
gemacht wird, und verfehlt den Menschen, den es auf &hibar;meinen Menschen®
herunterbringt. Wären Menschen kein Besitz mehr, so könnten sie auch nicht
mehr vertauscht werden. Die wahre Neigung wäre eine, die den andern spezifisch
anspricht, an geliebte Züge sich heftet und nichts ans Idol der Persönlichkeit,
die Spiegelung von Besitz. Das Spezifische ist nicht ausschließlich: ihm fehlt
der Zug zur Totalität. Aber in anderem Sinne ist es doch ausschließlich:
indem es die Substitution der unlösbar an ihm haftenden Erfahrung - zwar nicht
verbietet, aber durch seinen reinen Begriff gar nicht erst aufkommen läßt.
Der Schutz des ganz Bestimmten ist, daß es nicht wiederholt werden kann, und
eben darum duldet es das andere. Zum Besitzverhältnis am Menschen, zum ausschließenden
Prioritätsrecht, gehört genau die Weisheit, Gott, es sind alles doch nur
Menschen, und welcher es ist, darauf kommt es gar nicht so sehr an. Neigung, die
von solcher Weisheit nichts wüßte, brauchte Untreue nicht zu fürchten,
weil sie gefeit wäre vor der Treulosigkeit." (Th.W.Adorno, Mimima Moralia,
Aph.49 )
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Most recent revision: April 07, 1998
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Martin Blumentritt